plädoyer: Die Schweizer Strafanstalten sind voll - vor allem weil viele Verurteilte trotz guter Führung nach zwei Dritteln der Strafe nicht mehr bedingt entlassen werden, Verwahrte gar nicht mehr. Sind die Verurteilten gefährlicher geworden?
Matthias Brunner: Die Strafjustiz hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine neue Aufgabe erhalten: Sie soll nicht mehr nur begangenes Unrecht bestrafen, sondern die Straffälligen vorbeugend wegsperren - sie könnten ja weiterhin gefährlich sein. Zur Sanktion kommt also neu Prävention. Konsequenz: Die Vollzugsbehörden entlassen einen Gewalt- und Sexualstraftäter nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe eher nicht. Sie haben Angst, für einen allfälligen Rückfall - insbesondere von den Medien - persönlich verantwortlich gemacht zu werden.
Frank Urbaniok: Sie unterstellen den Handelnden, Angst beeinflusse ihre Entscheide. Dem widerspreche ich. Die Frage des Risikos von Rückfällen hat heute einen anderen Stellenwert als vor der Ermordung einer Pfadiführerin in Zollikerberg ZH durch Erich Hauert im Jahr 1993.
plädoyer: Sitzen die Verurteilten heute länger im Gefängnis, weil Hauert auf Hafturlaub tötete?
Urbaniok: Nein, aber es besteht kein Rechtsanspruch, nach zwei Dritteln der Strafe bedingt entlassen zu werden oder auf Vollzugslockerungen. Das Bundesgericht hat festgehalten, dass Gefangenen mit hohen Risiken keine Lockerungen gewährt werden müssen, wenn sie sich weigern, an risikosenkenden Massnahmen teilzunehmen. Nach dem Fall Hauert wurde verstärkt die Frage gestellt, wie hoch das Risiko einer Entlassung ist. Davor spielten Risikoanalysen kaum eine Rolle: Wer sich im Strafvollzug an die Regeln hielt, wurde nach zwei Dritteln der Strafe entlassen. In der Regel waren Verwahrte schneller frei als Verurteilte mit einer genau festgelegten Freiheitsstrafe.
Brunner: Die Frage, die sich bei einer Entlassung stellt, ist doch die: Ist es besser, wenn man jemanden nach zwei Dritteln bedingt entlässt, mit dem Vorteil einer langen Probezeit? Durch die verbleibende Straffrist besteht ja ein grösserer Druck, sich rechtskonform zu verhalten - damit wird die Prognose besser. Oder ist die Gefahr eines Rückfalls kleiner, wenn man diese Person bis zum Ende der Strafdauer im Gefängnis behält und anschliessend definitiv entlässt?
Urbaniok: Das kann man nicht generell sagen, man muss es anhand der im Einzelfall vorliegenden Faktoren individuell beurteilen.
plädoyer: Gab es vor der Praxisänderung 1993 mehr Rückfälle bei entlassenen Gewalt- und Sexualdelinquenten als heute?
Urbaniok: Ja, das kann man statistisch belegen. Verwahrte wurden damals in mehr als vierzig Prozent der Fälle mit einschlägigen Delikten rückfällig. Wahrscheinlich liegt die Quote noch höher, weil nicht alle Rückfälle im Strafregister auftauchen.
plädoyer: Verwahrte werden kaum mehr entlassen. So besteht keine Möglichkeit, je festzustellen, dass sie für die Gesellschaft nicht mehr gefährlich sind.
Urbaniok: Einen lebenslangen Vollzug gibt es theoretisch nur bei Verwahrten und lebenslänglichen Haftstrafen. 99 Prozent der Gewalt- und Sexualstraftäter verbüssen aber eine endliche Strafe und werden deswegen zwingend entlassen. Es gibt gar keine Handhabe, sie länger festzuhalten. Zur Frage des Risikos für die Gesellschaft: Wir machten im Kanton Zürich vor Einführung der nachträglichen Verwahrung im Jahr 2007 ein unfreiwilliges Experiment. Es ging um acht hochgefährliche, nicht therapierbare Insassen, bei denen wir sagten, die müsste man eigentlich verwahren. Wir beobachteten sie nach der rechtlich unumgänglichen Entlassung - und die Bilanz ist ernüchternd: Alle acht wurden rückfällig und haben von 1997 bis 2002 insgesamt 24 schwere Gewalt- und Sexualstraftaten begangen.
Brunner: Es ist problematisch, mit acht nicht nachprüfbaren Fällen für die Änderung eines Strafsystems zu argumentieren.
Urbaniok: Die Fälle sind in einer von externen Wissenschaftlern überprüften Studie publiziert, und es ist beileibe nicht die einzige Studie zu diesem Thema ...
Brunner: ... aber gemäss einer Untersuchung des Bundesamtes für Statistik war die Rückfallquote bei Gewalt- und Sexualstraftätern in den 1990er-Jahren viel geringer als bei allen anderen Täterkategorien. Sie lag bei 5,3 Prozent.
Urbaniok: Viele internationale Studien weisen für Gewalt- und Sexualstraftäter Rückfallraten von 20 bis 30 Prozent aus. Darunter gibt es Gruppen mit sehr geringen Rückfallquoten und solche mit Rückfallquoten weit über 50 Prozent. Das ist bei uns nicht anders.
Brunner: Ihre Zahlen sind Behauptungen, um eine Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien zu legitimieren. Wir müssen das neue Konzept hinterfragen, besonders die Beurteilung der Voraussehbarkeit von Straftaten. Die Anzahl eingesperrter Menschen, die ihre Strafe vollumfänglich abgesessen haben, aber anschliessend gestützt auf die Artikel 59 oder 64 StGB verwahrt werden, war nie so gross wie heute.
Urbaniok: Das stimmt nicht. Die Population der Verwahrten hat sich deutlich verringert.
Brunner: Aber jene in der sogenannten psychiatrischen oder kleinen Verwahrung nach Artikel 59 StGB hat zugenommen. Viele Gefangene, die gestützt auf Artikel 64 StGB verwahrt wurden, sitzen heute gestützt auf Artikel 59.
Urbaniok: Die Massnahme gemäss Artikel 59 StGB ist auf fünf Jahre befristet, mit Verlängerungsmöglichkeit. In der Praxis sind das maximal zehn Jahre. Diese Massnahme darf nur angeordnet werden, wenn Aussicht besteht, innerhalb von fünf Jahren ein deutlich tieferes Risiko zu erreichen.
plädoyer: Es brauchte eine Beschwerde von Matthias Brunner ans Bundesgericht, um diese Einschränkung zu erwirken.
Urbaniok: Wir waren froh über dieses Urteil. Auch wir vom Psychiatrisch-psychologischen Dienst des Kantons Zürich (PPD) fanden es falsch, dass zum Teil 59er-Verwahrungen ohne irgendeine kritische Prüfung der konkreten Erfolgsaussicht angeordnet wurden.
Brunner: Wie legitimiert sich ein Strafrechtssystem, das immer mehr Leute, die ihre Strafe verbüsst haben, aus der Gesellschaft wegsperrt?
Urbaniok: Dass rückfallgefährdete Täter behandelt werden - die meisten mit endlichen Strafen - ist sehr sinnvoll. Denn durch professionelle Therapien nach modernen Methoden lassen sich Rückfallquoten vermindern, bei guten Programmen um etwa die Hälfte.
plädoyer: Das Konzept «im Zweifel für die Verwahrung» bedeutet doch: Lieber einige zu viel im Gefängnis als einen zu wenig. Ist das rechtsstaatlich haltbar?
Urbaniok: Nein, das wäre unverhältnismässig. Wir sprechen hier von Einzelfällen, also von Prognosen im Einzelfall. Wir zeigen auf, wie hoch das Risiko für den Rückfall einer Person ist. Es sind dann die Juristen und die Vollzugsbehörde, die entscheiden.
Brunner: Bis 1993 hatten wir in der Schweiz bei der Verwahrung jedes Jahr gleich viele Entlassungen wie Einweisungen - etwa 10 bis 20 pro Jahr. Ab 1993 sank die Zahl der Entlassungen bis zum Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches auf eine Person pro Jahr. Wenn vorher 45 Prozent der Entlassenen einschlägig rückfällig wurden, bedeutet das, dass heute viele zu Unrecht nicht entlassen werden. Konkret: Das Bundesgericht hat die Entlassung eines Mannes angeordnet, der zehn Jahre wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand verwahrt war. Die Bundesrichter rügten alle kantonalen Instanzen mehrfach wegen Willkür. Der Vollzugsapparat ist offenbar nicht bereit, das Verhältnismässigkeitsprinzip anzuwenden. Die Behörden entscheiden gegen die Freiheit, weil die Psychiatrie ihnen nicht die Sicherheit gibt, dass nach einer Entlassung nichts passiert.
plädoyer: Frank Urbaniok, gibt es wirklich keine Verurteilten, die zu Unrecht schlechte Prognosen erhalten und weggesperrt werden?
Urbaniok: Ich kann nicht für die ganze Schweiz sprechen, und wo Menschen arbeiten, lassen sich Fehler leider nie völlig ausschliessen. Wir machen es uns aber nicht einfach und tun sehr viel dafür, dass die Qualität der Risikobeurteilung stimmt. Die Fundamentalkritik ist deswegen aus meiner Sicht unberechtigt.
Brunner: Im Gegensatz zu Deutschland fehlen in der Schweiz Studien zu sogenannten false positives. Wir bauen mit viel Geld neue Anstalten für eine überalterte Gefängnispopulation, um der Erwartung der Null-Risiko-Mentalität gerecht zu werden.
plädoyer: Sind die verwahrten Täter auch im Alter gefährlich?
Urbaniok: Es gibt solche Fälle.
Brunner: In den Anstalten sitzen heute dreimal mehr Gefangene, die über sechzig Jahre alt sind als vor 1993. Das Alter der Delinquenten ist aber nicht gestiegen. Die Überalterung muss also daran liegen, dass die Leute nicht mehr aus dem Gefängnis kommen. Darunter gibt es Gefangene, die als Strafe zu viereinhalb Jahren oder nur zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Und sie sitzen nun seit zehn beziehungsweise zwanzig Jahren hinter Gittern.
plädoyer: Nimmt der Staat seine Verantwortung gegenüber den Gefangenen noch wahr?
Brunner: Das Wegschauen oberster Kader im Vollzug ist eine Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen. Die Verantwortung wird nicht wahrgenommen, wenn man kein Risiko eingeht, denn das ist Bestandteil der Verhältnismässigkeit. Die Fehlleistung, dass Menschen ungerechtfertigt weggesperrt werden, wird nicht als solche wahrgenommen.
Urbaniok: Doch, das würde von uns als schwerwiegende Fehlleistung wahrgenommen. Deshalb beschäftigen wir uns seit 15 Jahren intensiv mit Prognoseforschung. Genaue Risikobeurteilungen sind keineswegs per se restriktiv. In der Mehrzahl der Fälle empfehlen wir Lockerungen oder Entlassungen.
Brunner: Sie werden ja nicht sich selbst widerlegen und zu belegen versuchen, bei wie vielen Leuten sie eine allzu skeptische Prognose machen. Ob es zu einem Delikt kommt, hängt von verschiedenen Aspekten ab, die in der Zukunft liegen. Gefährlichkeit ist eine Kombination der Ausgangslage einer Person mit Umständen, die eben nicht prognostizierbar sind. Wird ein Freigelassener eine Beziehung eingehen, in der wieder das Eifersuchtsproblem an den Tag kommt? Wird er mit Leuten verkehren, von denen er sich in krumme Dinge reinziehen lässt?
Urbaniok: Es gibt Persönlichkeitstäter und Situationstäter, und sie unterliegen verschiedenen Dynamiken. Ein Pädosexueller zum Beispiel verfügt über Eigenschaften, die bei ihm in der Persönlichkeit verankert sind und die Wahrscheinlichkeit für eine Straftat erhöhen. Der Situationstäter hingegen handelt aus einer bestimmten Situation heraus, er hat keine oder nur schwache risikorelevante Persönlichkeitseigenschaften.
Brunner: Ich lese aber bei forensischen Psychiatern wie Norbert Leygraf, dass Gefährlichkeit psychiatrisch nicht feststellbar ist.
plädoyer: Frank Urbaniok, Sie machen also keine psychiatrische Diagnose, sondern Sie schätzen die Gefährlichkeit ein?
Urbaniok: Bei der Risikoanalyse wäre es falsch, den Blick auf die psychiatrische Diagnose zu beschränken. Wer sich aus Glaubensgründen in die Luft sprengt, ist aus psychiatrischer Sicht nicht krank, sondern hat wahrscheinlich eine delinquenzfördernde Weltanschauung. Ist sie ausgeprägt, ist das ein risikosteigernder Faktor.
plädoyer: Sie versuchen die Gefährlichkeit eines Menschen mit Ihrem System Fotres zu beziffern, einer Checkliste oder einem Kriterienkatalog, mit dem der Psychiater eine Person beurteilt. Strafverteidiger oder Richter haben keine Möglichkeit, dieses Punktesystem nachzuvollziehen.
Brunner: Das Resultat von Fotres besteht aus Punkten und Zahlen. Basierend auf einem kostenpflichtigen Handbuch und einer Lizenz müsste man als Anwalt oder Richter erraten, wie es zu diesen Zahlen kam. Das Ergebnis des Fotres ist immer selbstreferenziell. Das Resultat der Checkliste kommt so heraus, wie der Anwender das Gegenüber einschätzt. Fotres vermittelt eine Pseudoobjektivität, indem es mit Zahlen operiert.
Urbaniok: Fotres ist ein Qualitätssicherungsinstrument für Gutachter und Therapeuten, mehr nicht. Jeder kann die klar definierten Kriterien, die in einem Fall angewendet wurden, nachlesen und sich selbst ein Bild machen.
Brunner: Liegt bereits ein Gutachten vor und führen Sie mit Fotres eine zweite Beurteilung durch und kommen zu einem anderen Ergebnis, dann ist Fotres doch mehr als Qualitätssicherung: nämlich ein Prognoseinstrument.
Urbaniok: Prognosen, die mit Hilfe des Fotres erstellt wurden, beruhen auf klaren Kriterien und entstehen nicht aus dem Bauch heraus. Bei freihändigen Prognosen sind auch Kriterien vorhanden, aber sie sind nicht explizit.
plädoyer: Matthias Brunner, gibt es Alternativen zu Fotres?
Brunner: Ich habe nichts gegen Qualitätssicherung. Aber Fotres darf nicht vorspiegeln, einen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Bei der Arbeit eines Gutachters kann das System höchstens der Plausibilitätskontrolle dienen. Wichtig ist, dass ein Gutachter darlegt, ob und wo er ein Risiko sieht. Der PPD masst sich aber an, bestehende Gutachten massgeblich gestützt auf Fotres in Frage zu stellen.
Urbaniok: Es ist selbstverständlich, dass wir Gutachten nicht blind übernehmen, sondern uns immer ein eigenes Bild machen. Auch, weil es nicht selten qualitativ unzureichende Gutachten gibt.
plädoyer: Sind Richter den Psychiatern überhaupt gewachsen?
Brunner: Praktisch kein Richter wagt es, bei Prognosen von Gutachten abzuweichen. Ein Gutachten hat mehr als präjudizierenden Charakter, es nimmt das Urteil in wesentlichen Teilen vorweg. Die Metapher des Gutachters als Richter in Weiss ist völlig berechtigt.
Urbaniok: Richter und Verteidiger prüfen, ob das Gutachten überzeugt. Sie müssen ein gutes von einem schlechten unterscheiden können.
plädoyer: Die Strafkompetenz von Einzelrichtern ist beschränkt. Schwere Delikte beurteilt ein Gremium, weil bei drei Richtern die Fehlerquote tendenziell sinkt. Ist das bei Gutachtern anders?
Urbaniok: Richter haben andere Aufgaben als Psychiater. Sie machen eine rechtsnormative Bewertung. Man würde bei einem Arzt auch nicht sagen, es ist besser wenn zwei statt einer operieren. Müssen viele Gutachten erstellt werden, sinkt die Qualität. Die Zahl jener, die ein Gutachten auf hohem Qualitätsniveau erstellen können, ist nicht beliebig erweiterbar.
Brunner: Wie die Deliktprognose ausfällt, ist weitgehend eine normative Frage. Es ist eine weltanschauliche Frage, eine Wertungsfrage. Der Richter muss entscheiden, in welchem Mass bei einer Person die Gefahr eines Rückfalls besteht.
Urbaniok: Weltanschauungen, Ideologien, Stimmungen, eigene Interessen oder taktische Überlegungen - solche unprofessionellen Verunreinigungen muss man aus den Gutachten raushalten. Diese sind eine rein wissenschaftlich abgestützte Dienstleistung.
ZUR PERSON:
Matthias Brunner, 57, Rechtsanwalt, ist Strafverteidiger in Zürich. Er war Gründungsmitglied des Piketts Strafverteidigung und ist Vorstandsmitglied des Forums Strafverteidigung. Zudem war er Richter am Kassationsgericht des Kantons Zürich.
Frank Urbaniok, 50, Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich. Er ist Professor für Forensische Psychiatrie und lehrt an den Universitäten Konstanz und Zürich. Daneben hat er die Prognosesoftware Fotres entwickelt.