1. Haftung
1.1 SVG
1.1.1 Ausschluss der Halterhaftung
Im Urteil 4A_140/2020 ging es um eine Kollision zwischen einem Autofahrer und einem Fussgänger. Der Fussgänger überquerte die Strasse ausserhalb des Zebrastreifens, jedoch weniger als fünfzig Meter davon entfernt. Zeitgleich fuhr ein Auto mit 10 bis 20 km/h aus einem Kreisverkehr heraus und kollidierte mit dem Fussgänger, was bei Letzterem zu schweren Verletzungen führte. Es war dunkel und die Strasse war nass (E. 1). Der Fussgänger klagte gegen die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung.
Alle Gerichte wiesen die Klage ab: Der Autofahrer habe sich korrekt verhalten (E. 5). Der Fussgänger war vortrittsbelastet. Es habe keine objektiven Anhaltspunkte gegeben, welche ihm die Annahme erlaubten, der Autofahrer habe ihn gesehen, würde anhalten und ihn die Fahrbahn passieren lassen. Dennoch überquerte er die Fahrbahn, ohne dem Verkehr genügend Aufmerksamkeit zu schenken, was ein grobes Verschulden i.S.v. Art. 59 Abs. 1 SVG darstelle und zur vollständigen Haftpflichtbefreiung führe (E. 6).
1.1.2 Natürliche Kausalität bei HWS-Distorsionstrauma
In 4A_558/2020 beurteilte das Bundesgericht die natürliche Kausalität zwischen einem Auffahrunfall mit 7 bis 13 km/h mit erlittenem HWS-Distorsionstrauma und späteren psychischen Beschwerden. Der Geschädigte hatte mit der Unfallversicherung das Ende der Leistungen vergleichsweise terminiert. Die IV sprach ihm sodann eine halbe IV-Rente zu. Daraufhin klagte der Geschädigte gegen die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung auf 1,3 Millionen Franken für Erwerbsausfall, Rentenschaden, Haushaltschaden, Genugtuung und vorprozessuale Kosten. Das Gericht erster Instanz beschränkte das Verfahren auf den streitigen natürlichen Kausalzusammenhang und holte ein polydisziplinäres medizinisches Gutachten ein. Dieses attestierte eine somatoforme Schmerzstörung und eine mittelschwere Depression mit somatischem Syndrom und bejahte den natürlichen Kausalzusammenhang auch für erst einige Jahre nach dem Unfall psychiatrisch behandelte Beschwerden. Nichts daran änderten möglicherweise vorbestehende Beschwerden an der Wirbelsäule.
Alle Gerichte bejahten den natürlichen Kausalzusammenhang. Das Bundesgericht erinnert an die Formel «conditio sine qua non»: Es genüge zum Nachweis der natürlichen Kausalität, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität beeinträchtigt, der Unfall folglich nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretenen gesundheitlichen Störungen entfielen (E. 7.1). Eine vorbestehende Gesundheitsschädigung (konstitutionelle Prädisposition) werde im Rahmen der Schadensberechnung nach Art. 42 OR oder der Herabsetzungsgründe nach Art. 44 OR berücksichtigt, wenn diese zur Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens beigetragen haben. Mit Verweis auf 4A_65/2009 liess das Bundesgericht die Frage offen, ob der natürliche Kausalzusammenhang analog UVG auch im Haftpflichtrecht entfallen könne, wenn der Beklagte dessen Wegfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachweise (E. 7.2). Hier habe die Beklagte den Wegfall des natürlichen Kausalzusammenhangs jedenfalls nicht nachgewiesen. Sondern vielmehr habe der Gutachter verneint, dass die vorbestehenden degenerativen Beeinträchtigungen alleine zu den diagnostizierten psychischen Störungen geführt hätten. Damit sei ein psychiatrischer status quo sine vel ante zu verneinen (E. 7.3). Aus der Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs liesse sich der adäquate Kausalzusammenhang allerdings nicht automatisch bejahen, sondern dieser sei separat zu prüfen (E. 8.).
1.2 Auftragsrecht
1.2.1 Anwaltshaftung
1.2.1.1 Unrechtmässig bezogene Vorsorgegelder
In 4A_2/2020 ging es um die Frage, ob ein Scheidungsanwalt für vom Prozessgegner unrechtmässig bezogene Vorsorgegelder hafte: Der Scheidungsanwalt hatte die Ehefrau vertreten. Deren Ehemann hatte ihre Unterschrift gefälscht und so Vorsorgeguthaben von 466 000 Franken unrechtmässig bar bezogen. Im späteren Scheidungsverfahren behauptete er, er habe keine Ersparnisse für das Alter. Die anwaltlich vertretene Ehefrau unterzeichnete ein Scheidungskonvenium. Später erfuhr sie vom Altersgeld, das der Ex-Mann rechtswidrig bar bezogen hatte. Nach ihrem Tod klagten ihre Kinder gegen den Ex-Scheidungsanwalt der Mutter und warfen ihm Sorgfaltspflichtverletzungen vor.
Alle Gerichtsinstanzen wiesen die Klage ab. Nach der kantonalgerichtlichen Auffassung müsse dem Anwalt zwar eine Sorgfaltspflichtverletzung wegen fehlender Abklärungen und ungenügender Aufklärung seiner Klientin vorgeworfen werden. Allerdings hätte die Ex-Frau auch bei korrekter Beratung und pflichtgemässem Verhalten des Anwalts nicht mehr Geld erhalten. Der hypothetische Prozessverlauf wäre kein anderer gewesen (E. 3.2). Vor Bundesgericht stand mangels hinreichender Rüge lediglich noch das angeblich unterlassene sozialversicherungsrechtliche Verfahren gegen die Vorsorgeeinrichtung zur Debatte (E. 3.3.1).
Gemäss Art. 398 Abs. 1 OR haftet der Rechtsanwalt für den Schaden, den er dem Klienten absichtlich oder fahrlässig zufügt. Bei einer Unterlassung bestimme sich der Kausalzusammenhang danach, ob der Schaden auch bei Vornahme der unterlassenen Handlung eingetreten wäre. Folglich gehe es um einen hypothetischen Kausalverlauf, für den nach den Erfahrungen des Lebens und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge eine überwiegende Wahrscheinlichkeit sprechen müsse. Dabei seien die Feststellungen des Sachrichters im Zusammenhang mit Unterlassungen als Teil des natürlichen Kausalzusammenhangs für das Bundesgericht bindend und einer freien Überprüfung grundsätzlich nicht zugänglich (E. 3.3.3).
Die Prozessaussichten eines sozialversicherungsrechtlichen Verfahrens gegen die Vorsorgeeinrichtung hingen von der Beantwortung der Frage ab, ob diese bei der vorgenommenen Barauszahlung eine Sorgfaltspflichtverletzung zu vertreten hat. Dabei bleibt die Beurteilung des mutmasslichen Ausgangs eine Hypothese, bei deren Überprüfung sich das Bundesgericht eine gewisse Zurückhaltung auferlege (E. 3.3.4). Die vorinstanzliche Einschätzung der Prozesschancen als unsicher respektive nicht gut sei vertretbar. Folglich könne nicht mehr davon ausgegangen werden, der Prozess gegen die Vorsorgeeinrichtung wäre mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gewonnen worden (E. 3.4.8). Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
1.2.1.2 Falsches Kausalitätsverständnis
In 4A_605/2019 ging es um eine Anwaltshaftung für einen vorgängig geführten Arzthaftungsprozess mit negativem Ausgang: Ein Patient unterzog sich einer Angiografie zwecks Abklärung einer schweren Durchblutungsstörung an der Hand. Im Verlauf der Untersuchung erlitt er einen ischämischen Schlaganfall und wurde auf die Intensivpflegestation verlegt. Auf eine systematische Thrombolysetherapie verzichtete das Spital. Seit dem Hirninfarkt ist der Patient stark behindert. In der Folge klagte der Patient, anwaltlich vertreten durch den späteren Beklagten und Beschwerdeführer, gegen die Spitalbetreiberin auf Schadenersatz und Genugtuung. Das Zivilgericht holte ein medizinisches Gutachten ein, das den Behandlungsfehler bezüglich Schlaganfalls bejahte, aber die Kausalität insofern verneinte, als ohne Behandlungsfehler ein «gutes» Resultat nicht feststehe. Der Klägeranwalt unterliess dazu die kritische Ergänzungsfrage, ob ohne Behandlungsfehler ein «besseres» Resultat überwiegend wahrscheinlich gewesen wäre. Nach einem Anwaltswechsel wiesen alle Instanzen die Arzthaftungsklage mangels Kausalität ab.
Daraufhin klagte der Patient gegen seinen ehemaligen Anwalt. Das Erstgericht befragte den früheren Gutachter, holte ein Obergutachten ein und hiess die Klage gut, was bis vor Bundesgericht geschützt wurde: Der Voranwalt habe die Kausalität falsch verstanden, was unsorgfältig sei. Denn für den Kausalitätsbegriff sei nicht massgebend, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Patient ohne Behandlungsfehler ein «gutes» Resultat hätte erreichen können, sondern mit welcher Wahrscheinlichkeit ein «besseres» als das tatsächliche zu erwarten gewesen wäre (E. 3.2). Fachwissen sei nicht erforderlich, um die Mangelhaftigkeit des Gutachtens in rechtlicher Hinsicht zu erkennen (E. 5.7). Der Voranwalt hätte mit seinen Ergänzungsfragen für die Beantwortung der juristisch entscheidenden Frage sorgen müssen, was er nicht getan habe (E. 5.9.3).
1.2.1.3 Beweislast für unsorgfältige Leistung
In 4A_353/2020 klagte der Ex-Klient gegen seine ehemalige Anwältin auf Rückerstattung des Honorars, Folgekosten und Schadenersatz. Das Bezirksgericht hiess die Klage nur teilweise gut: Die Beauftragte habe eine Sorgfaltspflichtverletzung begangen, indem sie vor Klageeinleitung die Passivlegitimation nicht geprüft habe, was zu einer Klageabweisung führte. Weil jedoch nicht sämtliche mit dieser Klage zusammenhängenden Aufwendungen für den Folgeprozess gegen die richtige Partei nutzlos gewesen seien, verneinte das Bezirksgericht eine Rückerstattung der Honorarkosten.
Diesen Entscheid stützte das Bundesgericht: Die Beweislast für die (teilweise) Unbrauchbarkeit trage der Auftraggeber. Ausserdem impliziere das Vorliegen einer Sorgfaltspflichtverletzung nicht die Unbrauchbarkeit der Leistung. Demnach hat der eine Herabsetzung des Honorars fordernde Auftraggeber nebst der Verletzung der Sorgfaltspflicht auch die (teilweise oder vollständige) Unbrauchbarkeit nachzuweisen (E. 2.1). Die Niederlage im Erstprozess (Klageabweisung mangels Passivlegitimation) impliziere keineswegs die vollständige Unbrauchbarkeit der Leistungen. Die Brauchbarkeit der Leistungen sei jeweils mit Blick auf das konkrete Ziel, in casu das Erwirken der Taggeldzahlungen der Versicherung, zu beurteilen (E. 2.4.1).
1.2.2 Keine Haftung von Lagerleiter für Schlittelunfall
Im Urteil 4A_125/2021 beurteilte das Bundesgericht die Haftung für einen Schlittelunfall: Im Jahr 2005 führte eine Cevi-Jungschar ein Schnee-Weekend durch. Dabei rutschten die Kinder auf einem luftgefüllten Gummiring («Schlauch») eine schneebedeckte Unterlage hinunter («Schläucheln»). Ein neun Jahre alter Knabe zog sich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu, als er mit einem Betonwasserschacht kollidierte. Zuvor hatte der hauptverantwortliche Leiter für das Schläucheln in der Nähe des Lagerhauses im Freigelände zwei Bahnen im Schnee ausgehoben, die auf der Seite mit einer Schneemauer vor einem Verlassen der Bahn schützten und in einen flachen Teil hinausliefen. Die Kinder wurden instruiert, auf diesen Bahnen zu schläucheln. Bei jeder Bahn waren zwei bis drei Leiter anwesend. Nachdem ein Teil der Kinder nicht mehr auf diesen Bahnen schläucheln wollte, wurden sie aufgefordert, zum Lagerhaus zurückzukehren. In der Folge begannen die Kinder unter Aufsicht von zwei Leitern, auf der vom Nachbardorf zum Lagerhaus führenden Strasse hinunterzurutschen. Wegen des geringen Gefälles erreichten sie kein hohes Tempo. Der Strassenrand hatte zudem einen 50 cm hohen Schneewall, was ein unbeabsichtigtes Hinausrutschen verunmöglichte.
Beim Hochlaufen der Strasse stieg der neunjährige Kläger auf halber Strecke über den Schneewall und folgte zwei Brüdern, die (ausserhalb der zwei Bahnen) den dortigen steilen Abhang bereits hinuntergerutscht waren. Zu diesem Zeitpunkt riefen ihm eine Hilfsleiterin und andere Kinder zu, er solle diesen Hang nicht hinunterrutschen und sich wieder auf die Strasse begeben. Gleichwohl setzte er sich auf den Schlauch und rutschte los. Er konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und kollidierte kopfvoran mit einem unterhalb des Hanges deponierten Betonwasserschacht.
Die Staatsanwaltschaft stellte eine Strafuntersuchung mangels strafrechtlich relevanter Sorgfaltspflichtverletzung gegen die Leiter ein. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht im Jahr 2006 mit dem Argument ab, von Lagerleitern können nicht verlangt werden, dass sie die Kinder stets unter unmittelbarer Kontrolle hielten.
Im Jahr 2015 klagte der Kläger zivilrechtlich auf Genugtuung gegen zwei Leiter. Alle Gerichtsinstanzen wiesen die Klage ab. Gemäss Kantonsgericht sei der Unfall darauf zurückzuführen, dass der Kläger die expliziten Anweisungen der Leiter missachtet habe. Aufgrund seines Alters habe von ihm erwartet werden dürfen, dass er sich an die Weisungen der Leiter halte. Den Beklagten könne keine unfallkausale Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden.
Das Bundesgericht schützte dieses Verdikt: Der Kläger könne keine willkürliche Beweiswürdigung aufzeigen (E. 4.1.2 und 4.4). Gemäss Vorinstanz habe die Lagerleitung explizit instruiert, wo man schläucheln dürfe. Daraus ergebe sich, dass ausserhalb der extra präparierten Bahnen ein Schläucheln nicht erlaubt war. Daran ändere nichts, dass einige Kinder zu einem späteren Zeitpunkt unter Aufsicht auf der Strasse schläucheln durften, die eher flach, ungefährlich und seitlich mit einem Schneewall begrenzt war.
Daraus habe sich keine generelle Erlaubnis ergeben, jeden beliebigen Hang hinunterzurutschen. Mehrere Personen hätten dem Kläger eindringlich zugerufen, den fraglichen Hang nicht hinunterzurutschen (E. 4.1.2 und 4.2.2). Der Unfall hätte nur verhindert werden können, wenn die Möglichkeit bestanden hätte, den Kläger physisch an einem «Ausreissen» zu hindern, was bedingt hätte, dass sich jedes Kind zu jedem Zeitpunkt in greifbarer Nähe eines Leiters aufgehalten hätte. Eine solche Überwachung wäre jedoch bei Kindern im Alter von 8 bis13 Jahren übertrieben und nicht zumutbar, weil dies nahezu eine 1:1-Betreuung voraussetzen würde (E. 4.2.3). Die Vorinstanz habe das Bundesrecht (Art. 394 und 398 Abs. 2 OR) korrekt angewandt (E. 4.3).
1.2.3 Medizinische Behandlung
1.2.3.1 Fehler eines nicht fachkundigen Osteopathen
In 6B_217/2020 beurteilte das Bundesgericht die Strafbarkeit eines Osteopathen: Die Patientin hatte sich wegen starker Verspannungen der Schulter behandeln lassen. Dabei tätigte der Osteopath unter Einsatz seines Körpergewichts schnelle und kräftige Manipulationen und Drehbewegungen im Nacken-, Schulter- und Kopfbereich. In der Folge kam es zu einem Riss einer Arterie mit Blutgerinnsel und einem Schlaganfall mit Lebensgefahr.
Die Gerichte beurteilten die Behandlung als fahrlässige schwere Körperverletzung: Der Therapeut habe keine Zwischenanamnese vorgenommen (E. 3.). Zudem habe er zwar ein belgisches Osteopathie-Zertifikat. Er sei aber bei der Osteopathie-Prüfung infolge gravierender Mängel in der Fachkompetenz dreimal durchgefallen, womit seine Behandlung ein Übernahmeverschulden sei. Die Manipulation sei natürlich kausal für die Schädigung, welche auch adäquat und höchstwahrscheinlich vermeidbar gewesen wäre, wenn gestützt auf eine Zwischenanamnese weitere Abklärungen eingeleitet und eine korrekte Behandlung eingeleitet worden wäre (E. 4).
1.2.3.2 Andere OP-Methode begründet keine Haftung
4A_432/2020 dreht sich um eine Patientin, die nach einer Handoperation eine Infektion erlitten hatte, sodass ihre Hand praktisch gebrauchsunfähig wurde. Die Operation war mit einer anderen Methode als präoperativ besprochen durchgeführt worden. Die Patientin klagte auf Schadenersatz und Genugtuung mit dem Argument, sie habe in die Operationsmethode nicht eingewilligt, womit die Operation widerrechtlich sei; der angewandten Methode hätte sie nicht zugestimmt. Die Klage wurde abgewiesen: Die Patientin sei über das Infektionsrisiko aufgeklärt worden und habe in dieses eingewilligt. Zudem sei ein höheres Infektionsrisiko bei der durchgeführten Operationsmethode nicht überwiegend wahrscheinlich. Daher sei der Wechsel der OP-Methode nicht kausal für den Schaden.
1.2.3.3 Von der Arzthaftung zur Anwaltshaftung?
In 4A_547/2019 ging es um eine Arzthaftung: Der Kläger (Patient) litt seit seiner Kindheit unter einer therapieresistenten Epilepsie. Er war zwar noch erwerbstätig, litt aber unter drei bis vier Attacken mit Bewusstlosigkeit pro Monat. Er entschied sich zu einer neurochirurgischen Operation des Gehirns an einem Kantonsspital. Nach der Operation verschwanden zwar die Epilepsieanfälle, aber er wurde wegen kognitiver Beschwerden schliesslich invalid. Er klagte aus Staatshaftung und machte geltend, bei der Operation sei die Lex Artis missachtet worden.
Zufälligerweise stiess der Kläger nach Abschluss des Behauptungsverfahrens in der wissenschaftlichen Literatur auf Hinweise, wonach ein alternatives Operationsverfahren («Gamma Knife») indiziert gewesen wäre: Dieses sei weniger invasiv und risikoärmer und hätte die Schädigung verhindert. Diese Behauptung brachte er im kantonalen Rechtsmittelverfahren als Novum ein. Das Obergericht und das Bundesgericht verneinten die Zulässigkeit dieses Novums: In einem Arzthaftungsprozess muss ein Kläger sich bei Einleitung der Klage über den Eingriff und allfällige Alternativen informieren. Diskutiert die wissenschaftliche Literatur eine alternative Operationstechnik, welche bei der Operation besprochen worden war, so kann der Kläger dies nach Abschluss des Behauptungsverfahren nicht als Novum zum Prozessgegenstand erheben, wenn er aus Zufall darauf stösst. Neue Tatsachen und Beweismittel werden bei Art. 317 ZPO nur noch berücksichtigt, wenn sie trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten (lit. b), welche Voraussetzung hier fehle:
Die so gebotene Sorgfalt ist objektiviert und nicht vom Wissensstand des Klägers abhängig. Hier ist die klägerische Unkenntnis bezüglich der Operationsalternative «Gamma Knife» zu Prozessbeginn Folge davon, dass die so definierte Sorgfalt bei der Vorbereitung des Prozessstoffes nicht aufgewendet worden ist (E. 3.2).
Bemerkung: Im Licht des vorstehenden Entscheids (Ziff. 2.1.2) stellt sich unweigerlich die Frage der Anwaltshaftung.
1.2.3.4 Arzt der fahrlässigen Tötung schuldig
Im Urteil 6B_63/2020 bestätigte das Bundesgericht einen kantonalen Schuldspruch eines Chirurgen für eine fahrlässige Tötung eines Patienten: Der beschwerdeführende Chirurg entfernte dem Patienten ein Stück des Dickdarms. Im postoperativen Verlauf klagte der Patient trotz Schmerzmittel über heftige Bauchschmerzen. In der daraufhin veranlassten Computertomographie (CT) bemerkte der Arzt nichts Auffälliges. Drei Tage später war der Patient tot. Todesursache war eine Bauchfellentzündung, zu der es infolge eines kleinen Lecks im Bereich der Darmnaht kam. Mehrere Gutachten bejahten ein ärztliches Fehlverhalten, insbesondere bestehend aus einer falschen Interpretation der CT-Bilder. Die Bundesrichter schützten das vorinstanzliche Urteil, wonach die vom Beschwerdeführer unterlassenen ärztlichen Untersuchungen für den Tod des Patienten hypothetisch kausal gewesen seien (E. 3.2.2). Für die Zurechnung des Erfolgs genüge es, wenn das pflichtwidrige Verhalten des Täters mindestens mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache des Erfolgs bilde (E. 3.4.2). Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung verletze kein Bundesrecht (E. 3.4.3).
1.2.3.5 Spitalzentren haften nach öffentlichem Recht
In 6B_1189/2020 verfügte das Bundesgericht ein Nichteintreten auf die Beschwerde: Der vorinstanzliche Entscheid könne sich nicht auf die Beurteilung allfälliger Zivilansprüche auswirken. Die geltend gemachten Ansprüche seien öffentlich-rechtlicher Natur, denn auch wenn die Regionalen Spitalzentren im Kanton Bern als privatrechtliche Aktiengesellschaften geführt werden, nehmen sie öffentliche Aufgaben wahr und begründen ihre Rechtsverhältnisse im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung mit einem öffentlich-rechtlichen Vertrag (E. 3.1).
1.3 Haftung des Grundeigentümers
Im Urteil 5A_16/2020 beurteilte das Bundesgericht die Frage der Haftung des Grundeigentümers für Schäden durch Arbeiten auf seinem Grundstück: Eine Gesellschaft kaufte Grundstücke von der Gemeinde zwecks Überbauung. Daraufhin schloss die Gesellschaft mit einem Generalunternehmen einen Vertrag zwecks Erstellung eines schlüsselfertigen Gebäudes. Vor der Unterzeichnung der Kaufurkunde begannen auf Ersuchen der Gemeinde bereits Abbruch- und Erdarbeiten. Dadurch entstanden Risse im Gebäude auf dem angrenzenden Grundstück. In der Folge musste ein Verbot des Wohnens oder Betretens des auf dem Nachbargrundstück befindlichen Grundstücks verhängt werden. Mangels endgültiger Restaurierung konnten die Mieter nicht in ihre Unterkunft zurückkehren. Zu dieem Zeitpunkt war die Gemeinde immer noch als Eigentümerin im Grundbuch des baubetroffenen Grundstücks eingetragen. Gemäss Gutachten hätte die Gemeinde vor Durchführung der Arbeiten verschiedene vorbereitende Vorsichtsmassnahmen treffen müssen. Durch Unterlassung sei es zu den Rissen und Schäden am Nachbargebäude gekommen.
Das Kantonsgericht verurteilte das Generalunternehmen zur Zahlung von Reparaturkosten an den Eigentümer des beschädigten Nachbargrundstücks. Einige Jahre später auf dessen Klage hin verpflichtete der Bezirksrichter die Gemeinde zur Bezahlung von Reparaturkosten und Schadenersatz, abzüglich allfälliger Zahlungen des Generalunternehmens.
Die Gemeinde zog das Urteil bis ans Bundesgericht weiter und rügte eine falsche Anwendung von Art. 679 ZGB, was dieses verneinte: Die Verantwortlichkeit des Grundeigentümers sei eine objektive Haftung und bestehe unabhängig von einem Verschulden des Eigentümers, sofern die Voraussetzungen des Tatbestands erfüllt seien (Überschreitung des Eigentumsrechts, Verletzung der Nachbarrechte, natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang zwischen der Überschreitung und dem Schaden [E. 5.1.1]).
Weiter führte das Bundesgericht aus, der Eigentümer hafte auch für die Handlung eines Unternehmers, der Arbeiten an seinem Gebäude ausführt. Der Kausalhaftung sei immanent, dass der Grundstückeigentümer für das Verhalten von Dritten, die sein Grundstück mit seiner Zustimmung nutzen, verantwortlich sei – es sei denn, von den dem Dritten eingeräumten Rechten gehe keine Gefahr für die Nachbarn aus (E. 5.1.2). Die adäquate Kausalität unterbreche nur ein ausserordentliches oder aussergewöhnliches Ereignis, das nicht zu erwarten war. Im vorliegenden Fall rechtfertige das Verhalten des Dritten (Bauunternehmer) eine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs nicht (E. 5.2).
1.4 Beweislast bei Geschäftsherrenhaftung
In 4A_635/2020 ging es um einen Unfall mit einem Lift: Die geschädigte Klägerin arbeitete als Reinigungskraft. Im Jahr 1998 benutzte sie dabei einen Lift (mit Baujahr und Inbetriebnahme 1993). Sie drückte den Knopf für die gewünschte Etage, verspürte einen Ruck im Lift und versuchte, diesen mit der linken Hand voraus wieder zu verlassen. Dabei klemmte die Lifttüre ihren linken Arm ein. Sie drückte den Alarmknopf, konnte den Arm aber erst nach 15 Minuten befreien, nachdem sie die Türe mit einem Besenstiel aufgedrückt hatte.
Die Quetschung des Arms verletzte einen Nerv im Ellbogen. Daraus entwickelte sie ein komplexes Schmerzsyndrom und schliesslich eine Invalidität. Die Unfallversicherung zahlte eine Rente und Integritätsentschädigung. Die Haftpflichtversicherung des Werkeigentümers zahlte für den Haushaltschaden und für Anwaltskosten 650 000 Franken. Die Geschädigte klagte gegen die Liftherstellerin auf Genugtuung. Die kantonalen Gerichte hiessen die Klage gut.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Liftherstellerin gut und verneint deren Haftung. Der Lift stamme von einer Zeit vor Inkrafttreten des Produktehaftpflichtgesetzes. Daher gelange Art. 55 OR zur Anwendung, der eine Produzentenhaftung für fehlerhafte Produkte, insbesondere für Konstruktions- und Fabrikationsmängel, vorsehe. Art. 55 OR setze für eine Produktehaftpflicht einen Fehler am Produkt voraus, auch wenn die Geschäftsherrenhaftung eine Kausalhaftung sei. Der Produktefehler sei von der Geschädigten zu beweisen. Im «Kaffeekannenfall» (BGE 133 III 81) habe das Bundesgericht bezüglich Art. 4 PrHG festgehalten, dass die geschädigte Person die Ursache des Mangels nicht zu beweisen habe; es genüge aufzuzeigen, dass das Produkt die berechtigten Sicherheitserwartungen des durchschnittlichen Konsumenten nicht erfüllt habe.
Ob diese Rechtsprechung auf Art. 55 OR zu übertragen sei, könne dahingestellt bleiben: Die Produktefehlerhaftigkeit verlange (auch) im Bereich der Geschäftsherrenhaftung, dass das Produkt einen gefährlichen Zustand schaffe und eine sicherere Konstruktion im Zeitpunkt der Inverkehrbringung möglich und zumutbar gewesen wäre (Gefahrensatz). Diesbezüglich unterscheide sich der nun vorliegende Fall vom «Schachtrahmen-Urteil» (BGE 110 II 456): Dort waren die Scha-densursache und eine «mögliche sichere Konstruktion» erstellt, womit es nur um den Exkulpa-tionsbeweis ging. Hier dagegen habe die genaue Schadenursache nicht festgestellt werden können. Es gehe daher zuerst um die Frage, ob der Anwendungsbereich von Art. 55 OR überhaupt eröffnet sei, weil ein fehlerhaftes Produkt einen Schaden verursacht beziehungsweise ein Produkt zu einem gefährlichen Zustand geführt habe, obwohl im Zeitpunkt der Inverkehrbringung eine sicherere Konstruktion möglich und zumutbar gewesen wäre. Nur weil der Lift «bei der Entstehung des Schadens eine Rolle» gespielt habe, lasse sich nicht folgern, dass der Schaden (kausal) durch einen Produktefehler verursacht worden sei. Aus dem Schadeneintritt auf die Fehlerhaftigkeit des Produkts zu schliessen, verletze Bundesrecht. Es fehle somit an einer haftungsbegründenden Voraussetzung von Art. 55 OR.
1.5 Staatshaftung wegen Strafvollzug: Frist verpasst
Im Urteil 2C_787/2020 befasste sich das Bundesgericht mit der Beschwerde einer im Jahre 1995 vom Obergericht des Kantons Zürich zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilten Mörderin. Nach der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug im Sommer 2015 stellte diese im Januar 2018 ein Staatshaftungsbegehren gegen den Kanton Zürich. Die Beschwerdeführerin machte gesundheitliche Probleme (Panikstörung, posttraumatische Belastungsstörung, paranoide Schizophrenie und emotionale instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ) aufgrund des Strafvollzugs geltend. Alle Instanzen wiesen das Begehren ab.
Unstrittig war, dass die Ablehnung des Staatshaftungsbegehrens am 21. März 2018 zugestellt und die Staatshaftungsklage beim Bezirksgericht am 22. März 2019 eingereicht wurde. Streitig war, ob damit die einjährige Frist gemäss § 24 Abs. 2 HaftG/ZH gewahrt wurde. Das Obergericht qualifizierte die einjährige Frist in § 24 Abs. 2 HaftG/ZH als materiell-rechtliche Verjährungsfrist unter Beiziehung der Bestimmungen des Obligationenrechts zur Fristberechnung, was § 29 HaftG/ZH ausdrücklich vorsieht. Dadurch erfolgte die Klageeinreichung verspätet. Das Bundesgericht beurteilte diese Anwendung kantonalen Rechts als nicht willkürlich.
1.6 Arbeitgeber haftet für Sicherheitskultur
Im Strafurteil 6B_1334/2019 hat das Bundesgericht die Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden angewiesen, weitere Abklärungen nach einem Arbeitsunfall zu tätigen: Ein Forstarbeiter durchtrennte beim Abstücken eines Baums versehentlich sein Halteseil mit der Motorsäge, worauf er in die Tiefe stürzte und sich dabei schwere Verletzungen zuzog. Seither ist er urteilsunfähig und dauerhaft arbeitsunfähig. Gemäss Bundesgericht hätte die Staatsanwaltschaft untersuchen müssen, ob die Arbeitgeberin ihrer Verantwortung bezüglich Betriebssicherheit und Unfallverhütung durch Vornahme der nötigen Aufsicht und Kontrolle ihrer Mitarbeiter nachgekommen sei. Das Fehlen einer Sicherheitskultur könne eine Sorgfaltspflichtverletzung der Arbeitgeberin darstellen (E. 2.5.2).
Ähnlich entschieden hat das Bundesgericht in 6B_958/2020: Ein tödlicher Arbeitsunfall sei genauer zu untersuchen und die Sicherheitskultur des betreffenden Betriebes zu überprüfen. Dem Arbeitgeber obliege nicht nur die Ausbildung und Instruktion des Arbeitnehmers, sondern auch die Überwachung und Kontrolle der Einhaltung der für die Arbeitssicherheit wesentlichen Regeln. Demnach verletze die Vorinstanz Bundesrecht, wenn sie von einem klaren Fall von Straflosigkeit ausgehe (E. 3.4).
1.7 Unterbrechung des Kausalzusammenhanges
In 6B_614/2020 betrat der beschwerdeführende Fenstermonteur unbefugt einen provisorischen Zwischenboden eines Auffanggerüstes, der mit einer Abschrankung gesichert war. Dieses Verhalten des Handwerkers unterbreche den Kausalzusammenhang zwischen einer allfälligen Sorgfaltspflichtverletzung des Beschwerdegegners bzw. einem allfälligen Mangel des Gerüstes und dem Unfall (E. 2.3.3).
2. Schadennachweis
2.1 Verjährungseinrede bei Schadenermittlung
In 4A_362/2020 war der Beginn der Verjährungsfrist für Schäden an einem Gebäude streitig. Die Geschädigte und der potenziell Haftpflichtige mandatierten gemeinsam einen Architekten, um die Schadenursache und die Sanierungskosten abzuklären. Später erhob der Haftpflichtige die Einrede der Verjährung. Dies schützte das Bundesgericht: Die Abklärung des Architekten habe der Geschädigten genügend Kenntnis des Schadens vermittelt und damit den Verjährungsbeginn ausgelöst. Nichts daran ändert, dass die Architektenschätzung erst auf Offerten beruhte und noch unsicher war, ob die Reparaturarbeiten den Schaden vollständig eliminieren (E. 4.2). Die Verjährungseinrede ist nicht deshalb missbräuchlich, weil der Haftpflichtige Hand zu einer gemeinsamen Expertise geboten hat. Nur deshalb darf die Geschädigte nicht erwarten, die Expertise werde zu einem Vergleich führen, sodass sie die Verjährung nicht unterbrechen müsse (E. 5.2).
2.2 Berechnung des Versorgerschadens
Die Urteile 4A_389/2020 sowie 4A_415/2020 sind Fundgruben: Eine Ärztin wurde auf dem Velo von einem Lastwagen tödlich verletzt. Die AHV und eine BVG-Stiftung erbrachten Hinterlassenenleistungen für den Witwer und die zwei Halbwaisen und klagten regressweise gegen die Haftpflichtversicherung des Lastwagens. Das Bundesgericht schützte das Urteil das Handelsgerichts Zürich vollumfänglich: Die regressweise eingeklagten Rentenleistungen sind analog Direktschaden zu kapitalisieren. Daher ist die abstrakte Schadenberechnung auf den Todestag beim Versorgerschaden vorzuziehen und die Renten sind per dann mit 3,5 Prozent zu kapitalisieren (E. 5.1). Trotz Empfehlungen des SVV, des BSV, der Suva und einer deshalb verbreiteten zweiphasigen Berechnung (E. 5.2) lehnt das Bundesgericht eine Praxisänderung ab (E. 5.3.5).
Die Versorgung durch den Verlust der Versorgerin fällt nur insoweit aus, als deren Einkommen die Lebenshaltungskosten gedeckt hätte, womit ein Sparanteil auszuscheiden ist. Die Ermittlung einer Sparquote nach Art. 42 Abs. 2 OR mit Verweis auf Daten der Haushaltsbudgeterhebung des BfS mit einer parallelen, konkreten Plausibilitätsüberprüfung ist nicht willkürlich (E. 6.1 ff.). Wegen der abstrakten (einphasigen) Berechnung des Versorgerschadens auf den Todestag sind Umstände, die sich erst nach dem Versterben der Versorgerin ereignen, grundsätzlich unbeachtlich; sie können nur im Einzelfall ausnahmsweise, zurückhaltend und nicht einseitig zulasten einer Partei berücksichtigt werden (E. 7.3).
In die kantonalgerichtlich festgelegte Versorgungsquote greift das Bundesgericht nur zurückhaltend ein, obwohl sie eine Rechtsfrage darstellt. Die Verteilung nach Köpfen überzeugt, weil die fixen Kosten unmöglich auf einzelne Verursacher verteilbar sind. Die Versorgerin war wirtschaftlich sehr erfolgreich und es gab im Todeszeitpunkt keine Anhaltspunkte für eine Zerrüttung der langjährigen Ehe. Daher schützte das Bundesgericht die konkrete Nichtanwendung von Abzügen für eine Wiederverheiratung und das Risiko einer Scheidung (E. 9.1 f.). Bezüglich Anrechnung von Vermögenserträgen an den Versorgungsschaden gilt: Das hohe Einkommen der Versorgerin war höher als zur Versorgung erforderlich, sodass es keine Vermögenserträge brauchte zur Versorgung. Die Beklagte beweise keine konkrete Verwendung von Vermögenserträgen zum Unterhalt (E. 10.1 und 10.3).
Die Rechtsfrage, ob Vermögenserträge auch dann anrechenbar seien, wenn diese nicht bereits während bestehendem Versorgungsverhältnis dem Unterhalt dienten (E. 10.4), sei insofern zu bejahen, als die Hinterbliebenen durch das Schadenereignis zu neuen Erträgen aus neuem Vermögen kommen (E. 10.5.3). Der Ver-mögensertrag aus einer todesbedingt erhaltenen Summenversicherung ist anzurechnen (E. 10.7.3). Sodann schützt das Bundesgericht den vorinstanzlich festgelegten Kapitalisierungszinsfuss von 3,5 Prozent auf Vermögenserträgen (E. 10.8.3.2).
2.3 Negative Feststellungswiderklage
In 4A_529/2020 befasste sich das Bundesgericht mit der Frage der Zulässigkeit der gegen eine Teilklage widerklageweise erhobenen negativen Feststellungsklage. Hintergrund war die Teilklage der bei einem Verkehrsunfall verunfallten Beschwerdeführerin über 30 000 Franken nebst Zins als Anteil ihres entstandenen Erwerbsausfallschadens.
Daraufhin erhob die eingeklagte Motorfahrzeughaftpflichtversicherung des am Unfall beteiligten Fahrzeuglenkers eine Widerklage mit dem Antrag, es sei festzustellen, dass sie keinerlei Leistungen aus dem Unfallereignis schulde. Zudem stellte sie in prozessualer Sicht den Antrag, das Verfahren sei an das für das ordentliche Verfahren zuständige Gericht zu überweisen.
Nachdem der erstinstanzliche Einzelrichter den Streitwert der Feststellungswiderklage auf den Betrag von 2,5 Millionen Franken bezifferte und die Frage nach der Zulässigkeit der Widerklage bejahte, überwies er den Prozess zur Behandlung im ordentlichen Verfahren. Die daraufhin von der Beschwerdeführerin erhobene Beschwerde, allenfalls Berufung, wies das Obergericht ab, soweit es darauf eintrat. Der Entscheid des Kantonsgerichts wurde bestätigt und die Sache «zur Weiterführung im ordentlichen Verfahren» an die Erstinstanz zurückgewiesen. Auch das in der Folge erhobene Rechtsmittel der verunfallten Beschwerdeführerin mit dem Antrag, der obergerichtliche Entscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass auf die Widerklage nicht einzutreten sei, blieb erfolglos. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab und bestätigte seine bisherige Rechtsprechung:
Mit Blick auf Art. 224 Abs. 1 ZPO und in Erinnerung an BGE 143 III 506 sei es grundsätzlich nicht zulässig, im vereinfachten Verfahren eine Widerklage zu erheben, die aufgrund ihres Streitwerts von über 30 000 Franken in den Geltungsbereich des ordentlichen Verfahrens falle (E. 3). Abweichend von diesem Grundsatz stehe obgenannte Rechtsnorm der in Reaktion auf eine echte Teilklage erhobenen negativen Feststellungsklage allerdings nicht entgegen, auch wenn deren Streitwert die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge habe (E. 4). Diesfalls seien Haupt- und Widerklage zusammen im ordentlichen Verfahren zu beurteilen. Zudem verwies das Bundesgericht auf BGE 145 III 299 mit der Präzisierung, dass die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO nicht auf den Fall einer echten Teilklage beschränkt sei. Vielmehr gelte die Ausnahme allgemein dann, wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge habe, die es rechtfertige, i.S.v. Art. 88 ZPO die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen (E. 2.1). Weiter bestätigt das Bundesgericht die Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung auch im Personenschadenrecht bzw. allgemein im Haftpflichtrecht. Mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs offengelassen und nicht überprüft werden konnte die Frage, wie weit das Feststellungsinteresse der Beschwerdegegnerin reiche (E. 2.2). Darüber hinaus sah das Bundesgericht keinen Grund, entgegen BGE 145 III 299 einen Unterschied zu machen, ob die negative Feststellungswiderklage in Reaktion auf eine echte oder eine unechte Teilklage erhoben werde. Der Bundesrat bezwecke mit der laufenden ZPO-Revision ausdrücklich, die bundesgerichtliche Rechtsprechung im Gesetz nachzuführen, und nicht etwa, die Rechtsprechung abzuändern. Dementsprechend liess das Bundesgericht die Qualifikation der erhobenen Teilklage im vorliegenden Fall offen (E. 2.3).
Fazit: Eine negative Feststellungswiderklage ist streitwertunabhängig gegen jegliche Art von Teilklage zulässig, sofern Letztere eine Ungewissheit nach sich zieht. Geschädigten droht damit im Zivilprozess der Ruin. Daran wird auch die vorgesehene Revision des Kostenrechts im Zivilprozess nichts ändern. Die horrenden Kosten von Zivilprozessen sind eine faktische Zutrittsschranke zur Justiz, was mit den verfassungs- und konventionsmässigen Garantien von Art. 29a BV und Art. 6 EMRK kollidiert.
Das heutige Kostenrecht führt zu einer Vierklassengesellschaft, in welcher sich nur noch schwerreiche, ganz arme und rechtsschutzversicherte Personen das Führen eines Zivilprozesses leisten können. Allen anderen, insbesondere mittelständischen Personen und kleinen und mittleren Unternehmen, ist der Zugang zu den Zivilgerichten von wenigen Ausnahmen abgesehen faktisch verwehrt. Passend dazu ist in den letzten Jahren trotz Zunahme der gesamtschweizerischen Wohnbevölkerung die Anzahl zivilrechtlicher Gerichtsverfahren substanziell zurückgegangen.1
2.4 Rechtsmittellegitimation des Privatklägers
Ein Strafverfahren ist für die geschädigte Person oft der einzige Weg, an Beweismaterial zu kommen und eine widerrechtliche Handlung feststellen zu lassen, ohne die horrenden Kosten eines Zivilprozesses zu gewärtigen. Entsprechend bietet es sich an, sich im Strafverfahren als Privatkläger auch im Zivilpunkt zu konstituieren. Dies birgt allerdings im Rechtsmittelverfahren bei Antragsdelikten das Risiko, im Unterliegensfall die ganzen Kosten tragen zu müssen (6B_582/2020). Ein Privatkläger kann diesem Risiko entgehen, indem er sich im kantonalen Rechtsmittelverfahren auf seine Stellung als Privatkläger im Strafpunkt beschränkt. Diesfalls berührt der kantonale strafrechtliche Freispruch allerdings nicht seine Zivilansprüche. Daher fehlt ihm dann die Legitimation, einen kantonalen Freispruch ans Bundesgericht weiterzuziehen (6B_1280/2020).
1 Daniel Hochstrasser / Predrag Sunaric, «Zur Revision des Kostenrechts im Zivilprozess», in: AJP 3/2021, S. 348 ff., mit weiteren Hinweisen; diese stellen gar die These auf, dass sich nur noch ganz arme Personen mit Aussicht auf Gewährung unentgeltlicher Rechtspflege einen Zivilprozess leisten können, wobei auch diese wegen Art. 118 Abs. 2 ZPO bei Unterliegen den finanziellen Ruin riskieren.