plädoyer: Warum ist das Schweizer System der Sozialversicherungen so komplex?
Philippe Nordmann: Die Komplexität erklärt sich geschichtlich. Ich muss zugeben, dass ich als Anwalt davon lebe, dass sich jemand, der Leistungen beansprucht, an verschiedene private und staatliche Versicherungen wenden muss.
Yves Rossier: Die Komplexität ist die Folge einer immer vielfältigeren Gesellschaft. Ich misstraue den Tendenzen, alles zu vereinfachen. Komplexität ist nicht per se schlecht, wenn sie die Vielfältigkeit der Situationen widerspiegelt, auf die sie eine Antwort finden muss. Nehmen wir die Erwerbsersatzordnung: Es stimmt, dass gewisse Selbständige nicht gedeckt sind. Eine Krankheit kann in solchen Fällen grosse Probleme bereiten. Aber es handelt sich um eine kleine Lücke. Ich befürchte, dass ein System mit einheitlicher Deckung eine starke Erhöhung der Kosten zur Folge hätte.
plädoyer: Worauf gründet diese Befürchtung?
Rossier: Bundesangestellte haben im Krankheitsfall Anspruch auf fast zwei Jahre Lohn und Erwerbsersatz. Nun gibt es viel mehr Burnout-Fälle im Bund als im Gastgewerbe. Man kann daraus schliessen, dass es sich Angestellte im Gastgewerbe nicht leisten können, an einem Burnout zu leiden. Man könnte aber auch folgern, dass die Deckung der Bundesangestellten Begehrlichkeiten weckt, die eine Erhöhung der Kosten zur Folge hat. Zurzeit kämpfe ich mit der Unterdeckung der Invalidenversicherung (IV), weshalb die anderen Probleme für mich nicht prioritär sind.
Nordmann: Entgegen dem, was Sie vorgeben, gibt es ein grosses Problem, weil im Krankheitsfall der Lohn nicht obligatorisch versichert ist. Gemäss Obligationenrecht hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf maximal sechs Monatslöhne im Krankheitsfall. Wenn er aber erst seit kurzem angestellt ist, kann dieser Anspruch auf den Lohn für einige Wochen sinken.
plädoyer: Welche Verbesserung schlagen Sie vor?
Nordmann: Manchmal wird diese unbefriedigende Situation dadurch aufgefangen, dass die Arbeitgeber kollektive Erwerbsausfallversicherungen abschliessen. Wer die Stelle verliert oder in einem kleinen Unternehmen arbeitet, geniesst diesen Schutz oft nicht. Noch schlimmer ist die Situation im Bereich des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung, wo der Mindestsatz auf zwei Franken pro Tag reduziert worden ist: Wer kann von einem solchen Betrag leben?
plädoyer: Ist das der ganze Versicherungsschutz?
Nordmann: Die Realität ist, dass es in diesen Fällen keinen Versicherungsschutz mehr gibt. Im Übrigen sind die Privatversicherungen listig, was die Leistungen bei Erwerbsausfall angeht, und bezahlen diese beispielsweise nur aus, wenn jemand innert zwei bis sechs Monaten einen neuen Beruf wählt. Das derzeitige System ist sehr unbefriedigend: Ist es logisch, dass ich gut versichert bin, wenn ich nach einem Unfall im Spitalbett lande, aber nicht, wenn ich eine schwere Krankheit erleide? Die Folgen sind in beiden Fällen gravierend.
plädoyer: Yves Rossier, diese Argumentation leuchtet doch ein?
Rossier: Ich bestreite das Problem mit der privaten Erwerbsausfallsversicherung nicht. Ich sage nur: Wenn wir jeder Person, deren Gesundheit beeinträchtigt ist, ein Einkommen garantieren, lösen wir eine Lawine von Burnouts aus.
Nordmann: Es ist die unangepasste Beschaffenheit der Arbeit, die das Burnout verursacht.
Rossier: In einer öffentlichen Funktion kann man sich das leisten. Im Gastgewerbe nicht.
Nordmann: Sie wissen genau, dass die Krankheit durch eine reichhaltige Rechtsprechung des Bundesgerichts definiert ist, die auch auf das Gastgewerbe anwendbar ist.
plädoyer: Es gibt also gewisse Anreize von aussen, die nichts mit den Problemen der Patienten zu tun haben?
Rossier: Wie sonst wäre zu erklären, dass die Mehrheit der Schleudertrauma-Opfer in Zürich zu finden ist, wo die darauf spezialisierten Anwälte praktizieren?
Nordmann: Diese Argumente haben das Bundesgericht bewogen, seine Rechtsprechung zum Schleudertrauma zu ändern. Es ist aber nicht der Fehler der Romands, dass sie für die Verbeiständung von Schleudertrauma-Opfern keine vergleichbare Interessenvertretung kennen, obwohl diese Fälle auch in der Romandie häufig vorkommen.
plädoyer: Yves Rossier, werfen Sie diesen Opfern vor, Betrüger zu sein?
Rossier: Ich sage nicht, dass es sich um Betrüger handelt. Ich war an einem Kongress zu neuen psychischen Krankheiten. Das Fazit der Praktiker war, dass vierzig Prozent der Schweizer an erheblichen psychischen Problemen leiden, ohne darüber informiert zu sein. Muss man nun viele davon überzeugen, dass sie krank sind und es nicht wissen und dass sie fachlichen Rat einholen sollten
Nordmann: Meine Erfahrung besagt das Gegenteil. Ich habe Klienten, die alles versuchen, um ihre Stelle zu behalten, obwohl sie unter grossen Beschwerden leiden. Somatoforme Schmerzstörungen werden nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung streng beurteilt. Dies führt dazu, dass man Betroffenen sagt, sie müssten weiterarbeiten, weil ihre Schwierigkeiten keine invalidisierende Wirkung haben. Wenn diese Leute den Rat trotz ihrer Probleme befolgen, kann dies zur Invalidität führen. Die momentane Tendenz besteht darin, Viertelrenten und die Wiedereingliederung zu fördern. Mein Vorschlag, der die Bezeichnung «Invalidität» durch «Erwerbsunfähigkeit» ersetzt, geht in die Richtung einer Begleitung zurück zur Arbeit, wo dies möglich ist.
plädoyer: Stimmt es, dass diese Invaliden nichts oder fast nichts zugute haben?
Rossier: Nein. Durch Auswechseln der Wörter ändert man die Tatsachen nicht. Die Eingliederung in die Gesellschaft müsste das Ziel des Sozialstaats sein.
Nordmann: Ich bin einverstanden. Integration ist das beste Mittel, die Leistungen von Privat- und Sozialversicherungen zu vermindern. Mein Vorschlag zielt auf jene Leute, die eine Stelle hatten und dann erkranken, was gewisse vorübergehende Versicherungsleistungen auslöst. Es geht nicht darum, sie von ihrer Arbeit zu entfremden, sondern ihnen ein Ersatzeinkommen zu verschaffen, wobei man die grosse Schwierigkeit, verschiedene Versicherungen zu koordinieren, vermeidet. Ich gehe mit Ihnen einig, dass zu viele Leistungen gestützt auf das Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG) ausbezahlt werden. Dieses Gesetz soll ja revidiert werden.
plädoyer: Wie kann der Missbrauch eingedämmt werden?
Rossier: Sobald die Arbeitsunfälle in einem Sektor steigen und die Prämien ebenfalls, bringt dies die Arbeitgeber dazu, Massnahmen zum Schutz ihrer Angestellten zu ergreifen. Ich befürchte, dass die Schaffung einer Einheitsversicherung, die jeder in ihrer Gesundheit beeinträchtigten Person ein Einkommen garantiert, eine extrem breite Definition von Krankheit mit sich bringen wird, was schwierig zu bekämpfen sein wird.
plädoyer: Gibt es Irrwege im Sozialversicherungssystem?
Rossier: Gewiss! Eine Arbeitslose hat mir erzählt, die Arbeitslosenversicherung habe sie als nicht vermittelbar betrachtet, während die IV sie aufgefordert habe zu arbeiten. Solche Fälle machen vielleicht zwei Prozent aus und müssten vermieden werden. Aber ich bin nicht damit einverstanden, dass ein funktionierendes System nur wegen ein paar Problemfällen abgeschafft werden soll.
plädoyer: Die Privatversicherungen spielen in diesem System doch auch eine Rolle?
Nordmann: Sicher. Man denke an die Erwerbsausfallversicherung, Zusatzversicherungen zum UVG, die Privatversicherungen im Bereich des BVG. Es ist ein System wie eine Maschine von Jean Tinguely... Ausserdem ist die Terminologie stigmatisierend, denn niemand von uns hat Lust, eine «invalide» Person zu werden.
Rossier: Ich kann das verstehen, auch wenn 95 Prozent aller Fälle, die eine Invalidenrente beziehen, dies während ihres gesamten Lebens tun. Im vergangenen Jahr hatten wir etwa gleich viele Renten, die gestiegen sind, wie solche, die gesunken sind. Wenn sich eine versicherte Person während einiger Zeit vom Arbeitsmarkt entfernt, werden ihre Chancen auf Wiedereingliederung ins Arbeitsleben immer geringer. Darum strengen wir uns so an, mit allen anderen Massnahmen ausser der Rente vor Ablauf eines Jahres zu intervenieren.
plädoyer: Gewisse Anwälte kritisieren aber, der Staat unternehme nichts, um die Invaliden gezielt im Arbeitsmarkt zu reintegrieren.
Rossier: Das ist falsch. Es gibt den Zugang zu vorsorglichen Massnahmen oder die versuchsweise Platzierung Invalider, wobei während der ersten sechs Monate die IV 100 Prozent des Lohns übernimmt. Man kann aber den Leuten nicht vorschreiben, mit wem sie arbeiten müssen.
Nordmann: Es wäre gut, jenen Arbeitgebern, die sich bemühen und Invalide einstellen, mehr Publizität zu geben. Das Bundesgericht macht es mit seiner Rechtsprechung nicht einfacher, wonach es auf dem Arbeitsmarkt «eine grosse Zahl einfacher und repetitiver Tätigkeiten in der Industrie gibt, die in Frage kommen». Ich bin schockiert, dass IV-Stellen sich mit der geringeren Zahl gewährter Renten brüsten, weil dies ja nicht bedeutet, dass die Bevölkerung gesünder ist.
plädoyer: Ist die gesunkene Zahl von Renten einer Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung oder einer schlechteren Versicherungsdeckung zuzuschreiben?
Rossier: Ich bin in weiten Teilen mit Herrn Nordmann einverstanden. Vergangenes Jahr konnten wir 1700 Personen wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern, während wir gut 18 000 neue Renten auszahlten. Mit den neuen Massnahmen hoffen wir, 3000 Personen wieder einzugliedern. Das Parlament hat uns den Auftrag erteilt, 1,2 Milliarden Franken zu sparen. Statt alle Renten um 40 Prozent zu kürzen, untersuchen wir lieber jene Renten prioritär, die jungen Personen zugesprochen worden sind oder solchen, die den Arbeitsmarkt erst vor kurzem verlassen haben. Wenn solche Personen bei einem Arbeitgeber platziert werden können, wird ihnen die Rente während zweier Jahre trotzdem ausbezahlt.
Nordmann: Mein Ziel sind nicht mehr Versicherungsfälle. Meine Klienten verspüren ja nicht den Wunsch, invalid zu sein. Wir ziehen also am gleichen Strick.
Rossier: Ich befürchte, dass dies nicht genügt, um das Problem zu lösen und mehr als eine Milliarde Franken einzusparen.
Yves Rossier, 49, ist seit dem 1. Februar 2004 Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen. Zuvor arbeitete er als Direktor des Sekretariats der Eidgenössischen Spielbankenkommission und als wissenschaftlicher Berater von Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz. Er studierte Recht in Freiburg, Brügge und Montreal.
Philippe Nordmann, 67, ist Rechtsanwalt in Lausanne. Er studierte Wirtschaft an der Universität St. Gallen und Recht an der Universität Lausanne. Sozialversicherungsrecht ist eines seiner Spezialgebiete. Im Juni 2010 veröffentlichte er einen Vorschlag für die Reform der Sozialversicherungen in der Schweiz (Einheitsversicherung).