Nein, ich glaube nicht. Unsere Untersuchung zeigt zwar zwischen 1990 und 2008 eine Zunahme um fünfzig Prozent. Das ist normal, wenn Beschwerdemöglichkeiten erweitert werden. Ich denke aber nicht, dass sich diese Tendenz fortsetzen wird. Zumal das Arsenal juristischer Rechtsmittel heute vollständig ist und wir keinen Hinweis darauf haben, dass Schweizer künftig häufiger klagen oder die Verwaltung schlechter arbeiten würde.
Zudem ist dieser Anstieg bei den Verwaltungsgerichtsbeschwerden differenziert zu betrachten. Im Wesentlichen stammt er aus dem Sozialversicherungsbereich, denn zwischen 1990 und 2008 hat sich dort die Anzahl der durch das Bundesgericht erledigten Fälle nahezu verdoppelt und ist von 1143 auf 2461 Fälle gestiegen. Insbesondere bei der Invalidenversicherung sind die Fallzahlen von 484 auf 1123 angestiegen und bei der Unfallversicherung von rund 100 auf 631.
Kurzfristig könnte sich das damit erklären, dass die Schrauben bei den Leistungen der Invalidenversicherung angezogen wurden und weitere Einschränkungen anstehen. Zu einem Rückgang der Beschwerden kam es hingegen zum Beispiel bei der AVH: Sie spielt aktuell nur noch eine marginale Rolle, während sie 1990 noch 20,7 Prozent der Streitsachen ausmachte. Ich gehe davon aus, dass sich auch der Anstieg in der Invalidenversicherung verlangsamen wird.
Unsere Studie (Thierry Tanquerel, Frédéric Varone, Arun Bolkensteyn et Karin Byland, Le contentieux administratif judiciaire en Suisse: une analyse empirique, Schulthess, Genf 2011) zeigt, dass die Anzahl der Rechtsstreitigkeiten eng mit der Umsetzung von neuen Regeln zusammenhängt. Seit die Rechtsprechung bezüglich Ausnahmebewilligungen für das Bauen ausserhalb der Bauzone klarer geworden ist und die gesetzgeberischen Anpassungen das herrschende Regime gelockert haben, gelangen im Bereich der Raumplanung nur noch ein paar Dutzend Fälle ans Bundesgericht.
Die Untersuchung bestätigt auch, dass die Polemik rund um das Verbandsbeschwerderecht im Bereich des Umweltschutzes keine Grundlage hatte. Die Gesetzesänderung zur Liberalisierung der Verbandsbeschwerde Anfang des Jahres 2000 in Genf führte zum Beispiel zu keinem Anstieg.
Erstaunlicherweise kippt das Bundesgericht Entscheide von kantonalen Justizbehörden öfter als solche von Verwaltungsbehörden. Das hängt nicht mit der Qualität ihrer Arbeit, sondern mit der Art von Entscheiden ab. Tatsächlich sind die Entscheide der Verwaltungsbehörden stark politisch, während vor Bundesgericht nur Rechtliches gerügt werden darf - der Richter wird darum die Einschätzung der Verwaltungsbehörde nicht durch seine eigene ersetzen.
Gemäss der Studie haben die Versicherer (15,4 Prozent aller Verwaltungsgerichtsbeschwerden) vor Gericht eine höhere Erfolgsquote (63,3 Prozent) als andere Beschwerdeführer. Offenbar legen sie nur Beschwerde ein, wenn sie sich hohe Gewinnchancen ausrechnen und eine bestimmte Rechtsprechung durchsetzen wollen. Dennoch ist die Erfolgsquote der Versicherten im Sozialversicherungsbereich höher als diejenige der Beschwerdeführer in anderen Bereichen (22,7 Prozent im Vergleich zu 13 Prozent in der Zeitspanne von 2004 bis 2008). Unbekannt ist, ob die Gerichte allenfalls mehr Empathie für Kläger in einem schlechten Gesundheitszustand zeigen.