Der im Jahr 1973 in Kraft getretene Artikel 268b ZGB besagt: Ohne die Zustimmung der Adoptiveltern darf ihre Identität den leiblichen Eltern nicht bekannt gegeben werden. Die Beziehung zu ihnen wird gekappt. Die biologischen Eltern haben also lediglich das Recht zu erfahren, ob ihr Kind adoptiert wurde - aber nicht von wem. Dem Adoptivkind hingegen steht seit knapp zehn Jahren grundsätzlich ab dem 18. Lebensjahr das Recht zu, seine Herkunft zu erfahren (Artikel 268c ZGB).
Bei der Einführung der geheimen Adoption ging man so weit, in der Zivilstandsverordnung festzulegen, dass der ursprüngliche Geburtsregistereintrag des Adoptivkindes mit einem Deckblatt zu versehen ist. Darauf wird das adoptierte Kind als von seinen neuen Eltern geboren geführt. Eine ähnliche Regelung findet sich auch in der 2004 eingeführten Zivilstandsverordnung. Vergessen und Erinnern wurden damit für die an einer Adoption Beteiligten klar reglementiert.
Kontaktaufnahme für leibliche Eltern ermöglichen
Das zentrale Argument bei der Einführung der Inkognitoadoption war das Kindeswohl: Klare Verhältnisse im familiär eindeutig definierten Kreis wurden für gut befunden. Das Adoptionsgeheimnis sollte dafür sorgen, dass sich die leibliche Mutter nicht in das neue Eltern-Kind-Verhältnis einmischt. Und es sollte die Angst der Adoptiveltern zerstreuen, dass ihnen das Kind wieder weggenommen wird.
Das Geheimnis wurde 1992 leicht durchlöchert: Damals war das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung eingeführt worden. In Artikel 119 der Bundesverfassung heisst es: «Jede Person hat Zugang zu den Daten über ihre Abstammung.» 2001 trat schliesslich das Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin in Kraft. Artikel 27 garantiert das Recht des Kindes, ab dem 18. Lebensjahr Auskunft über die Personalien des Samenspenders zu erhalten.
Heute sind sich Bundesrat und Parlament einig, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung noch gestärkt und das Adoptionsgeheimnis in der aktuellen Form fallen soll. So wurde 2009 die Motion der Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr klar angenommen. Sie fordert, dass die leiblichen Eltern von Adoptivkindern das Recht erhalten sollen, Informationen über ihre Kinder einzuholen. Ziel des Vorstosses ist vor allem, den einst administrativ versorgten Frauen die Möglichkeit zu geben, ihre unter Druck zur Adoption freigegebenen Kinder zu finden. Die Frauen sollen Kontakt mit dem Kind aufnehmen können, wenn es mindestens 18 Jahre alt und damit einverstanden ist.
Die Einschränkung des Einverständnisses besteht beim Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung nicht: Artikel 268c ZGB ist absolut. Egal welche Interessen und Argumente die leiblichen Eltern gegen eine Bekanntgabe ihrer Identität ins Feld führen, sie zählen nicht. Das Recht des Kindes ist stärker.
Gleichgeschlechtliche Paare gleich behandeln
Fehrs Vorstoss ist auf gutem Wege. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) plant zurzeit eine Teilrevision des Adoptionsrechts, darin ist die Lockerung des Adoptionsgeheimnisses vorgesehen. Auch die Alterslimite für Adoptionseltern soll von 35 auf 30 Jahre gesenkt werden, womit die Motion der Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber (Grüne) aus dem Jahr 2009 umgesetzt würde. Der Bundesrat will zudem die Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare öffnen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Planung wird ein Vorentwurf der Teilrevision Mitte 2013 in die Vernehmlassung geschickt, wie Folco Galli, Informationschef des EJPD erklärt.
Völlig neue Lösung statt Modifikation des Systems
Monika Pfaffinger, Assistenzprofessorin für Privatrecht an der Universität Luzern und Vizepräsidentin der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF), plädiert jedoch dafür, das System Adoption völlig neu aufzusetzen. Pfaffinger hat ihre Dissertation zum Thema «Geheime und offene Formen der Adoption» verfasst.
Mit Jacqueline Fehrs Motion und der Einführung des Art. 268c ZGB zeigen sich laut Pfaffinger nämlich zwei Problemfelder innerhalb des Adoptionsgesetzes. Erstens: Werde nur an einzelnen Schrauben innerhalb des Systems der geheimen Volladoption gedreht, verziehe sich das aus Kind, Adoptiveltern und leiblichen Eltern bestehende Adoptionsdreieck in die eine oder andere Richtung. Zweitens: Vor der Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes sind keine Kontakte zwischen Kind und leiblichen Eltern vorgesehen. Dies, obwohl Studien zeigen, dass das Nichtwissen aus psychologischer Sicht grosses Leiden bei den Beteiligten verursachen könne.
Halboffene Kontakte als Alternative
Laut Pfaffinger führt die Veränderung einzelner Gesetzesartikel oft zu Ungerechtigkeiten. So sei bei der Einführung des absoluten Rechts des Adoptivkindes auf Kenntnis seiner Herkunft die Position der leiblichen Mütter nicht berücksichtigt worden. «Es gibt Fälle, in denen das Interesse der Mutter höher zu gewichten wäre als jenes des Kindes.» Beispielsweise wenn das Kind durch eine Vergewaltigung oder Inzest gezeugt worden sei. Gewisse Frauen hätten ihre Kinder abgegeben in der Gewissheit, dass sie selbst anonym bleiben.
Das heisst aber nicht, dass Pfaffinger für die Beibehaltung der geheimen Adoption ist. Sie plädiert für die halboffene Adoption als zukünftigen Lösungsansatz. Dieser sieht vor, dass Adoptiveltern und leibliche Eltern zum Beispiel in Form von Briefen Informationen austauschen, ohne dass sie ihre Identität offenlegen müssen. «Die leiblichen Eltern erfahren so, wie sich ihr Kind entwickelt, und das Kind kann so nach und nach seine leiblichen Eltern kennen lernen. Es erfährt zudem, dass es nicht wegen mangelnder Liebe weggegeben wurde», sagt Pfaffinger. Mit diesem Vorgehen werde vermieden, dass sich das Kind falsche Vorstellungen von seinen Eltern mache, diese in den Himmel hebe oder sogar verteufle. Hinzu kommt: «Das Wissen ist wichtig für die Identitätsbildung des Kindes.»
Ein Kontakt führt laut der Luzerner Assistenzprofessorin nicht - wie von Adoptiveltern oft befürchtet - zu Interventionen und Einmischung von Seiten der leiblichen Eltern. «Studien haben gezeigt, dass die leiblichen Eltern akzeptieren, dass das Kind von anderen Eltern aufgezogen wird, und keine Ansprüche auf das Kind erheben.» Diese Angst, die mitbegründend war für die geheime Adoption, sei unberechtigt.
Pfaffinger kritisiert, dass Gerichte ihren Interpretationsspielraum nicht nutzen. «Der Begriff des Kindeswohls würde das zulassen.» So würden bei Scheidungen die konkreten Umstände als Entscheidungsgrundlage in Sachen Kindeswohl dienen. Diese Einzelfallgerechtigkeit werde bei der Adoption jedoch verunmöglicht, wenn immer davon ausgegangen werde, dass die geheime Adoption zum Wohle des Kindes sei.
Luzerner Gericht nutzt Spielraum aus
Bisher folgte immerhin das Luzerner Obergericht der Argumentation Pfaffingers. Im Urteil 3H 11 14 vom 15. November 2011 bewilligte es eine Erwachsenenadoption von zwei Söhnen, die noch Kontakt zu ihrer Mutter haben. Die Söhne und auch die Mutter waren einverstanden mit der Adoption.
Für die Beibehaltung des Adoptionsgeheimnisses argumentiert Thomas Geiser, Professor für Privat- und Handelsrecht an der Universität St. Gallen: «Die Beziehung zwischen Adoptionseltern und Kind darf nicht durch die leiblichen Eltern gestört werden. Nicht die genetische Abstammung, sondern die soziale Elternschaft und damit das soziopsychologische Verhältnis sind entscheidend.» Er steht der Motion Fehr deshalb kritisch gegenüber: «Der Vorstoss passt in die Logik der Biologisierung des Kindesverhältnisses. Dabei geht es nur noch um die Frage: Woher kommen meine Gene?»
Für das Anliegen von Jacqueline Fehrs Vorstoss zieht Geiser eine Sonderlösung für jene Frauen in Betracht, denen man die Kinder gegen ihren Willen wegnahm. Damit könne man die an ihnen begangene Ungerechtigkeit wiedergutmachen. «Deshalb aber das Adoptionsgesetz zu ändern, halte ich nicht für notwendig.» In der Praxis zeigt sich jedoch immer stärker, dass das gesetzlich verordnete Schweigen an Bedeutung verliert und die Motion Fehr den Zeitgeist trifft.
Fachstelle hilft leiblichen Eltern bei der Suche
Die Schweizerische Fachstelle für Adoption vertritt die Haltung, dass auch die leiblichen Eltern eines zur Adoption freigegebenen Kindes das Recht erhalten sollten, mit dem Kind in Kontakt zu kommen - sofern dieses einverstanden ist. «Wir suchen schon seit vielen Jahren im Auftrag von leiblichen Müttern und Vätern nach den zur Adoption freigegebenen Kindern und begleiten die Kontaktherstellung, sofern die Adoptierten damit einverstanden sind», sagt die Psychologin Veronika Weiss, fachliche Leiterin der Hauptstelle Zürich der Fachstelle.
Auch der Schweizerische Adoptiveltern-Verein (SAEV) vertritt die Auffassung, dass die nur einseitige Möglichkeit Kind-sucht-leibliche-Eltern lebensfern sei, wie der Co-Präsident Christian Wyler sagt. «Eine unstete Lebensgeschichte lässt mehr als einer beteiligten Seite die Möglichkeit, einen Faden zu gegebener Zeit wieder aufzunehmen.»