Von den Steuerentscheiden gehen 95 Prozent zulasten der Steuerpflichtigen. Dies liegt nicht an einer formell oder materiell schlechten Ausgangslage der Steuerpflichtigen, sondern ist ein systemimmanenter Mangel des Steuerverfahrens. Mitglieder von Verwaltungsbehörden und Richter werden von der öffentlichen Hand bezahlt. Es ist deshalb offensichtlich, dass die Praxis der Gerichte und Steuerverwaltungen fiskalisch motiviert und grundsätzlich staatsfreundlich orientiert ist. Der Bürger und Steuerpflichtige hat das Nachsehen.
Dramatisch ist diese Ausgangslage im Steuerstrafrecht. Verfahrensrechte, Unschuldsvermutung und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sind de facto ausser Kraft gesetzt. Die grössten Defizite liegen in den formellen Verfahrensrechten des Beschuldigten: In anderen Verfahren übliche Grundsätze wie Beweisverwertungsverbot und Ausstand werden grosszügig ignoriert.
Mir ist kein einziger Steuerentscheid bekannt, bei dem ein formeller Verfahrensmangel den materiellen Steueranspruch aufgehoben hätte. Was auch immer an unzulässigen oder illegalen Ermittlungen dem Verfahren zugrunde liegt, am Schluss wird die Nach- und Strafsteuer auf jeden Fall in Rechnung gestellt – das materielle Recht dominiert.
Je nach Kanton werden das Strafsteuerverfahren und das Nachsteuerverfahren von derselben Person eröffnet, untersucht und entschieden. Oft ist es sogar die gleiche Person, welche bereits die Veranlagungen der Vergangenheit betreut hat. Die Frage, ob diese Person allfällige Tatsachen bereits früher hätte erkennen können und damit das Strafsteuerverfahren ausgeschlossen wäre, wird verneint, und ein objektives Urteil ist gar nicht möglich.
Steuerverwaltung urteilt in eigener Sache
Diese Ämterkumulation ist gemäss EMRK unzulässig, wird in der Schweiz jedoch nach wie vor praktiziert. Die Steuerverwaltung als Strafsteuerbehörde ist die einzige strafurteilende Behörde, die in eigener Sache urteilt: Sie war Opfer eines Steuervergehens und urteilt über den Delinquenten, sie ist Opfer und Richterin in einem.
Geradezu grotesk ist die Pauschalierung der Strafsteuer. Oft ist sie im Gesetz bereits festgelegt. Bei einer Nachsteuer beträgt die Busse mindestens einen Bruchteil der Nachsteuer (⅓, ½), gerne aber auch mehr (1⁄1, ⁵⁄1) – und weitere Zuschläge folgen. Vor allem die erste Stufe der Strafsteuer ist bedenklich: Selbst ohne Verschulden erfolgt die Bestrafung. Die schuldunabhängige Bestrafung ist verfassungswidrig, wird aber breit praktiziert. Die Steuerverwaltung als Opfer des Steuerdeliktes urteilt auch gerne über «ihre Straftäter».
Suizid als Ausweg aus den Steuerschulden
Bei einem gutverdienenden Steuerpflichtigen, der rund 40 Prozent seines Einkommens als Steuern abgibt, kann eine Strafsteuer über mehrere Bezugsjahre einmal ein Jahreseinkommen oder ein Mehrfaches davon erreichen. Dies entspricht einer unbedingten Strafe von mindestens einem Jahr in Tagessätzen. Dafür müsste im ordentlichen Strafrecht bereits eine erste Straftat begangen worden sein, da eine Erststrafe in der Regel auf Bewährung ausgesprochen wird. Und es müsste sich um ein erhebliches Delikt handeln. Der Vergleich zeigt die Härte der Bestrafung: Die Strafsteuer entspricht ohne Not dem eines wiederholten qualifizierten Betruges.
Die Steuerverwaltung erlässt in der Regel keine Strafsteuern, auch wenn diese etliche Jahre zurückliegen. Diese Unerbittlichkeit ermöglicht Strafsteuerverurteilten auf lange Zeit keine wirtschaftliche Entwicklung mehr. Weil die Strafsteuer rigoros einkassiert und vollzogen wird, kommen auch laufende Steuern in Verzug. So kann sich ein Strafsteuerbescheid eines Mittefünfzigjährigen bis einige Jahre nach der Pensionierung hinziehen. Erst dann hat er wieder frei verfügbares Einkommen.
Mir ist gar ein Fall bekannt, bei dem die Straf- und Steuerschulden so gross waren, dass der Betroffene im Suizid die einzige Lösung sah. Die finanziellen Leistungen aus dem Todesfall ermöglichten dann der Witwe die Begleichung der Schulden. Erst in einem neueren Entscheid wurde die Vererbbarkeit der Steuerbussen abgeschafft.
Die Rechtsprechung im Strafsteuerrecht hinkt gegenüber dem ordentlichen Strafrecht bezüglich der Gewährung eines fairen Verfahrens um Jahrzehnte hintennach: Der Staat hat sich eine erheblich privilegierte Bestrafung von Steuerdelikten gesichert.
Auch das Bankgeheimnis ist aufgehoben. Auf Anfrage hin erteilen Banken der Staatsanwaltschaft und teilweise auch den Steuerbehörden umfassend Auskunft, ohne Anhörung des Kunden. Der Unterschied von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wird landesintern kaum beachtet. Das Steuergeheimnis ist inexistent: Die Steuerverwaltung erteilt auf Anfrage jeder anderen Behörde umfassend Auskunft. Die in Gesetzen und Verordnungen formulierten formalen Anforderungen werden nonchalant übergangen. Der Zweck ist das Ziel, und die Rechtsstaatlichkeit das Opfer.
Ein Beispiel: Der Fall Dieter Behring ist bei den Strafuntersuchungsbehörden seit rund 10 Jahren hängig, es liegt noch keine Anklage vor. Bei der Aktenbeschlagnahmung kamen unversteuerte Depots von mutmasslichen Behring-Opfern zutage. Die resultierenden Nach- und Strafsteuerverfahren sind alle abgeschlossen, und zahlreiche Personen mussten auf nicht mehr vorhandenem Vermögen Steuern und Busse zahlen. Der Staat ist zu seinem Geld gekommen, die Geschädigten nicht. Und ob die Aktenbeschlagnahmung sich materiell aufgrund eines Verbrechens rechtfertigt, ist offen. Die Beweisverwertung im Steuerverfahren ist realisiert. Demgegenüber steht eine Anklage von Dieter Behring noch aus.
Bei einem Nach- und Strafsteuerverfahren fühlen sich die Behörden zu allem legitimiert. Schon die Vermutung einer Hinterziehung setzt rigoroses Durchgreifen in Gang. Was nicht bewiesen werden kann, wird mit einer Ermessensein-schätzung festgelegt. Das kann so weit gehen, dass eine unangefochtene Ermessenseinschätzung zur Eröffnung eines Nach- und Strafsteuerverfahrens der Vergangenheit führt.
Zu den bereits erwähnten kommen weitere Verfahrenshindernisse: keine Befragung von Zeugen, Einschränkung der Akteneinsicht, Verweigerung von Beweisannahmen, Abweisung von Gegenbeweisanträgen. Summarisches Beweisverfahren zugunsten der Steuerverwaltung und der Steuerarrest.
Ein Blick über die Grenze zeigt denn auch, dass die Schweiz ein hartes Steuerregime führt. Zehn Jahre für Nach- und Strafsteuern sind ein Spitzenwert. Drei bis fünf Jahre sind international üblich.
Strafsteuerverfahren muss harmonisiert werden
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Schweizer Strafsteuerverfahren erfolgt nicht nach den Regeln eines fairen Verfahrens. Die Ämterkumulation bei den Steuerbehörden ist fatal. Der Strafanspruch des Staates unterliegt keinen formellen Grenzen.
Was wäre zu tun? Das materielle Strafsteuerverfahren sollte mittels des Steuerharmonisierungsgesetzes schweizweit geregelt werden. Busse und Steuer müssen entkoppelt werden. Die Strafe muss sich nach dem Verschuldensprinzip orientieren. Der Strafrahmen sollte sich nach dem ordentlichen Strafrecht orientieren. Für das formelle Strafverfahren sollte die schweizerische Strafprozessordnung massgebend sein, und unabhängige Steuerstrafgerichte sollten die Strafurteile fällen.