Die schweizerische Strafprozessordnung zwingt die kantonalen Behörden, ein neues Strafverfahren einzu führen. Felix Bänziger, Oberstaatsanwalt in Solothurn, weist auf die wichtigsten Neuerungen hin.
Die Herausforderung ist sehr unterschiedlich in Ausmass und Art: Wer in einem Kanton tätig ist, in welchem schon heute das Staatsanwaltschaftsmodell gilt, wird weniger dazulernen müssen als diejenigen, die heute eine gänzlich un abhängige Untersuchungsbehörde oder ein Mischmodell kennen. Gerichte, die heute die Aussagen von Beweispersonen nicht protokollieren und bestätigen lassen, halten die Protokollierungsvorschriften der Strafprozessordnung (StPO) für unpraktikabel; wer sich schon heute daran gewöhnt ist, versteht den Aufschrei nicht.
Wo Zeugen und Sachverständige schon heute die Hauptverhandlung bereichern, werden die neuen Vorschriften über die gerichtliche Beweisabnahme mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen, während anderswo Weiterbildungsveranstaltungen zur Kunst der Einvernahme solcher Personen durchgeführt werden müssen. Gerichte, die daran gewöhnt sind, dass ihnen die Anklagen mit vollständiger Beweiswürdigung unterbreitet werden, müssen sich darauf einstellen, dass die neue StPO solche Erwägungen in der Anklageschrift verbietet. In Basel zügeln die Strafbefehle vom Gericht zur Staatsanwaltschaft, und die Zürcher Bevölkerung muss auf ihr vertrautes Geschworenengericht verzichten. Über den Grad der Betroffenheit jeder und jedes Ein zelnen kann deshalb nichts Allgemeingültiges gesagt werden.
Die kritischen Punkte der StPO gehen allerdings in erster Linie zu Lasten der Behörden, nicht der Anwaltschaft. Die Regeln des Strafprozesses mit seinem Offizial-prinzip richten sich schwerpunktmässig an die Strafbehörden. Sie sind es, die allenfalls prozessuale Regeln verletzen, untaugliche oder nicht verwertbare Beweise produzieren, die Strafbefehlskompetenz missachten oder ordnungswidrige Anklageschriften einreichen. Die Parteien und ihre Rechtsbeistände hingegen werden behördlich durch das Verfahren geführt: mit Erklärungen über die Rechtslage in der ersten Einvernahme, mit Einladungen zu Stellungnahmen, mit Hinweisen auf Verwirkungsfristen, mit Rechtsmittelbelehrungen und dergleichen. Bei ausreichender Sorgfalt werden sie kaum ernsthafte Nachteile erleiden. In diesem Beitrag wird versucht, einen Strauss von Problemen zu binden, die sich aus der neuen StPO ergeben und alle im Strafrecht Wirkenden betreffen können. Nicht alles darunter ist von hervorragender Bedeutung. Dies lässt den Verdacht aufkommen, dass die StPO insgesamt gar nicht so schlecht ist und die Rechtsanwendenden ihr nicht wegen mangelnder Qualität misstrauen, sondern einfach, weil Neues naturgemäss Angst macht.
Der «Anwalt der ersten Stunde» ist eine der wichtigsten und am meisten besprochenen Neuigkeiten der StPO. Beschuldigte können sich künftig in jeder polizeilichen Einvernahme anwaltlich verbeiständen lassen. Der Anwaltschaft bietet sich ein neues Betätigungsfeld. Die flächendeckende Belehrung durch die Polizei über das Recht auf Verteidigung (Artikel 158 Absatz 1 Buchstabe c StPO)- vorzugsweise bereits in einer Ein ladung zur Einvernahme - wird dafür sorgen, dass sich Beschuldigte häufiger die Frage stellen, ob eine Begleitung durch eine Anwältin oder einen Anwalt sinnvoll ist.
Wie alle Rechte hat auch das jenige auf den «Anwalt der ersten Stunde» Grenzen. Im polizeilichen Ermittlungsverfahren bezieht es sich nur auf die Befragung Beschuldigter im Rahmen förmlicher, protokollierter Einvernahmen (Artikel 159 Absatz 1 StPO). Formlose Befragungen am Unfallort zum Beispiel erfordern keine Belehrung über das Recht auf Verbeiständung und können auch durchgeführt werden, wenn die verdächtige Person ausnahmsweise auf dem Beizug einer Anwältin oder eines Anwalts besteht - es bleibt dann in der Regel einfach bei der Aussageverweigerung. Durch die Einführung des «Anwalts der ersten Stunde» ergibt sich auch kein neues Recht auf Teilnahme an anderen Beweiserhebungen der Polizei, solange diese selbstständig und nicht im Auftrag der Staats anwaltschaft handelt. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus Artikel 159 Absatz 3 StPO: Die Geltend machung des Rechtes auf Vertei digung gibt keinen Anspruch auf Verschiebung der Einvernahme. Diese letzte Einschränkung gilt nicht nur bei polizeilicher Einvernahme von Beschuldigten, die sich in Freiheit befinden, sondern auch bei vorläufig Festgenommenen. Was aber tun, wenn ein Beschuldigter den Beizug seines privaten Verteidigers wünscht, dieser jedoch nicht erreichbar ist oder keine Zeit hat?
Die Polizei ist in einem Dilemma: Sie möchte in dieser Verfahrensphase Auskünfte und erhält sie voraussichtlich ohne den Anwalt nicht; andererseits hat sie eine Maximalfrist von 24 Stunden zur Verfügung, um die festgenommene Person zu entlassen oder der Staatsanwaltschaft zuzuführen (Artikel 219 Absatz 4 StPO). Sie wird mit der Einvernahme nicht länger als einige wenige Stunden zuwarten können. Dann erfolgt die Befragung auch ohne Rechtsbeistand. Allfällige Aussagen unterstehen keinem Verwertungsverbot. Interessante Diskussionen sind im Zusammenhang mit der Finanzierung des «Anwalts der ersten Stunde» aufgekommen. Einzelne Anwaltsverbände verlangen, dass der Staat für den Einsatz ihrer Mitglieder geradesteht. Andere finden, eine solche «Erstberatung» gehe zu deren Lasten, wenn weder die Klientschaft bezahlt noch der Staat über die amtliche Verteidigung einspringt.
Folgender Kompromiss lässt sich aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden vertreten: Kommt es nach der Festnahme zu einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung und wird hier die amtliche Verteidigung gewährt, so soll sich die Mandatierung zeitlich auf den Beginn des Einsatzes zurückbeziehen. Entsteht kein amtliches Mandat, so muss die Anwältin oder der Anwalt mit der Klientschaft abrechnen. Das Risiko des Ausfalls bezieht sich auf wenige Stunden, und diesem Risiko steht die Chance auf ein neues - privates oder staatliches - Mandat gegenüber. Im Rahmen der Akquisition von Mandaten trägt die Anwaltschaft regelmässig ein Kostenrisiko. Dies muss beim «Anwalt der ersten Stunde» nicht unbedingt anders sein.
Das Anwaltspikett ist eine weitere Kehrseite des neuen Betätigungsfelds der Anwaltschaft. Ersucht eine festgenommene Person um Verteidigung, wird man sie zuerst nach ihrem Wunsch fragen. Hat sie keinen solchen Wunsch oder ist der Wunsch wegen Unerreichbarkeit der Anwältin oder des Anwaltes nicht zu erfüllen, muss sofort auf ein Anwaltspikett zurückgegriffen werden können. Durch die neue StPO wird das Pikett der Anwaltsverbände an Bedeutung gewinnen. Viele aktuelle Lösungen werden unter neuem Recht nicht mehr genügen. Den Anwaltsverbänden ist dringend zu raten, sich der Herausforderung zu stellen und ihren Bereitschaftsdienst zu überprüfen. Sie könnten die Gelegenheit nutzen und nicht nur das Pikett zahlenmässig verstärken, sondern sich auch mit der Qualität der Dienstleistung befassen. Es geht nicht an, dass über das Anwalts pikett unerfahrene, anders spezialisierte, kurz: für den konkreten Fall ungeeignete Anwältinnen und Anwälte zu heiklen Dossiers kommen, in welchen sich bald einmal die Frage der not wendigen Verteidigung stellt. Sonst muss später die Staatsanwaltschaft die Notbremse ziehen und ihrer Fürsorgepflicht für eine wirksame Verteidigung nachkommen. Das liesse die Dienstleistung der Anwaltsverbände schlecht dastehen.
Die amtliche Verteidigung wird gemäss Artikel 133 Absatz 1 StPO durch die Verfahrensleitung bestellt. In den meisten Fällen ist das die Staatsanwältin oder der Staatsanwalt, welcher die Untersuchung führt - jedenfalls wenn im Einführungsrecht des Bundes oder des Kantons nichts anderes vorgesehen ist. Sie oder er wählt sich also seine eigene Gegenspielerin, seinen eigenen Gegenspieler aus! Für viele mag das schockierend sein, vor allem für Anwältinnen und Anwälte aus Kantonen, in denen heute noch ein Gerichtspräsidium für die Bestellung der amt lichen Verteidigung zuständig ist. Kritischen Stimmen kann man entgegenhalten: Ist es sinnvoll, wenn eine Person entscheidet, welche die Bedürfnisse des Falles nicht kennt? Wird sich eine fä hi -ge Staatsanwältin wirklich eine schwache Verteidigerin wünschen? Ist sich ein Staatsanwalt nicht bewusst, dass eine wirksame Verteidigung auch der Untersuchung nützt? Zudem bestehen gesetzliche Sicherungen: Begründeten Wünschen der beschuldigten Person ist Rechnung zu tragen (Artikel 133 Absatz 2 StPO); die Bestellung der Verteidigung ist beschwerdefähig (Artikel 393 Absatz 1 Buchstabe a StPO); und bei erheblicher Störung des Vertrauensverhältnisses oder bei Zweifeln an der Wirksamkeit der Verteidigung kommt ein personeller Wechsel in Frage (Artikel 134 Absatz 2 StPO).
Die notwendige Verteidigung ist in Artikel 130 StPO geregelt. Die Bestimmung gibt in etwa den Standard neuerer kantonaler Strafprozessordnungen wieder. Die Kriterien scheinen einigermassen klar zu sein. Heikel ist allerdings das Zusammenspiel folgender Regeln: Die Verfahrensleitung hat bei Eintritt eines Grundes für die notwendige Verteidigung unverzüglich für eine solche zu sorgen (Artikel 131 Absatz 1 StPO); stellt sich diese Frage bereits bei Einleitung des Vorverfahrens, so entsteht diese Pflicht «nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, jedenfalls aber vor Eröffnung der Untersuchung» (Artikel 131 Absatz 2 StPO); die Gültigkeit von Beweiserhebungen vor Bestellung der erkennbar notwendigen Verteidigung hängt vom Willen der beschuldigten Person ab (Artikel 131 Absatz 3 StPO).
Eine sehr tückische Ausgangslage, wenigstens in zwei Anwendungsfällen der notwendigen Verteidigung: beim Drohen einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder einer freiheitsentziehenden Massnahme (Artikel 130 Buchstabe b StPO) und bei Beschuldigten, die aus irgendeinem Grund ihre Verfahrensinteressen nicht ausreichend wahren können (Artikel 130 Buchstabe c StPO). Ab wann genau ist ein solcher Anwendungsfall der notwendigen Verteidigung anzunehmen? Schon bei der ersten Einvernahme einer festgenommenen Person durch die Polizei, von der die Staatsanwaltschaft noch gar nichts weiss? Und was meint der Gesetzgeber mit dem oben zitierten Passus? Macht die Staatsanwaltschaft vor Eröffnung der Untersuchung Einvernahmen? Niklaus Schmid, der geistige Vater der StPO, geht davon aus, dass sich die Frage der notwendigen Verteidigung erst nach der ersten staatsanwaltschaftlichen Einvernahme stellt. Er argumentiert in seinem Praxiskommentar unter Hinweis auf die Entstehungs-geschichte von Artikel 131 StPO wie folgt: Die Staatsanwaltschaft kann sich erst durch ihre Einvernahme der beschuldigten Person ein Bild über die Straftat und deren Qualifikation machen, so dass sie gerade in Haftfällen vor Erlass der Eröffnungsverfügung die beschuldigte Person einvernehmen muss. Erst dann kann er wissen, ob die Verteidigung notwendig ist. Auf diese pragmatische Antwort kommt man zugegebenermassen bei blosser Lektüre der Gesetzes bestimmungen nicht. Wer Risiken vermeiden will, wird bei Kapitalverbrechen dafür besorgt sein, dass der festgenommene Beschuldigte bereits in der polizeilichen Befragung verteidigt ist - auf seinen Wunsch ist er dies ja ohnehin.
Die neue Privatklägerschaft birgt ebenfalls Geheimnisse in sich. So wird aus den Artikeln 116ff. StPO nicht ganz klar, ob jemand Strafantrag stellen kann, ohne in der Folge als Privatklägerschaft zu gelten. Im Gegenteil: Artikel 118 Absatz 2 StPO hält fest, dass das Stellen eines Strafantrags eine Konstituierung als Privatklägerschaft mit sich bringt. Demgegenüber besteht ein eminentes praktisches Bedürfnis an einer Differenzierung zwischen Strafantrag und Konstituierung: Der Detailhandel und die öffentlichen Transportunternehmen zum Beispiel sind oft nicht an einer Parteistellung interessiert und verzichten gerne auf ihr Parteirechte; das Stellen von Strafanträgen gegen Ladendiebe und Schwarzfahrer gehört aber zu ihrer Geschäftspolitik.
Man wird auf den Entwurf der StPO zurückgreifen müssen, um begründen zu können, warum der Strafantrag nicht zwingend zu Parteirechten als Privatklägerschaft führt. Dort hiess es noch ausdrücklich: «Wird auf die Strafklage ver zichtet, so gilt dies als Rückzug eines allfälligen Straf-antrags.» Dieser Passus wurde gestrichen in der Meinung, so über Artikel 120 Absatz 2 StPO implizit auch einen Verzicht auf die Parteistellung bei gestelltem und gültigem Strafantrag zu erlauben. Das ergibt sich nicht bei erster oder zweiter Lektüre des Gesetzes. Die Strafverfolgungsbehörden werden gut daran tun, in sorgfäl tigen Formularen für die Möglichkeit zu sorgen, einen Strafantrag zu stellen und gleichzeitig auf die Parteistellung zu verzichten.
Ein Wort noch zur unentgelt lichen Rechtspflege für die Privatklägerschaft: Sie ist nur im Zivilpunkt möglich (Artikel 135 StPO). Das wird die Anwaltschaft zwingen, sich als Opfervertretung nicht mit einer Strafklage zu begnügen, sondern immer auch eine Zivil klage einzureichen. Ob der Gesetzgeber mit der für manche neuen Einschränkung auf Zivilansprüche etwas gewonnen oder, genauer, für Bund und Kantone Geld gespart hat, ist fraglich. Einerseits wird zwar die Beschränkung die eine oder andere vom Rechtsbeistand geleistete Stunde der Entschädigungspflicht durch den Staat entziehen, andererseits generiert die Behandlung von Zivilansprüchen zusätzliche Kosten für das Gemeinwesen. Eine grosszügigere Lösung wäre vielleicht billiger gewesen, in beiden Sinnen dieses Wortes.
Entscheide sind mündlich oder schriftlich zu eröffnen. Dies ist beileibe keine Neuigkeit. Die Regel für die schriftliche Eröffnung ist der eingeschriebene Brief. In gewissen Fällen erfolgt die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung, das heisst durch Ver öffentlichung in einem Amtsblatt (Artikel 88 Absatz 1 StPO). Nun sagt aber Artikel 88 Absatz 4 StPO, Einstellungsverfügungen und Strafbefehle würden auch ohne Veröffentlichung als zugestellt gelten.
Zustellfiktionen sind nichts Neues; schon heute gilt eine Zustellung etwa dann als erfolgt, wenn die Annahme verweigert oder eine zu erwartende Postsendung nicht abgeholt wurde. Das neue Recht geht hier aber deutlich weiter und lässt Einsprache- und Beschwerdefristen ohne Verzug laufen, wenn die Adresse einer beschuldigten Person nicht bekannt und nicht leicht zu ermitteln ist oder wenn die Zustellung mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre. Schon heute kommt es gelegentlich vor, dass Personen in polizeilichen Kontrollen hängen- bleiben wegen Ausschreibungen, von deren Grund sie erstmals offiziell erfahren. Eine Vermehrung solcher Fälle ist zu befürchten; die Polizei wird daran keine Freude haben.
Ärgerlich ist, dass die StPO (anders als noch ihr Vorentwurf) keine Vorschrift über die polizei liche Anordnung von Blut- und Urinproben im Bereich des Strassenverkehrs und des Drogenkonsums enthält. Somit ist die Anordnung solcher Proben immer dann ein zig Sache der Staatsanwaltschaft, wenn sich die Polizei nicht auf Gefahr im Verzug berufen kann. Das kann sie in der Regel nicht, denn ein Anruf an das Pikett der Staatsanwaltschaft führt nicht zu einer relevanten Verzögerung. Stossend ist vor allem, dass das Pikett der Staatsanwaltschaft in Fällen tätig werden muss, in denen praktisch kein Ermessensspielraum besteht. Die Strassenkontrollverordnung umschreibt so präzise, wann eine Probeentnahme notwendig ist, dass die Rückfrage bei der Staatsanwaltschaft gegenüber den heutigen Regelungen keinen zusätzlichen Rechtsschutz bietet.
Die Kantone wünschen sich verständlicherweise ihre alten Lösungen zurück: Gestützt auf den nun aufgehobenen Artikel 55 Absatz 5 SVG konnte die Polizei regelmässig Probeentnahmen anordnen, wenn gewisse Voraussetzungen - ähnliche wie in der Strassenkontrollverordnung - gegeben waren und die beschuldigte Person nicht die Entnahme verweigerte. Nun werden Ersatzlösungen gesucht. Diskutiert werden wenigstens drei Möglichkeiten: die Übernahme der alten Lösung in das kantonale Einführungsrecht, der Erlass einer Art Allgemeinverfügung durch die General- oder Oberstaatsanwaltschaft und das Abstellen auf die Zustimmung der beschuldigten Person. Jeder dieser Tricks hat seine Tücken, sei es der Vorrang des Bundesrechts, das Wesen der Zwangsmassnahme als Anordnung im Einzelfall oder die Problematik der Zustimmung zu Probe und Gutachten durch jugendliche oder stark angetrunkene Personen. Die Praxis wird zeigen, ob die oberen Gerichte Hand zu prag matischen Lösungen bieten, welche vielleicht die Rechtsstellung der Betroffenen formell beeinträchtigen, im Ergebnis ihre persönliche Freiheit aber nicht zusätzlich einschränken.
Schon die damalige Expertenkommission («Aus 29 mach 1») betont, dass die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts eindeutige Vorteile für den interkantonalen Einsatz des Personals und die wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes biete. Beim Personaleinsatz kann man immer noch optimistisch sein, im zweiten Punkt ist die Euphorie unterdessen etwas verflogen. Denn wer wird es sein, der in der Wissenschaft die Standards setzt? Weder die Anwaltschaft noch die Strafbehörden, sondern - im schlimmsten Falle - von der Praxis unberührte, sich durch Promotions- und Habilitationsschriften nach oben dienende, hochintelligente Juristen, welche die StPO viel eher an über geordneten, geschriebenen oder ungeschriebenen, wirklichen oder vermuteten Rechtsgrundsätzen messen werden als am Zweck eines bestimmten Rechtssatzes und seiner konkreten Wirkung auf die Beteiligten.
Die verwendeten Rechtsgrundsätze stammen dann wohl regelmässig aus dem Bereich der persönlichen Freiheit von Beschuldigten; dass eine effiziente Strafverfolgung im Interesse der Opfer und der gesamten Bevölkerung liegt, tritt möglicherweise in den Hintergrund. Vielleicht werden wir es künftig einmal bedauern, dass wir uns nicht auf den Standpunkt zurückziehen können, in unserem Kanton sei dies oder das nun mal Gesetz und kein Lehrbuch habe bisher der konkreten kantonalen Lösung widersprochen.
Ähnliche Befürchtungen tauchen auf, wenn man in Betracht zieht, dass bald nicht mehr die kanto nalen Ober- oder Kantonsgerichte Herren über das Strafverfahren sein werden, sondern das Bundesgericht. Die kantonalen Anklage- und Beschwerdekammern werden in aller Regel als pragmatisch empfunden. Sie haben oft mit einer Art «Nicht-ohne-Not-Praxis» die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden geschützt und überformalistische Standpunkte ins Leere laufen lassen. Beim Bundesgericht kann man sich da nicht so sicher sein. Spätestens seit der Verhärtung seiner Rechtsprechung zur verdeckten Ermittlung im Bereich des Scheinkaufs von Drogen fragen sich viele, ob denn für das Bundesgericht der Schutzzweck der an gewandten Normen - hier: der Schutz der freien Willensbildung des mutmasslichen Drogenverkäufers und das Verbot polizeilicher «Korruption» von Unschuldigen - das Zentrale sei oder ob es nicht eher darauf ankomme, den Strafverfolgungsbehörden formalistische Zügel anzulegen.
Es ist zu hoffen, dass diese Befürchtung dem Bundesgericht Unrecht tut und es sich herausstellt, dass es in Sachen StPO praxisverträgliche Entscheide fällt. Darauf darf man gespannt sein.
Dr. iur. Felix Bänziger
ist seit März 2010 Oberstaats anwalt des Kantons Solothurn. Zuvor war er stellvertretender Generalprokurator des Kantons Bern, nachdem er fünf Jahre lang als stellvertretender Bundesanwalt tätig gewesen war.