Ein Blick in die Statistik für Administrativmassnahmen des Bundesamts für Strassen fördert Interessantes zutage. So kam es laut dieser sogenannten Admas-Statistik 2016 im Kanton Aargau zu total 8053 Ausweisentzügen – 487-mal gaben die Aargauer Behörden als Grund unter anderem «charakterliche Nichteignung» an. Zum Vergleich: In der ganzen Schweiz wurden 2016 total 85 261 Ausweise entzogen – nur insgesamt 968-mal wurde als Grund «charakterliche Nichteignung» angegeben. Mit andern Worten: Mehr als die Hälfte der charakterlich ungeeigneten Autofahrer müssen laut Statistik im Aargau wohnen.
Das ist kein Einzelfall. Auch 40 Prozent aller Ausweisentzüge wegen «psychisch/leistungsmässiger Nichteignung» erfolgten letztes Jahr im Kanton Aargau. Auffallend hoch sind die Aargauer Raten zudem bei den Gründen «Alkoholabhängigkeit/-missbrauch», «Drogensucht» sowie «Krankheit/Gebrechen». In den Vorjahren bewegten sich die Zahlen in einer ähnlichen Grössenordnung (siehe Tabelle). Wie kommt es zu dieser bemerkenswerten statistischen Häufung?
Willy Bolliger ist Anwalt in Baden AG und hat sich eingehend mit dem Thema befasst.1 Und er ärgert sich immer wieder über die restriktive Praxis des Aargauer Strassenverkehrsamts im Bereich der Ausweisentzüge. Sein Schluss: «Die Aargauer Praxis muss als hart qualifiziert werden.» Die Angst vor Fehlern trübe das Augenmass der Vollzugsbehörde. Bolliger: «Den Persönlichkeitsrechten von Automobilisten wird im Aargau zu wenig Rechnung getragen.»
Kehrtwende nach Expertenbericht
Die Bundesstatistik ist laut Bolliger aber mit Vorsicht zu interpretieren, denn sie unterscheide nur zwischen der Dauer der Ausweisentzüge, nicht jedoch nach der Art. So sei unklar, wie viele dauerhafte Sicherungsentzüge und wie viele temporäre Warnungsentzüge aus welchen Gründen erfolgen. Es gebe auch keine bundesrechtlichen Vorgaben, wonach die gravierenden Entzugsgründe einer «charakterlichen Nichteignung» oder «psychisch/leistungsmässigen Nichteignung» nur für dauerhafte Sicherungsentzüge verwendet werden dürfen. Zudem könnten für einen Entzug mehrere Gründe genannt werden. Bolligers Fazit: «Die Codes werden von den Kantonen nicht kohärent verwendet. Die Zahlen sind mit Vorsicht zu geniessen.»
Trotz dieser statistischen Schwächen ist für den Badener Anwalt eindeutig klar: «Das Aargauer Strassenverkehrsamt verfügt aus charakterlichen und psychischen Gründen sowie wegen Krankheiten, Alkoholmissbrauch und Drogensucht massiv mehr Ausweisentzüge als andere Kantone, obwohl im Kanton Aargau nur rund 9 Prozent aller Motorfahrzeuge immatrikuliert sind.»
Doch warum fährt der Aargau eine derart harte Praxis bei den Ausweisentzügen? Bolliger: «Die Praxis des Aargauer Strassenverkehrsamts war in früheren Jahren offensichtlich lasch. Seit etwa 2012 hat eine massive Umkehr stattgefunden.» Hintergrund für diese Kehrtwende sei der sogenannte Bericht Schaffhauser. Der Strassenrechtsexperte Professor René Schaffhauser nahm 2008 im Auftrag des Aargauer Innendepartements das kantonale Strassenverkehrsamt genauer unter die Lupe, nachdem es im Aargau zu diversen schweren Unfällen gekommen war und die Frage im Raum stand, wie gut das Amt seine Aufsichtspflicht erfüllt.
“Verschärfung schiesst massiv übers Ziel hinaus”
In seinem Bericht kam Schaffhauser zum Schluss, dass es im Amt mehr juristisches, medizinisches und psychologisches Fachwissen brauche, um im Bereich Führerausweisentzug die entsprechenden Gutachten überprüfen zu können. In der Folge wurden für das Strassenverkehrsamt diverse organisatorische und personelle Massnahmen beschlossen. Laut Bolliger hat das in der Folge zu einer «Verschärfung der einschlägigen Praxis geführt, die massiv über das Ziel hinausschiesst».
Anders sieht man das beim Aargauer Strassenverkehrsamt. Pascal Di Marco, Sektionsleiter Administrativmassnahmen, hält fest, die Angaben der jeweiligen Entzugsgründe durch die Kantone würden sehr uneinheitlich erfolgen: «Dies führt zu starken Verzerrungen und Fehlinterpretationen der Admas-Statistik.» Insbesondere dürfe von der Anzahl genannter Gründe nicht auf die effektive Anzahl der Massnahmen geschlossen werden.
Laut Di Marco lassen sich aus der aktuellen Admas-Statistik von 2016 nur zwei Punkte eindeutig herauslesen: Erstens mache der Aargauer Anteil an der Gesamtdauer sämtlicher Ausweisentzüge 9,4 Prozent aus. Und zweitens entfielen von den total 23 185 dauerhaften Sicherungsentzügen 2780 auf den Aargau – das entspreche einem Anteil von 11,9 Prozent und liege im Durchschnitt.
Der Aufsatz «Der Führerausweisentzug im Kanton Aargau» von Willy Bolliger findet sich unter www.advobolliger.ch
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