plädoyer: Laut Ihrer Website wurden Sie «unverhofft» frühzeitig pensioniert. Was heisst das?
Markus Felber: Vergangenen Oktober wurde ich damit konfrontiert, dass die Bundesgerichtsberichterstattung der NZZ umgebaut werden soll. Vorgesehen war eine Aufspaltung der Stelle in zwei Pensen zu 50 Prozent und eine Verlagerung des Schwergewichts von der juristischen zur politischen Relevanz der Rechtsprechung. Ich gelangte zur Überzeugung, dass dadurch die Berichterstattung nur noch beschränkt den Erwartungen jener spezifischen Leserschaft entsprechen dürfte, welche die NZZ mit ihrer Bundesgerichtsberichterstattung seit 1913 erfolgreich an sich gebunden hat. Meine Bedenken wurden nicht ernst genommen, sodass ich in die mir angebotene Frühpensionierung einwilligte.
Gab es Reaktionen auf den Entscheid der NZZ?
Verschiedene Anwälte und andere Leser haben bei mir direkt, aber auch öffentlich – zum Beispiel auf Twitter – die Besorgnis geäussert, dass es zu einem Abbau oder einer Umgewichtung der Berichterstattung kommt. Zu beeinflussen war die Entwicklung aber nicht. Das hängt auch mit dem zusammen, was ich seit Jahren kritisiere: Die Justiz – und dazu zähle ich auch die Anwaltschaft – tut sich schwer mit Öffentlichkeitsarbeit und betreibt kein Lobbying. Entsprechend schwach ist ihre Stellung, wenn es um die Verteidigung ihrer Ansprüche geht. Auch gegenüber den beiden anderen Gewalten im Staat hat die Justiz in den Medien nicht die Stellung, die sie eigentlich haben müsste.
Die Gerichte rüsten auf, stellen Mediensprecher an.
Damit ist es nicht getan. Diese Leute schreiben Communiqués und oft wiegeln sie mehr ab, als dass sie informieren. Es geht um mehr: Die Justiz muss ihre noble Zurückhaltung ablegen und den ihr zustehenden Raum in Öffentlichkeit und Medien geschickt und wirksam besetzen.
Es ist nicht immer einfach, Urteilstexte zu finden.
Wie ein grosser Teil der kantonalen Gerichte ihre verfassungsmässig verankerte Pflicht zur Verkündigung der Urteile vorsätzlich verletzt, ist katastrophal. Urteile werden mit den absurdesten Begründungen unter Verschluss gehalten und müssen schliesslich doch noch herausgegeben werden, wenn sich jemand wehrt und ans Bundesgericht gelangt. Dieses verhält sich mustergültig und veröffentlicht sämtliche Urteile meist anonymisiert im Internet und legt ergänzend dazu in der Eingangshalle sämtliche Dispositive in der Regel mit Namen während einiger Zeit auf, wo jedermann sie einsehen kann.
Früher berichtete die NZZ über Urteile, lange bevor sie offiziell erschienen. Braucht es heute noch einen Bundesgerichtskorrespondenten?
Die Funktion hat sich verändert. Seit die Urteile sofort im Internet zugänglich sind, besteht die Aufgabe der Gerichtsberichterstattung eher in der Triage. Es gilt, auf Urteile hinzuweisen, die man in der Urteilsflut leicht übersieht.
Sie haben sich auch als «Watchdog» des Bundesgerichts bezeichnet. So kritisierten sie, dass gewisse Kammern Grundsatzentscheide in Dreier- statt Fünferbesetzung fällten.
Das war in den 1990er-Jahren, heute macht das keiner mehr. Das ist sicher teilweise mein Erfolg – wobei die Frage auch innerhalb des Gerichts umstritten war und ich mit meiner Berichterstattung eigentlich nur im innergerichtlichen Konflikt eine Seite gegen die andere unterstützt habe.
Auch die Anonymisierung ist ein Thema, das Sie immer wieder aufgenommen haben.
Da war ich weniger erfolgreich. Gegen aussen nimmt man vor allem wahr, dass ich kritisiert habe, wenn zu viel anonymisiert wurde. Gegen innen habe ich aber mindestens so oft kritisiert, wenn zu wenig zum Schutz der Persönlichkeit vorgekehrt wurde. Es wird völlig unbedarft nach Schema anonymisiert. Dabei ist schon die Fragestellung falsch. Man sollte nicht fragen, ob ein Urteil anonymisiert werden muss. Die richtige Frage lautet, ob eine der im Urteil erwähnten Personen speziellen Schutz braucht und auf welche Weise er wirksam gewährleistet werden kann. Oft ist eine Anonymisierung angezeigt, aber es gibt auch Konstellationen, in denen sie nicht ausreicht. In wenigen Fällen bleibt nichts anderes, als eine ganze Erwägung wegzulassen oder ein Urteil nicht zu veröffentlichen.
Sie kritisierten auch das Zusammenstellen der Spruchkörper.
Das ist nun auf gutem Weg. Das Bundesverwaltungsgericht entwickelte den Bandlimaten – ein elektronisches System, benannt nach seinem geistigen Vater, dem ehemaligen Gerichtspräsidenten Christoph Bandli – der die Richterbank nach dem Zufallsprinzip besetzt. Inzwischen wurde auch in Lausanne etwas Ähnliches entwickelt. Meines Wissens mit einem Unterschied: Der Referent wird vom Präsidenten und nicht von der Maschine festgelegt. Im Idealfall sollte aber jedes manuelle Eingreifen ausgeschlossen sein, weil allein schon die theoretische Möglichkeit, dass bei der Zusammensetzung des Spruchkörpers manipuliert werden kann, das Vertrauen in die Justiz beschädigt.
Ist das die einzige Schwäche des Automatismus?
Es gibt eine weitere: Man kann nicht eingeben, dass einige Richter zu 150 oder 200 Prozent leistungsfähig sind und andere zu 70 Prozent. Dies führt dazu, dass manche zu wenig Arbeit haben und andere zu viel. Allerdings liegt das Problem nicht bei der Maschine, sondern darin, dass ein Gericht sich nie wird darauf verständigen können, welcher Richter wie viel Prozent Leistung erbringen kann.
Ein weiterer Kritikpunkt sind Richter mit Parteibuch.
Dass Richter einer Partei angehören, wenn sie das wollen, ist unproblematisch, denn es wirkt sich nur selten auf die Rechtsprechung aus. Problematisch finde ich, dass der Richter einer Partei angehören muss, weil er andernfalls gar nicht gewählt wird. Zudem müssen die Gewählten ihrer Partei jährlich einen Teil des Lohnes abliefern: Das ist Ämterhandel – oder um genau zu sein Ämterleasing.
Wieso hält man denn an diesem System fest?
Die Parteien glauben, auf diese Einnahmequelle angewiesen zu sein. Für mich grenzt das aber an Korruption. Zudem haben wir in der Schweiz ein grosses Potenzial an Personen, die gute Richter wären – weil sie aber keiner Partei angehören, haben sie keine Chance. Oft hört man, die Gerichte spiegelten dank des Parteienproporzes die Gesellschaft, aber die wachsende Zahl der Parteilosen ist in keinem Gericht repräsentiert.
Was läuft gut am Bundesgericht?
Vermutlich mehr, als man gemeinhin denkt. So wird im Grossen und Ganzen eine gute Rechtsprechung gemacht. Es gibt Ausrutscher, die bei nächster Gelegenheit korrigiert werden, und ganz selten katastrophale Entscheide wie etwa, als vor Jahren einem sexuell missbrauchten Jugendlichen ein zivilrechtliches Selbstverschulden angelastet wurde. Lobend erwähnen möchte ich auch den Umgang des Bundesgerichtes mit den Medien, die Arbeitsbedingungen vorfinden, wie es sie kaum an einem anderen Gericht in der Schweiz gibt.
Meinen Sie damit beide Standorte, Luzern und Lausanne?
Nein, nur Lausanne. Luzern hat eine Wagenburgmentalität. Ein Richter hat einmal extra eine Sitzung verschoben, damit ich am Morgen von Lausanne und danach von Luzern berichten konnte. Aber ich kam in Luzern nicht durch die Eingangskontrolle und reiste wieder ab. Es haben sich danach alle entschuldigt – aber die Person am Eingang hat wohl nur ihren Job gemacht: abwimmeln.
Wie läuft es in Lausanne?
In Lausanne kann ich als hauptberuflich tätiger Journalist mit eigenem Badge von 7 bis 18.30 Uhr das Palais auf Mon Repos betreten oder verlassen und muss nicht einmal durch die Sicherheitsschleuse. Journalisten haben offiziell Zutritt in die Cafeteria, können sich im Haus frei bewegen, haben ihre eigenen Arbeitsräume.
Welches sind die grössten Veränderungen der vergangenen dreissig Jahre – abgesehen von der technologischen Entwicklung?
Das total gewandelte Richterbild, also die Rollenverteilung zwischen Gerichtsschreibern und Richtern. Als ich 1981 begann, schrieben die Richter die Referate selber, heute geschieht das nur noch selten. Allmählich begannen einige erfahrene Schreiber Referate zu verfassen und lasen sie in der Beratung selber vor. Später verlasen die Richter die Referate, wiesen aber explizit auf den Autor hin. Nun sind die Verfasser nach aussen nicht mehr sichtbar. Der Gerichtsschreiber hat heute Richterfunktion.
Ist das negativ?
Nein. Die Alternative bestünde in hundert Richtern und einem Betrieb, der schlicht nicht mehr zu führen wäre. Aber die Richter sollten ihre veränderte Funktion wahrnehmen: Sie tragen die Verantwortung, führen ein Team, kontrollieren, motivieren, stellen Weichen in Rechtsfragen. Einige machen das gut, andere beschränken sich etwas überspitzt gesagt darauf, im Referat des Mitarbeiters die Kommafehler zu korrigieren.
Sie sind technisch à jour mit Website, Blog und tweeten aktiv. Die Justiz ist weit davon entfernt.
Die Justiz tut sich schwer mit neuen Technologien. Wenn im Bundesgericht mal eine Rechtsschrift via elektronischen Rechtsverkehr eingeht, wird sie als Erstes ausgedruckt, dann wird alles auf Papier abgewickelt und am Schluss wieder eingescannt. Umgekehrt habe ich unlängst mit Freude festgestellt, dass es nun auch einen twitternden Bundesrichter gibt.
Markus Felber, 62, begann seine Karriere als Praktikant auf der Redaktion der Lu-zerner Tageszeitung «Vaterland» und studierte auf Anregung des Chefredaktors Jus. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Bundesgerichtskorrespondent, zuerst für einen Zeitungspool, ab 1994 für die NZZ. Ende Juni wurde er pensioniert. Über die Rechtsprechung des Bundesgerichts berichtet er weiterhin: wie bisher für die «Schweizerische Juristenzeitung» und den «Hauseigentümer» und wie früher schon nun auch wieder für Jusletter.ch. Felber ist aktiver Twitterer (@Frechgeist) und betreibt eine eigene Website (www.fel.ch). Er ist verheiratet und wohnt in Alpnach (OW).
Nachfolgerin wird vermehrt Querbezüge zur Politik thematisieren
Die Pensionierung von Markus Felber führte zu einer Intervention an der Ständeratssitzung vom 5. Juni. Luc Recordon (Grüne/VD) wollte von Bundesgerichtspräsident Gilbert Kolly wissen, ob sein Gericht sich wegen Felbers Pensionierung Gedanken mache, die Zahl der Kommunikationsfachleute zu erhöhen, um die Entscheide des Bundesgerichtes besser zu erklären. Kollys Antwort: «Wir machen schon seit einiger Zeit Medienmitteilungen. Wir haben beschlossen, mehr zu machen.»
Künftig wird für die NZZ Katharina Fontana, bisher Bundeshauskorrespondentin, über das Bundesgericht berichten – mit einer 75-Prozent-Stelle. Felber arbeitete Vollzeit. Dominique Strebel, Justizbeobachter und Studienleiter an der Journalistenschule MAZ, äussert «Zweifel, dass die NZZ mit einer 75-Prozent-Stelle und Stellvertretungen den bisherigen Standard an juristischer Berichterstattung aufrechterhalten kann. Dies vor allem auch, weil Katharina Fontana, die neu als Gerichtsberichterstatterin arbeitet, noch keine Kontakte ins Bundesgericht hat und wegen des tieferen Anstellungsgrads zwangsläufig weniger in Lausanne präsent sein kann als Felber.»
Dazu NZZ-Sprecherin Bettina Schibli: «Frau Fontana ist ebenfalls Juristin und als langjährige Bundeshauskorrespondentin und profunde Kennerin diverser Dossiers bestens für die neue Aufgabe qualifiziert.» Die Berichterstattung werde im bisherigen Rahmen weitergeführt.
Dem widerspricht eine Passage aus einem internen E-Mail von NZZ-Inlandchef René Zeller vom März: Es sei geplant, «vermehrt die Querbezüge von Rechtsprechung und Politik zu thematisieren. Katharina ist von mir explizit beauftragt, sich in ihrer neuen Funktion auch zu staats- und verwaltungsrechtlichen Fragen zu äussern.»