Martin Wirthlin, 62, Präsident der Ersten sozialrechtlichen ­Abteilung am Bundesgericht (SP), wurde in einem Grund­satz­urteil zur Berechnung der IV-­Renten von der Mehrheit seiner Kammer überstimmt. Er versuchte an der mündlichen Urteilsberatung Mitte März unermüdlich, die Kollegen von der Un­haltbarkeit der bisherigen Praxis der IV zu überzeugen. Die IV berechnet den Invaliditätsgrad gestützt auf ­unrealistisch hohe theoretische Invalideneinkommen, wiekürzlich zwei wissenschaftliche Studien aufzeigten.

Einzig Bernard Abrecht (SP) schloss sich seinen Argumenten an. Die beiden SVP-Richterinnen Alexia Heine und Daniela Viscione sowie Marcel Maillard (Mitte) sahen keinen Grund, die umstrittene Berechnungspraxis zu ändern. Ihr Argument: Mit dem «leidensbedingten Abzug» sei ein Instrument vorhanden, das bereits heute Korrekturen ermögliche. Wirthlin widersprach: Der Leidensabzug habe seine Korrekturfunktion verloren, weil er kaum je voll ­gewährt werde und das Alter der Person nicht berücksichtige: «Das verstösst gegen Bundesrecht!» Für viele Behinderte sei das errechnete Invalideneinkommen auf dem realen Arbeitsmarkt ­unerreichbar. Aller Einsatz des ­Vorsitzenden nützte nichts. Die bürgerliche Mehrheit sah in den aktuellen Studien «keine wirklich neuen Erkenntnisse».

Beat Flach, 57, Aargauer Nationalrat (GLP), will den zu Unrecht Betriebenen zum Recht verhelfen. Im letzten August hatte das Bundesgericht entschieden, dass ein Betriebener nach Ablauf der einjährigen Gültigkeit des Zahlungsbefehls kein Gesuch um Nichtbekanntgabe der Betreibung mehr stellen kann (BGE 147 III 544). Im Urteil ging es um die Auslegung des revidierten Artikels 8a SchKG, der Anfang 2019 in Kraft trat. Der Jurist Flach war am damaligen Gesetzgebungsverfahren ­beteiligt und sass in der Rechtskommission des ­Nationalrats. Er weiss, dass «nie die Absicht» bestand, «dass Betriebene nur ein Jahr Zeit haben sollten, um ein Gesuch zu stellen». 

Flach thematisierte den Entscheid des Bundesgerichts in der Rechtskommission des Nationalrats. Die Kommission beschloss Mitte Januar einstimmig, eine parlamentarische Initiative einzureichen, um im Gesetz «klarzustellen, dass die betriebene Person das Gesuch um Nichtbekanntgabe auch nach Ablauf eines Jahres stellen kann.» Mit einer zweiten Initiative will die Rechtskommission zudem erreichen, dass ein Betriebener die Nichtbekanntgabe einer Betreibung verlangen kann, wenn der Gläubiger die Betreibung weiterzieht, aber vor Gericht unterliegt. Das Bundesgericht hatte im Juni 2020 anders entschieden (BGE 147 III 41).

Ueli Vogel-Etienne, 70, ­Rechtsanwalt und Mediator in Zürich, ist kein Freund von Sammelklagen. Er sprach sich Mitte ­Februar in einem NZZ-Gastkommentar gegen die Einführung eines Sammelklagerechts für Konsumenten in der Schweiz aus. Seine Begründung: Das Instrument der Sammel­klagen (sogenannte «class ­actions») hätte in den USA zu Exzessen und zu einer florierenden Klageindustrie geführt. Das «sollte den Schweizer ­Gesetzgeber eigentlich abschrecken», so ­Vogel-Etienne. 

Sein Zürcher ­Berufskollege Philipp H. Haberbeck konterte auf der Plattform Linkedin: Die Exzesse in den USA seien viel mehr auf Eigenheiten des amerikanischen Prozessrechts zurückzuführen. Beispielsweise den Umstand, dass Kläger dort wegen Erfolgshonoraren der Anwälte und der fehlenden Entschädigungspflicht im Falle des Unterliegens ohne Kosten­risiko prozessieren können. ­Zudem stehe eine Angleichung des hiesigen Zivilprozessrechts an die Situation in den USA gar nicht zur Debatte. Das «regelmässig instrumentalisierte Schreckgespenst» der amerikanischen Sammelklage im Zusammenhang mit der Einführung eines kollektiven Rechtsschutzes in der Schweiz basiere «auf ­limitierten Kenntnissen der Situation in den USA» oder sei «intellektuell unredlich».