Vergangenes Jahr liessen sich in der Schweiz fast 17 000 Ehepaare scheiden, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Dabei waren knapp 13 000 unmündige Kinder betroffen. Rund 3000 weitere Kinder mussten laut Schätzungen von Fachleuten die Trennung ihrer ledigen Eltern erleben. Seit 2014 üben Eltern die elterliche Sorge in der Regel nach einer Scheidung oder Trennung gemeinsam aus. Dem werde in der Praxis tatsächlich nachgelebt, sagt Tobias Brändli, Rechtsanwalt und Vizepräsident am Regionalgericht Landquart. Die Zürcher Rechtsanwälte Thomas Gabathuler und Monika Leuenberger-Roiha bestätigen seine Einschätzung.
Alternierende Obhut eher selten
Seit einer weiteren Gesetzesrevision im Jahr 2017 kann ein Elternteil oder das Kind beantragen, dass das Gericht zudem die alternierende Obhut prüft. Dies bedeutet, dass das Kind bei beiden Eltern wohnt und die Betreuungsanteile der Eltern ähnlich sind. Kriterien für die Zuteilung der alternierenden Obhut sind die Erziehungsfähigkeit der Eltern, ihre Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, die Stabilität ihrer Lebensverhältnisse, der Wohnort, die Möglichkeit der persönlichen Betreuung, das Alter des Kindes und dessen Wünsche.
Monika Leuenberger hält eine erfolgreiche alternierende Obhut klar für eine Win-win-Situation: «Dadurch kann das Kind eine individuelle und ausgeglichene Beziehung zu beiden Elternteilen entwickeln.» Zudem verhindere die alternierende Obhut, dass sich ein Elternteil zurückziehe. Doch sie stellt auch fest: «Die alternierende Obhut ist nicht die Regel.» Zahlen belegen dies: Bei strittigen Scheidungen teilte etwa das Bezirksgericht Zürich zwischen Januar und September 2020 nur in 16 von 99 Fällen beiden Elternteilen die Obhut zu, in 70 der 99 Fälle dagegen allein der Mutter. Markus Theunert von Männer.ch, dem Dachverband der Schweizer Männer- & Väterorganisationen, befürchtet aufgrund der Rückmeldungen Betroffener, dass die alternierende Obhut bei Uneinigkeit der Eltern so gut wie nie angeordnet wird.
Der Bündner Regionalrichter Brändli fordert daher: «Gerichte und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden müssen viel vertiefter prüfen, ob die alternierende Obhut möglich ist, wenn sie beantragt wird.» Heute werde sie oft voreilig als nicht durchführbar beurteilt. Dies hänge auch damit zusammen, dass die neue Bestimmung über die alternierende Obhut erst 2017 in Kraft getreten sei. «Viele Richter sind noch daran gewöhnt, die Obhut einem Elternteil zuzuordnen – meistens der Mutter, wie dies vor der Gesetzesrevision der Fall war.»
Lösungsansätze bei Kontaktverweigerung
Hat nur ein Elternteil die Obhut, ist dem andern der persönliche Kontakt mit dem Kind zu ermöglichen. Wie das konkret geschieht, hängt von verschiedenen Kriterien ab – so dem Alter des Kindes und den Arbeitszeiten der Eltern. Je regelmässiger der Kontakt zum nicht obhutsberechtigten Elternteil ist, desto besser kann die Beziehung aufrechterhalten werden. Üblich sind zwei Wochenendbesuche pro Monat und zwei bis vier Wochen Ferien im Jahr.
Für das Kind ist es wichtig, Kontakt mit beiden Eltern zu haben. Verweigert der obhutsberechtigte Elternteil den persönlichen Verkehr, kann dies zu einer Entfremdung führen. Wie aber kann sich der andere Elternteil bei einer Kontaktverweigerung wehren?
Polizeibegleitung kann Kinder traumatisieren
Nach Ansicht von Regina Aebi-Müller, Professorin an der Universität Luzern, scheidet die direkte Vollstreckung des Urteils im Interesse des Kindes aus. Die zwangsweise Durchsetzung des Besuchsrechts mit Hilfe der Polizei widerspreche dem Kindeswohl. Sie könne zu schweren Traumatisierungen des Kindes führen. «Es bleiben aber indirekte Vollstreckungsmöglichkeiten, etwa eine Besuchsbeistandschaft, eine Mediation oder die Strafandrohung gemäss Artikel 292 StGB gegen den Elternteil, der sich nicht an die Besuchsrechtsregelung hält.»
Das alles kann gemäss Aebi-Müller jedoch nicht verhindern, dass ein Elternteil den persönlichen Verkehr der nicht obhutsberechtigten Person mit dem Kind vereiteln kann. Sie sieht in solchen Fällen nur eine praktikable Lösung: die Obhut anders zu regeln. In der Praxis komme dies auch vor. «Die Obhut kann dem anderen Elternteil zugeteilt werden, wenn er besser dafür sorgt, dass das Kind mit beiden Eltern in Kontakt bleibt.» Die Obhut dürfe aber nicht automatisch übertragen werden, wenn der Kontakt mit dem Kind verweigert werde. Vielmehr müsse im Einzelfall geprüft werden, ob der bislang nicht obhutsberechtigte Elternteil die Betreuung des Kindes tatsächlich übernehmen könne und wolle.
Auch Professorin Alexandra Jungo von der Universität Freiburg sieht den Obhutswechsel als gangbare Option. Rechtsanwalt Gabathuler hingegen spricht von einer Ultima Ratio. «Wenn das Kind beim renitenten Elternteil lebt und nicht zum andern Elternteil umziehen möchte, funktioniert das in der Praxis selten.» Er sehe nicht, wie man das Problem gesetzlich lösen könne.
Urs Gloor, Rechtsanwalt und ehemaliger Richter am Bezirksgericht Zürich, schlägt vor, dass das Kind ohne direkten Kontakt der Eltern übergeben wird, wenn das Verhältnis zwischen diesen schwer gestört ist. «Einer der Ex-Partner könnte es in die Schule oder in den Fussballverein bringen, wo es der andere abholt.» Auf dem gleichen Weg könne es dann auch wieder an den Ex-Partner zurückgegeben werden. «Dies verhindert eine Konfrontation zwischen den Eltern. Und das Kind hat genug Abstand und Zeit, sich auf den Wechsel von einem in den anderen Haushalt einzustellen.»
“Behörden unterschwellig auf der Seite der Mütter”
Theunert von Männer.ch bemängelt, dass der Rechtsstaat bezüglich des persönlichen Verkehrs letztlich das von ihm gesprochene Recht nicht durchsetzt. Es sei für Väter oft extrem hart, vor verschlossenen Türen zu stehen und nichts dagegen tun zu können. «Berichte von betroffenen Männern mögen das Bild verzerren. Aber sie weisen darauf hin, dass die Institutionen nach wie vor von der unterschwelligen Prämisse ausgehen, dass die Mutter letztlich besser einschätzen kann, was dem Kindeswohl entspricht.
Marcel Enzler von der Kindesschutzorganisation Schweiz sieht die Behörden in der Pflicht: «Der Begriff Kindeswohl wird oft missbraucht, um den persönlichen Verkehr bei Streitigkeiten einzuschränken.» So verliere das Kind den Kontakt zu einem Elternteil. «Nötig sind beim persönlichen Verkehr eine strengere Überwachung und Sanktionen, damit das Besuchsrecht gewährleistet ist.»