Dreizehn Schüsse, gemäss Gutachten einige davon von hinten: Mit drastischsten Mitteln hatte ein Zürcher Stadtpolizist im Dezember 2015 einen mit einem Messer bewaffneten Äthiopier kampfunfähig gemacht. Dass es überhaupt zu einer Anklage kam, musste sich der Verteidiger des Geschädigten aber hart erkämpfen: Der Staatsanwalt wollte das Verfahren einstellen und wurde erst vom Bundesgericht zurückgepfiffen. Dieses ordnete schliesslich eine Anklageerhebung gegen einen der fünf beteiligten Polizisten an. Er hatte elf Mal auf den Äthiopier geschossen. Das Bezirksgericht Zürich sprach den Beamten im Sommer 2020 dann frei.
Torsten Kahlhöfer, der Anwalt des angeschossenen Äthiopiers, hadert nicht nur damit, dass das Gericht zumindest in der schriftlichen Urteilsbegründung all seine Argumente verworfen hat. Im ganzen Verfahren habe er sich in einem Kampf gegen Windmühlen gewähnt. Auf fast allen Stufen seien eigenartige Entscheide getroffen worden. Zuerst sei der beschuldigte Polizist nicht in Untersuchungshaft gesetzt worden. Vor der ersten Einvernahme habe ein Debriefing mit den beteiligten Kollegen und dem Stabschef der Stadtpolizei, einem Rechtsanwalt, stattgefunden. Und wenige Stunden nach dem Vorfall habe derselbe Staatsanwalt eine Medienmitteilung abgesegnet, die den Polizisten ein Handeln in einer Notwehrsituation attestierte.
Das Zürcher Obergericht sah darin keinen Befangenheitsgrund. Es schützte nicht nur den Einstellungsentscheid des Staatsanwalts, sondern sprach gegenüber dem Geschädigtenvertreter von der Aussichtslosigkeit des Falles. «Aussichtslos – bei dreizehn Schüssen auf einen Menschen. Das muss man sich einmal durch den Kopf gehen lassen», sagt Kahlhöfer. Immer wieder habe er sich in diesem Verfahren «machtlos» gefühlt.
“Eine Krähe hackt der andern kein Auge aus”
Mit dieser Erfahrung steht er nicht allein da: Seit Jahren gibt der nachsichtige Umgang mit Polizisten, die einer Straftat beschuldigt werden, zu reden – medial, aber auch unter Juristen.
Dass der Strafverfolgungs- und Verurteilungswille gegenüber Polizeibeamten nicht eben ausgeprägt ist, monieren nicht nur notorisch polizeikritische Anwälte, sondern auch Menschenrechtsgremien und Strafrechtsexperten. Markus Mohler, ehemaliger Polizeikommandant im Kanton Basel-Stadt, Staatsanwalt und Lehrbeauftragter an den Universitäten Basel und St. Gallen, spricht von einer «gewissen Beisshemmung» gegenüber Amtspersonen generell, auch gegenüber Polizisten. Das habe er bei Staatsanwälten wie bei Gerichten beobachtet. Beide seien in zahlreichen Verfahren von der Vorarbeit der Polizei abhängig, gerade in der kleinräumigen Schweiz sei die Nähe gross. «Es gilt offenbar oft der Grundsatz: Eine Krähe hackt einer anderen kein Auge aus», so Mohler.
Beat Oppliger, leitender Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich, widerspricht dieser Einschätzung: «Den Staatsanwaltschaften beziehungsweise ihren Mitarbeitern pauschal eine Beisshemmung oder Befangenheit zu unterstellen, halte ich für unangebracht», sagt er.
Evelyne Sturm, Geschäftsführerin des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR), spricht von «hohen Hürden», die einer Strafverfolgung von Polizisten oft entgegenstehen. Das SKMR publizierte zwei Studien zum Thema «Rechtsschutz bei polizeilichen Übergriffen», eine im Auftrag des Bundes, eine im Auftrag der Stadt Zürich.
Die Hürden liegen auch in der Tatsache begründet, dass es meist Polizisten sind, die nach Anzeigen die ersten Ermittlungsschritte gegen ihre Berufskollegen tätigen. Der Korpsgeist ist oft ausgeprägt. Rechtsanwalt Kahlhöfer sprach in seinem Plädoyer im Fall des Äthiopiers von einem «Code of Silence» unter den Beamten. Seine Wortwahl ist nicht übertrieben: Das Internetmagazin «Republik» zitierte jüngst eine Passage aus dem Magazin «Police», dem offiziellen Organ des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter. Es ging um Verhaltensanweisungen für Polizisten, die in den Fokus der Justiz geraten. Der Tipp für betroffene Beamte: «Bedenke: Augen und Ohren auf. Mund zu! Vermeide Gespräche, egal mit wem, auch bei Aufforderung. Solange du nicht als Zeuge vorgeladen wirst, bist du zu keinerlei Aussagen verpflichtet.»
Einschüchterungstaktik Gegenanzeige
Rechtsanwälte monieren derweil, dass Anzeigeerstatter häufig mit Gegenanzeigen eingeschüchtert werden. Eine Problematik, auf die auch die Zürcher Ombudsstelle schon hingewiesen hat.
Werden die anfänglichen Hürden genommen und eine Strafverfolgung effektiv eingeleitet, so gestalte sich die Beweisführung oft schwierig, sagt Evelyne Sturm. Es gebe Fälle, in denen der Aussage eines Geschädigten mehrere deckungsgleiche Aussagen von Polizisten gegenüberstehen. Und Verantwortlichkeiten und Befehlsketten bei umstrittenen Einsätzen seien manchmal schwer nachvollziehbar.
Die Bilanz von Rechtsanwalt Kahlhöfer, der schon mehrere Opfer polizeilicher Übergriffe vertrat, fällt entsprechend ernüchternd aus: «Solche Fälle sind quasi hoffnungslos. Ein Privatkläger hat in Strafverfahren gegen Polizisten kaum Chancen, zu seinem Recht zu kommen.» Sein Zürcher Kollege Marcel Bosonnet fasst seine Erfahrungen mit dem Thema noch pointierter zusammen: «Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Polizeibeamter schuldig gesprochen wird.»
Verlässliche Zahlen fehlen
Allerdings: Hieb- und stichfest mit Zahlen belegen lässt sich der verschiedentlich monierte fehlende Strafverfolgungswille gegenüber Polizisten nicht. Es fehlen spezifische Erhebungen. Dass bei der wirksamen Strafverfolgung von Polizisten Probleme bestehen, hat allerdings auch der Uno-Menschenrechtsrat in Genf konstatiert: Immer wieder forderte er von der Schweiz die Einführung von Massnahmen, die eine unabhängige Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten sicherstellen – zuletzt 2017.
Massnahmen traf die Schweiz in den letzten Jahren höchstens partiell: Im Kanton Bern zum Beispiel beschloss der Generalstaatsanwalt vor rund sechs Jahren, Ermittlungen gegen Polizisten in die Hände der Staatsanwaltschaft für besondere Aufgaben zu legen. Auch andere Kantone ziehen regelmässig Sonder- oder ausserkantonale Staatsanwaltschaften bei, wenn es um Strafverfahren gegen Polizisten oder andere Behördenmitglieder geht. So kommt in Zürich die Abteilung für besondere Untersuchungen der Staatsanwaltschaft zum Zug, namentlich wenn es um Verfahren gegen ranghöhere Korpsangehörige geht. Strafrechtsexperte Markus Mohler und SKMR-Geschäftsführerin Evelyne Sturm sind der Ansicht, das könne zumindest zur Entschärfung des Problems beitragen. Bei ausserkantonalen Staatsanwaltschaften gelte es allerdings zu berücksichtigen, dass auch ein Nachbarkanton sehr nahe sein könne.
Vorschlag: Ständiger Pool an Sonderstaatsanwälten
Kommt hinzu, dass der Beizug ausserkantonaler oder besonderer Staatsanwaltschaften von wenigen Ausnahmen abgesehen lediglich einzelfallbezogen erfolgt und die Praxis alles andere als einheitlich ist. Das SKMR empfiehlt deshalb mehr Verbindlichkeit: «Man könnte in der Strafprozessordnung Regeln für den Umgang mit Anzeigen gegen Behördenmitglieder schaffen», schlägt Sturm vor. Die Schaffung neuer Institutionen, etwa eines ständigen landesweiten Pools an Sonderstaatsanwälten, wäre ihr zufolge ein weiterer, durchaus begrüssenswerter Schritt. Griffige institutionelle Änderungen fordert der Verein Humanrights.ch. Er pocht unter anderem auf die Schaffung von interkantonalen Konkordaten für Sonderstaatsanwaltschaften.
Der Zürcher Oberstaatsanwalt Beat Oppliger sieht keine Notwendigkeit für ein Konkordat. Er verweist auf den Umstand, dass bei gewissen Konstellationen schon heute ausserkantonale Staatsanwälte eingesetzt würden.
Die von Sturm erwähnten Regeln in der Strafprozessordnung existierten gemäss Oppliger bereits: Die Strafprozessordnung sehe Schutzmechanismen vor, um die Unabhängigkeit einer Untersuchung zu gewährleisten. «Den Parteien steht das Recht zu, die Frage einer möglichen Befangenheit schon während eines laufenden Verfahrens jederzeit von einem unabhängigen Gericht beurteilen zu lassen.»
Allerdings sind solche Regeln in der Strafprozessordnung allgemeiner Natur und beziehen sich eben nicht wie gefordert explizit auf die Strafverfolgung von Behördenmitgliedern.
Ein weiterer Mechanismus, der gemäss Oppliger die Unabhängigkeit der Strafverfolgung garantieren soll, sei die Praxis, wonach zumindest im Kanton Zürich jede Strafanzeige gegen Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden, also auch gegen Polizisten, der Oberstaatsanwaltschaft vorgelegt werde. «Diese nimmt die sachgerechte Zuteilung an eine geeignete Staatsanwaltschaft vor», so Oppliger. Damit könne eine «nur schon denkbare fehlende Unabhängigkeit» vermieden werden. Weiter nennt Oppliger die Möglichkeit einer Aufsichtsbeschwerde an die Sicherheitsdirektion oder einer Beschwerde an die Ombudsstelle der Stadt Zürich.
Solche Ombudsstellen gibt es allerdings nicht überall. Der Verein Humanrights.ch fordert deshalb die «flächendeckende Schaffung kantonaler spezialisierter Ombudsstellen». Eine Ombudsstelle, die sich allein mit polizeilichen Fragen befasst, gibt es bis anhin lediglich im Kanton Genf. Laut SKMR ist sie allerdings administrativ dem Polizeikommando unterstellt und setzt sich ausschliesslich aus ehemaligen Polizeiangehörigen zusammen. Das bedeute weiterhin einen gewissen Nachteil.
Ombudsverfahren bedingt Verzicht auf Strafverfahren
In der Stadt Zürich wurde kurz nach der Jahrtausendwende eine unabhängige Anlaufstelle bei Polizeiübergriffen geschaffen, nachdem es zu mehreren Vorfällen gekommen war. Sie wurde nach einem Jahr als eigenständige Institution aufgelöst und in die städtische Ombudsstelle integriert.
Dieser stand bis Sommer 2020 während 15 Jahren Claudia Kaufmann vor. Sie erachtet Ombudsstellen für Betroffene von polizeilichen Übergriffen als wichtige Ergänzung zu den Beschwerdemechanismen in Straf- oder Verwaltungsverfahren. «Wir konnten Hilfesuchenden helfen, Vermittlungsarbeit leisten und im Rahmen unserer Arbeit auch auf Missstände hinweisen», sagt sie. Als Beispiel erwähnt sie die Problematik der Gegenanzeigen: «Wir konnten diese Thematik beim städtischen Sicherheitsdepartement anbringen und wissen, dass sie in der Folge vom Polizeikommandanten auch ernst genommen wurde.»
Neben dem Austausch mit städtischen Institutionen waren Kaufmanns Instrumente: das Vermittlungsgespräch mit Betroffenen, vermeintlich fehlbaren Polizisten und deren Vorgesetzten, die Beschwerdeprüfung und klassische Beratungsgespräche mit den Betroffenen allein. Diese Ombudsverfahren können allerdings nur dann erfolgen, wenn die Betroffenen auf ein Strafverfahren verzichten. Sie sind für Betroffene somit keine zusätzliche, sondern eine alternative Möglichkeit zu anderen Beschwerdemechanismen.
Obschon Kaufmann vom Nutzen der Konfliktlösungsverfahren überzeugt ist, stellt sie klar: «Der Zugang zum Recht und der Anspruch auf ein Straf- oder Verwaltungsverfahren sind absolut zentral in einem Rechtsstaat. Ombudsverfahren sind dafür weder ein Ersatz, noch dürfen sie ein Feigenblatt sein.»
Keine Gefahr besteht diesbezüglich in Nordirland: Die dortige Polizei-Ombudsstelle ist kein zahnloser Tiger. Sie gibt nicht nur Empfehlungen ab, sondern führt selbst Ermittlungen durch und kann der Staatsanwaltschaft die Eröffnung von Strafverfahren nahelegen. SKMR-Geschäftsführerin Evelyne Sturm sieht dieses Modell in den historischen und sozialen Besonderheiten Nordirlands verwurzelt und hat Fragezeichen, ob es in der Schweiz Akzeptanz erfahren würde.
Zürcher Oberstaatsanwalt gegen spezialisierte Stelle
Dezidiert ablehnend äussert sich Oberstaatsanwalt Oppliger, wenn es um die Einführung einer solchen Stelle geht: «Im Kanton Zürich sind bereits heute unabhängige Untersuchungen gewährleistet, deshalb sind in Bezug auf den Bereich der Strafuntersuchung keine weiteren Institutionen notwendig», sagt er.
Was unabhängige Untersuchungen anbelangt, hat Rechtsanwalt Kahlhöfer andere Erfahrungen gemacht. Ihm bleibt nach dem Urteil des Bezirksgerichts der neuerliche Instanzenzug, um dem angeschossenen Äthiopier zum Recht zu verhelfen. Im August wird die Verhandlung vor Obergericht stattfinden – jenem Gericht, das seinen Anträgen schon einmal «Aussichtslosigkeit» attestierte.
Einstellungen, Freisprüche – und eine Verurteilung
Immer wieder geben aufsehenerregende Einzelfälle Hinweise auf einen fehlenden Strafverfolgungswillen bei polizeilichem Fehlverhalten. Drei Beispiele:
Am Auge verletzt: Im Mai 2013 kommt es in Bern an der Veranstaltung «Tanz dich frei» zu Ausschreitungen. Ein Mann wird von einem Gummischrotgeschoss der Polizei so stark am Auge verletzt, dass er fast erblindet. Der zuständige Staatsanwalt will ein Verfahren wegen Körperverletzung mehrfach einstellen. Das Berner Obergericht gibt dem Anwalt des Betroffenen aber teilweise recht und ordnet eine Weiterführung der Untersuchung an. Die Forderung nach einem ausserkantonalen Staatsanwalt lehnt es ab. Der verantwortliche Polizist kann nie identifiziert werden, zu einer Anklage kommt es nicht.
Geschlagen und gewürgt: Bei einer Polizeikontrolle kommt es im Oktober 2009 zu einem Gerangel zwischen W. A. und drei Zürcher Stadtpolizisten. A. sagt, die Polizisten hätten ihn als «Scheissafrikaner» beschimpft, geschlagen und gewürgt – obwohl A. ihnen mitgeteilt habe, dass er an Herzproblemen leide. Die Staatsanwaltschaft versucht mehrfach, das Verfahren einzustellen, scheiterte damit aber beim Ober- und beim Bundesgericht. Neun Jahre nach dem Vorfall spricht das Bezirksgericht Zürich alle drei Polizisten frei, der Weiterzug ist vor Obergericht hängig.
Erniedrigt: So etwas wie einen Ausnahmefall stellt die Verurteilung zweier Berner Kantonspolizisten im Oktober 2015 dar: Ein Mann uriniert auf der Wache im Berner Hauptbahnhof auf den Boden. Als er der Aufforderung der Polizisten nicht nachkommt, den Boden zu reinigen, drückt einer der Beamten den Kopf des Mannes in den Urin und fordert ihn zum Auflecken auf. Der andere Polizist hält ihn an den Beinen fest. Dann wird der Mann mehrfach durch den Urin geschleift, seine Lederjacke in die Lache geworfen. Anderthalb Jahre später verurteilt das Regionalgericht die Polizisten wegen Amtsmissbrauchs und wegen geringfügiger Sachbeschädigung. Entscheidend war, dass eine Praktikantin ihre Kollegen belastete. Hätte nur der Mann gegen die Polizisten ausgesagt, wäre es wohl nie zur Verurteilung gekommen, sagt die Einzelrichterin.