1. Grundlagen
Die Rechtsform der Aktiengesellschaft (AG) kennt eine grosse Spannweite, von der Briefkastengesellschaft bis zum Grosskonzern. Sie kennt aber auch eine lange und auch sehr bewegte Geschichte, die man konzeptionell bereits mit den römischen Publikanen (Staatspachtgesellschaften, Zöllner und Sünder in der Bibel) beginnen lassen kann. Später spielten vor allem die Kolonialgesellschaften («East India Company», «Vereenigde Oostindische Compagnie», «Hudson Bay Company», «DDG Hansa») eine faszinierende politisch-militärische Rolle der kolonialen Beherrschung und Bereicherung und in der Industrialisierung der Gründerzeit war die AG als «Kapitalpumpe» Motor vor allem für Eisenbahnbau und Bankengründungen. Für das Recht waren aber auch Spekulation (Agiotage) und Anlagebetrug (Blue Sky Laws) schon früher und nicht nur heute (Wirecard, Greensill) immer auch Anlass zu Besorgnis und zur Suche nach Schutzkonzepten. Die «Company» ist nicht nur eine juristische Erfindung, sondern geradezu eine revolutionäre Idee.1
Rund um die AG rankt sich auch immer notwendige «Theorie»; die «Corporation» ist dynamisch (Peter F. Drucker). Im Gebäude der juristischen Personen (ein Personalisierungskonzept, das auf eine lange Entwicklung zurückblickt) ist die AG als «körperschaftlich organisierte Personenverbindung» und «Gesellschaft» zu kategorisieren (Art. 52 Abs. 1, Art. 59 Abs. 2 ZGB).2 Die relevanten Personen sind hier die Aktionäre; sie tragen mit ihren Anteilen das Risiko und daher wird ihnen auch die Leitungsanwartschaft (GV, VR) zugesprochen. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass der «shareholder value» (Aktienkurs) lange als Zielgrösse betrachtet wurde. Diese Basislegung befindet sich aber in einem gewissen Erschütterungszustand.
Dabei geht es jedoch nicht nur um Mitbestimmung, wie sie in Deutschland und auch in Teilen der übrigen EU gepflegt wird und auch bei uns einmal durch eine Initiative gefordert wurde.3 Es geht auch nicht allein um den schillernden Begriff der Corporate Governance, der dank seiner Unklarheit solche Erfolge feiert, auch nicht um Berichterstattung zu ESG (Environmental, Social, Governance), trotz der Bedeutung solcher Anliegen, und auch nicht um all die übrigen Schlagworte von «stewardship» (Verantwortung) bis zu Denken über «purpose» (Zweck). Es wird nämlich an den organisatorischen Fundamenten gerührt.
Es geht hier darum, dass heute eine breite Diskussion darüber stattfindet, ob die Orientierung auf Shareholder (Aktionäre) nicht einem breiteren Denken ab Stakeholder (Interessengruppen) weichen sollte.4 Jedenfalls spricht die OECD schon länger von den Stakeholdern. Und auch die Europäische Kommission hat eine Umfrage durchgeführt, ob nicht eine entsprechende Öffnung angezeigt wäre (Sustainable Corporate Governance Initiative, Public Consultation, European Commission). Selbst der amerikanische Business Round Table meint, eine solche Entwicklung bahne sich an.5 Klaus Schwab, der Gründer des WEF, propagiert in seinem neuen Buch offen (schon im Titel) einen «Stakeholder Capitalism». Wie dies legislatorisch auszumünzen wäre, ist noch gänzlich offen, doch dürfte dabei der Begriff des Unternehmens als «Organisation aus persönlichen Kräften und sachlichen Mitteln» (die «Anstalt» im öffentlichen Recht und auch in Art. 52 Abs. 1 ZGB) in den Vordergrund rücken.
Die Aktienrechtsreform 2020 ist jedenfalls noch ganz dem Shareholder-Ansatz verpflichtet. Mit der Konzernverantwortungsinitiative rollte aber eine Moralisierungswelle heran, die ihre Folgen auch in der Endphase der Aktienrechtsreform zeigte.
Das Aktienrecht kann nicht mehr isoliert gesehen werden. Als wichtigste Ergänzung betrachte ich den Erlass des Börsengesetzes (BEHG), das jetzt durch die Regeln des FinfraG6 ersetzt wurde (Offenlegungs- und Übernahmerecht, Art. 120 ff.) und die damit verbundenen Normen zu Börse und UEK, einschliesslich der Verpönung von Insiderhandeln und Marktmanipulation (Art. 142 f.). Man darf hier mit Fug vom Börsengesellschaftsrecht sprechen und die Einheit des Aktienrechts als Fata Morgana sehen. Dann spielt natürlich die Finanzmarktgesetzgebung, die organisatorisch sichtbar aktienrechtsorientiert ist (BankG,7 KAG,8 FINIG9) eine Rolle, mit vielen Spezialausprägungen. Das überaus wichtige Rechnungslegungsrecht10 wurde separat erledigt (nebst der Revisionsaufsicht im RAG)11 und dort finden sich jetzt auch die Normen aus dem indirekten Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative (6. und 7. Abschnitt, Art. 964bis ff. nebst VO). Von grosser Bedeutung sind auch das FusG12 und das IPRG13 zur Bestimmung der Nationalität der Gesellschaften und eben auch ihrer Konzerntöchter. Nicht zu vergessen ist die Revision des Handelsregisterrechtes (in Kraft 2021), wo zusammenfassend von «Rechtseinheiten» die Rede ist (Art. 927 Abs. 1). Anzumerken ist hier, dass die Handelsregistersperre in Folge privater Einsprache entfällt (altArt. 162 HRegV),14 was von praktischer Bedeutung ist; es ist jetzt eine vorsorgliche Massnahme nach der ZPO15 zu beantragen (Art. 262 lit. c). Zu erwähnen ist auch das SchKG,16 denn bei finanziellen Schwierigkeiten geht die Herrschaft auf die Gläubiger über. Aber auch Sanierungen sollten erleichtert werden.17 Auf steuerliche Belange ist hier nicht einzugehen.
2. Reform von 2020
Die Grundlagen unseres Aktienrechts im OR,18 eigentlich der 5. Teil des ZGB, fussen immer noch auf der Revision von 1936. Seither hat sich aber eine ganze Revisionsgeschichte aufgebaut. Sie ist zudem verworren.19
Als Beginn kann man ein als geheim eingestuftes Gutachten von Georg Gautschi (1966)20 setzen, um das sich lange viel Kolportage rankte. Es folgten eher unglückliche Expertenkommissionen (Tschopp, von Greyerz), dann Zwischenrevisionen, besonders 1991, als Bundesrat Furgler noch die Einheit des Aktienrechts aufrechterhalten wollte und schliesslich ein teilweise mit der Abzockerinitiative zusammenhängendes «Geschiebe», das in die «grosse» Aktienrechtsreform vom 19. Juni 2020 mündete (einschliesslich der Umsetzung der VegüV).21 Das Inkrafttreten ist für 2023 geplant. Markante Änderungen sind auch im Bereich von Art. 622 OR (Aktienarten) zu verzeichnen, da erstens Inhaberaktien international (Gafi) als geldwäschereiverdächtig eingestuft wurden und eingeschränkt (auf Bucheffekten oder bei Börsenkotierung) werden sollten (in Kraft seit 2019/1. Februar 2021). Dann wurde hier der Kreis möglicher Ausgestaltung um Registerwertrechte in Abfolge der Gesetzgebung zur Digitalisierung (und DLT-Technik) vom 25. September 2020 erweitert (in Kraft seit 1. Februar 2021, einschliesslich Aussonderungsrecht nach dem neuen Art. 242a SchKG).
2.1 Gründung, Kapital
Ein stimmiger Gesamtüberblick ist nicht einfach, weil die Reformanliegen heterogen und zeitgeschichtet waren. Sicherlich gibt es aber auch unnötige neue Normen, wie etwa: «Aktionär ist, wer mit mindestens einer Aktie an der Gesellschaft beteiligt ist» (Art. 620 Abs. 3). Sie tritt übrigens anstelle der früheren Norm, die feststellte, dass die AG auch nicht wirtschaftliche Zwecke verfolgen dürfe; die Botschaft sagt, dass aus der Streichung keine materielle Änderung resultiere.22
So gehen wir am besten durch die Vorlage durch, sozusagen von der Wiege (Gründung) bis zur Bahre (Auflösung und Liquidation). Es wird nur auf Änderungen eingegangen, für Einzelheiten ist der Text anzusehen.
Das notwendige feste Aktienkapital bleibt bei mindestens 100 000 Franken, kann aber neu auch aus ausländischer Währung bestehen. Es bleibt auch bei festem Grundkapital und Nennwertaktien, wobei der Nennwert nur noch «grösser als null» sein muss (Art. 621).
Die Sachübernahmegründung entfällt und so entfallen auch die damit verbundenen Schwierigkeiten (Art. 629). Sacheinlagen zur Kapitalaufbringung werden schärfer geregelt. Sie müssen bilanzierbar sein, ins Eigentum der Gesellschaft übergehen und verwertbar sein (Art. 634). Die Liberierung ist auch auf dem Verrechnungsweg möglich, wobei hier eine besonders von Peter Böckli ablehnend gepflegte Streitfrage geklärt wird, nämlich, dass die Verrechnung auch als Deckung gilt, «wenn die Forderung nicht mehr durch Aktiven gedeckt ist» (Art. 634a Abs. 2). Verrechnungsliberierung kann damit deutlich Sanierungszwecken dienen.
Es wird schon für den Statuteninhalt viel Wert auf Transparenz in Bezug auf Vergütungsfragen gelegt (Art. 626); ansonsten werden die Vorschriften zum Statuteninhalt eher entlastet (es ist dann aber die HRegV zu beachten).
Änderungen ergeben sich im Kapitalbereich. Der Randtitel zu Artikel 650 Erhöhung und Herabsetzung des Grundkapitals wird ersetzt und es wird die ordentliche Kapitalerhöhung, die Schaffung von bedingtem Kapital und die Kapitalherabsetzung geregelt (Art. 653j ff.), während das genehmigte (autorisierte) Kapital in das neuartige und innovative Instrument des Kapitalbands –gleichzeitige Autorisierung zur Erhöhung und Herabsetzung – integriert wird (Art. 653s ff.; GV-Beschluss für fünf Jahre, gestaltungsfähig, max. aber je 50 Prozent nach oben oder unten). Die Idee dazu geht auf Hans Caspar von der Crone zurück.
Im Bereich der Partizipationsscheine (PS) wird Raum geschaffen. Kotierte PS dürfen bis zum Zehnfachen des Aktienkapitals geschaffen werden (Art. 656b).
Eigene Aktien sind in Zukunft als Minusposten direkt beim Eigenkapital auszuweisen (Art. 659a Abs. 4). Bei Konzernaktien gilt aber nach wie vor die Reservepflicht (Art. 659b).
Die Reservevorschriften bleiben in etwa gleich, doch wird ausser Zweifel gestellt, dass eine Rückzahlung von Beträgen erlaubt ist, die 50 Prozent des Aktienkapitals übersteigen (Art. 671 Abs. 2). Hier wird allerdings die Ausnahme gestrichen, dass eine frühere Verwendung zulässig war für Massnahmen, «die geeignet sind, in Zeiten schlechten Geschäftsganges das Unternehmen durchzuhalten, der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken oder ihre Folgen zu mindern» (Art. 671 Abs. 3 aOR). Bezüglich der freiwilligen Gewinnreserven ist auch anzumerken, dass es bisher hiess, solche seien auf statutarischer Basis «zur Gründung und Unterstützung von Wohlfahrtseinrichtungen für Arbeitnehmer» zulässig, während es neu heisst, sie seien zulässig, «wenn das Gedeihen des Unternehmens unter Berücksichtigung der Interessen aller Aktionäre dies rechtfertige (Art. 673). Das sind Shareholder-value-Manifestationen.
Neu sind auf der Grundlage eines geprüften Zwischenabschlusses Zwischendividenden zulässig (Art. 675a).
Die Rückerstattungspflicht von Art. 678 OR wird verschärft, indem der «ungerechtfertigte Bezug» genügt und keine Bösgläubigkeit mehr erforderlich ist. Zur Begründung der Rückerstattungspflicht genügt ferner ein Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, es braucht kein offensichtliches Missverhältnis zur wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft mehr (Art. 678). Die ordentliche Verjährungsfrist beträgt hier drei Jahre (Art. 678a).
2.2 Mitwirkungsrechte
Es ist neu sicherzustellen, dass ein Gesuch um Eintrag ins Aktienbuch auf elektronischem Weg gestellt werden kann (Art. 686 Abs. 2bis).
Der Aktionär kann seine Mitwirkungsrechte selbst oder durch einen Vertreter seiner Wahl, jedenfalls durch einen anderen Aktionär, ausüben lassen (Art. 689b, 689d Abs. 1). Bei kotierten Gesellschaften sind die Organstimmrechtsvertretung und die Depotstimmrechtsvertretung untersagt. Es ist ein unabhängiger Stimmrechtsvertreter durch die GV zu wählen (für den die Unabhängigkeitsanforderungen eines ordentlichen Revisors gelten; Art. 689b und c). Er hat die von den Aktionären erteilten Weisungen bis zur GV vertraulich zu halten, darf aber der Gesellschaft nicht früher als drei Werktage vor der GV eine allgemeine Auskunft erteilen, die er auch der GV offenzulegen hat (Art. 689c Abs. 5).
Die Aktionärsrechte sollten gestärkt werden. Das Auskunftsrecht ist bei börsenkotierten Gesellschaften an der Generalversammlung auszuüben. Bei den übrigen Gesellschaften können zehn Prozent der Aktionäre jederzeit ein schriftliches Begehren stellen und die Auskunft ist innert vier Monaten zu erteilen. Fünf Prozent der Aktionäre können ein Einsichtsrecht geltend machen, dem innert vier Monaten stattzugeben ist. Die Aktionäre können keine Kopien verlangen, sondern nur «Notizen machen» (Art. 697a Abs. 2). Werden Einsicht oder Auskunft verweigert oder verunmöglicht, so ist innert 30 Tagen an den Richter zu gelangen. Wurden die Rechte ausgeübt, so kann jeder Aktionär der Generalversammlung die Durchführung einer Sonderuntersuchung beantragen (Art. 697c; nicht mehr Sonder-«Prüfung»). Lehnt die GV das Begehren ab, so können bei kotierten Gesellschaften fünf Prozent der Aktionäre, bei den übrigen zehn Prozent, beim Gericht die Durchführung einer Sonderuntersuchung beantragen. Diese Sonderuntersuchung durch Sachverständige ist mit den bisherigen Bereinigungskautelen zur Wahrung des Geschäftsgeheimnisses versehen. Es ist sehr fraglich, ob das vielgepriesene und breit beschriebene Prozedere sich so zum Leben erwecken lässt. Bisher war es ein blosser Papiertiger. Neu ist die formelle Klarstellung, dass gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten durch ein statutarisch vorgesehenes Schiedsgericht behandelt werden können (Art. 697n); abweichende Statutenanordnung vorbehalten, «bindet die Schiedsklausel die Gesellschaft, die Organe der Gesellschaft, die Mitglieder der Organe und die Aktionäre» (Art. 697n Abs. 1). Anwendbar sind die Bestimmungen der ZPO über interne Schiedsgerichte und nicht das 12. Kapitel des IPRG (Art. 697n Abs. 2).
2.3 Generalversammlung
Bei den unübertragbaren Kompetenzen der Generalversammlung (Art. 698 Abs. 2) werden die Ziffern 5–9 neu gefasst. Dabei ist die Dekotierung der Beteiligungspapiere eingefügt worden, bisher eine Kompetenz des Verwaltungsrats (Art. 698 Abs. 2 Ziffer 8). Das ist ein ganz wesentliches Schutzelement für die Aktionäre. Im Katalog findet sich neu auch die formelle Kompetenz, über die Rückzahlung der gesetzlichen Kapitalreserve zu entscheiden (Ziffer 6).
In einem neuen Absatz 3 werden die weiteren Wahlkompetenzen bei kotierten Gesellschaften zusammengestellt (Präsident, Mitglieder Vergütungsausschuss, unabhängiger Stimmrechtsvertreter) sowie die Abstimmung über die Vergütungen von Verwaltungsrat, Generalversammlung und Beirat angefügt. Die Wahlen erfolgen bei kotierten Gesellschaften jeweils auf ein Jahr (Art. 710; bei den übrigen Gesellschaften kann eine Amtsdauer von drei Jahren vorgesehen werden).
Die Einberufung einer Generalversammlung können bei kotierten Gesellschaften 5 Prozent der Aktionäre verlangen, sonst 10 Prozent (Art. 699 Abs. 3); für Traktandierungsbegehren ist die Minderheitenschwelle bei kotierten Gesellschaften bei 0,5 Prozent, sonst bei 5 Prozent (Art. 699b Abs. 1). Dies gilt auch für ein vor der Generalversammlung geltend gemachtes Antragsrecht; an der GV kann nach wie vor jeder Aktionär Anträge im Rahmen der Verhandlungsgegenstände stellen (Art. 699b Abs. 2 und 5).
Bei der Universalversammlung (Anwesenheit sämtlicher Aktionäre) wurde eingefügt, dass ohne Einhaltung der Vorschriften für die Einberufung auch Beschlüsse auf schriftlichem Weg auf Papier oder in elektronischer Form erfolgen können, sofern nicht ein Aktionär die mündliche Beratung verlangt (Art. 701 Abs. 3).
Den Tagungsort der Generalversammlung hat der Verwaltungsrat mit sachlichen Überlegungen, selbst im Ausland, festzulegen, eine Durchführung an mehreren Orten ist möglich (Art. 701a und b). Den Aktionären ist eine Teilnahme durch elektronische Mittel zu sichern (Art. 701a). Es ist sogar eine virtuelle Generalversamlung durch elektronische Mittel erlaubt (Art. 701d). Dabei ist aber eine einwandfreie Übertragung, verbunden mit elektronischen Teilnahmemöglichkeiten vorzusehen (Art. 701e).
Der Katalog der «wichtigen Beschlüsse», die ein Mehr von mindestens zwei Dritteln der vertretenen Stimmen und die Mehrheit der vertretenen Aktiennennwerte auf sich vereinigen müssen, ist wesentlich erweitert worden. Zu erwähnen sind etwa die Dekotierung und die Einführung einer Schiedsklausel (Ziff. 12 und 14).
2.4 Verwaltungsrat
Der Verwaltungsrat fasst seine Beschlüsse an einem Tagungsort oder auch auf dem Zirkularweg; neu ist auch die Verwendung elektronischer Mittel zulässig, und zwar in sinngemässer Anwendung der Art. 701c bis 701e.
Bei der Übertragung der Geschäftsführung heisst es neu, dass die Vermögensverwaltung auch juristischen Personen übertragen werden kann (Art. 716b Abs. 2). Verwaltungsräte und Geschäftsleitungsmitglieder haben über Interessenkonflikte unverzüglich und vollständig zu informieren. Der Verwaltungsrat ergreift die notwendigen Massnahmen (Art. 717a).
Im Bereich von Art. 725 wird die Überwachung der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft zu einer der wesentlichen Pflichten des Verwaltungsrats. Er hat die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, allenfalls eine Sanierung einzuleiten (Art. 725).
Die Bestimmungen betreffend Pflichten bei hälftigem Kapitalverlust bleiben in etwa erhalten. Bei einer Überschuldung ist nach der Erstellung eines Abschlusses zu Fortführungs- und Veräusserungswerten bei einer bleibenden Überschuldungsgefahr der Richter zu benachrichtigen, sofern keine entsprechenden Rangrücktritte von Gläubigern erfolgen (Art. 725b). Besteht begründete Aussicht, dass die Überschuldung spätestens nach 90 Tagen behoben werden kann, so darf zugewartet werden. Der Verwaltungsrat befindet sich da aber erheblich im Risikobereich.
2.5 Vergütungen
Die Revision setzt die im Anschluss an die erfolgreiche Minder-Initiative (Abzockerinitiative) durch den Bundesrat erlassene Verordnung (VegüV) um (4. Abschnitt; Art. 732 ff.). Diese Bestimmungen umfassen insbesondere den Vergütungsausschuss (einzeln zu wählende Verwaltungsratsmitglieder), den Vergütungsbericht und die Abstimmungen der Generalversammlung.
Gegen die Absichten des Bundesrats, die Spielregeln im Bereich der prospektiven Festlegung zukünftiger Vergütungen zu ändern, erwuchs erheblicher Widerstand. Die Praxis hat hier zwar ein Vorgehen entwickelt, das nicht zu erwarten war. Die Sache ist jetzt aber klar und es wird angeordnet: «Wird prospektiv über variable Vergütungen abgestimmt, so muss der Generalversammlung der Vergütungsbericht zur Konsultativabstimmung vorgelegt werden» (Art. 735 Abs. 3 Ziffer 4). Damit ist die Konsultativabstimmung «legalisiert», auch wenn sie nur Zeichen in Bezug auf die endgültige Festlegung setzen kann.
In die Bestimmung zu den Vergütungen wurden (wohl aus Verlegenheit) auch die Bestimmungen zur Geschlechtervertretung eingefügt (Art. 734f). Unter der Androhung von «comply or explain» wird hier eine Vertretung von 30 Prozent jeden Geschlechts im Verwaltungsrat und von 20 Prozent in der Geschäftsleitung verlangt. Hier besteht aber eine erhebliche Übergangsfrist (zehn Jahre).
2.6 Klagefristen
Das Klagerecht der einem Entlastungsbeschluss nicht zustimmenden Aktionäre erlischt ein Jahr nach dem Beschluss (Art. 758 Abs. 2, bisher sechs Monate). Bei Verantwortlichkeitsklagen verjährt der Anspruch relativ neu nach drei Jahren (Art. 760 Abs. 1, bisher fünf Jahre); die zehnjährige absolute Verjährungsfrist bleibt.
2.7 Berichterstattung
Die als indirekter Gegenvorschlag gegen die Konzernverantwortungsinitiative konzipierten Transparenz- und Berichterstattungspflichten wurden in den 32. Titel zur kaufmännischen Buchführung eingefügt.
Die Berichterstattung über nichtfinanzielle Belange möchte den Geschäftsverlauf und das Geschäftsergebnis im Lichte der Rechenschaft über Umweltbelange, insbesondere die CO2-Ziele, über Sozialbelange, Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung der Korruption stellen (Art. 964ter). Es gehört auch eine Beschreibung der wesentlichen Risiken dazu.
Der siebente Abschnitt beschäftigt sich mit den Sorgfaltspflichten und der Transparenz bezüglich Mineralien und Metallen aus Konfliktgebieten und Kinderarbeit. Es fallen darunter (gemäss der Anknüpfungs-Diktion der Europäischen Union) «Unternehmen, die ihren Sitz, die Hauptverwaltung oder die Hauptniederlassung in der Schweiz haben» (Art. 964quinquies). Relevante Metalle sind Zinn, Tantal, Wolfram und Gold.
Die Lieferketten sind sorgfaltsmässig nicht einfach zu überblicken. Der Bundesrat kann daher im Bereich der Kinderarbeit Erleichterungen für kleinere und mittlere Unternehmen vorsehen. Ebenso sind Erleichterungen bei der Befolgung internationaler Standards möglich.
Es ist hier der Erlass der ausführlicheren Verordnungstexte abzuwarten, die im Entwurf bereits vorliegen.23
3. Stellungnahme
Abgesehen von den Resultaten der zwischenzeitlich gestellten und erledigten Volksbegehren (Vergütung, Konzernverantwortung) darf man sich fragen, ob das übrige Resultat die Länge der Arbeiten, den gewaltigen Eifer und den Aufwand wirklich rechtfertigen. Fast 60 Jahre wurde immer ein wenig revidiert. Bemerkenswert ist aber gewiss die separate Erledigung des Buchführungs- und Rechnungslegungsrechts, der abgestuften Revisionsanforderungen und (unter US-amerikanischem «Nudging») der Revisionsaufsicht sowie der Handelsregisterbelange. Bemerkenswert sind auch die Bemühungen zum Einsatz elektronischer Mittel.
Es fragt sich aber, ob für übrige wesentliche Punkte nicht eine konzise Teilrevision genügt hätte. Als solche Punkte sind zu erwähnen: Die Regelung der Verwendung elektronischer Mittel (womit während Covid geübt werden konnte) und die Interimsdividende, ferner die Gesellschaftsvertretung und sodann die Sorge um die Liquidität und das Vorgehen bei finanziellen Schwierigkeiten.
Auch im Licht der Angleichung des Gesellschaftsrechts in der EU steht die Schweiz gut da, und das nicht erst jetzt.
Verschiedenes hätte wohl der Rechtsprechung überlassen werden können, so die Liberierung durch Verrechnung oder die Zulässigkeit einer statutarischen Schiedsklausel, vielleicht sogar (im Anschluss an die deutsche Macrotron-Rechtsprechung)24 die Zuweisung der Dekotierungsentscheide an die GV.
1 John Micklethwait / Adrian Wooldridge, The Company – A Short History Of A Revolutionary Idea, New York 2005.
2 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10.12.1907.
3 Volksinitiative «Für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer», siehe www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis102.html, siehe auch BBl 1973 II 237.
4 Hierzu abwehrend Hans Caspar von der Crone, «Stakeholder im Aktienrecht», in: ZSR 122/2003.
5 «Business Roundtable Redefines the Purpose of a Corporation to Promote ‹An Economy That Serves All Americans›», 19.8.2019, www.businessroundtable.org.
6 Bundesgesetz über die Finanzmarktinfrastrukturen und das Marktverhalten im Effekten- und Derivatehandel (Finanzmarktinfrastrukturgesetz) vom 19.6.2015.
7 Bundesgesetz über die Banken und Sparkassen (Bankengesetz) vom 8.11.1934.
8 Bundesgesetz über die kollektiven Kapitalanlagen (Kollektivanlagengesetz) vom 23.6.2006.
9 Bundesgesetz über die Finanzinstitute (Finanzinstitutsgesetz) vom 15.6.2018.
10 Vgl. 32. Titel des Obligationenrechts: Kaufmännische Buchführung und Rechnungslegung, Art. 957 ff. OR.
11 Bundesgesetz über die Zulassung und Beaufsichtigung der Revisorinnen und Revisoren (Revisionsaufsichtsgesetz) vom 16.12.2005.
12 Bundesgesetz über Fusion, Spaltung, Umwandlung und Vermögensübertragung (Fusionsgesetz) vom 3.10.2003.
13 Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht vom 18.12.1987.
14 Handelsregisterverordnung vom 17.10.2007.
15 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19.12.2008.
16 Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11.4.1889.
17 Siehe hierzu das Nachlassvertragsrecht, Art. 314 ff. SchKG.
18 Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) vom 30.3.1991.
19 Vgl. dazu Peter Nobel, Berner Kommentar, Das Aktienrecht: Systematische Darstellung, § 4 Rz. 3 ff.; Jean-Nicolas Druey / Eva Druey / Lukas Glanzmann, Gesellschafts- und Handelsrecht, 12. Aufl., 2021, §7 Rz. 5 ff.; Peter Forstmoser / Marcel Küchler, «Die Reform 2020 des schweizerischen Aktienrechts», in: ZSR 2020, S. 393 ff.
20 Georg Gautschi, Bericht und Vorschläge zu einer Revision des schweizerischen Aktienrechts von 1936, Zürich 1966.
21 Verordnung gegen übermässige Vergütungen bei börsenkotierten Aktiengesellschaften vom 20.11.2013.
22 Botschaft zur Änderung des Obligationenrechts, BBl 2017 399, S. 480.
23 Karl Hofstetter, «Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative und Unternehmenshaftung», in: SJZ 117/2021, S. 571 ff.
24 BGH II ZR 133/01.