Ja, aber nur in Ausnahmefällen. Bisher galt im Strafprozessrecht die Regel, dass die amtliche Verteidigerin oder der amtliche Verteidiger - und analog auch der unentgeltliche Rechtsbeistand des Geschädigten - nur das von der zuständigen Strafbehörde zugesprochene und vom Staat berappte Honorar beanspruchen konnte. Die Entgegennahme einer Vergütung, die darüber hinaus reichte, war generell verpönt und wurde als standeswidrig betrachtet.
Prima vista könnte man annehmen, dass sich dies nun im Strafverfahren mit Artikel 135 Absatz 4 Buchstabe b der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) radikal ändert: Nach dieser Bestimmung hat die zum Tragen der Verfahrenskosten verurteilte beschuldigte Person der Verteidigung die Differenz zwischen der amtlichen Entschädigung und dem vollen Honorar zu erstatten, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben. Durch den Verweis von Artikel 138 Absatz 1 StPO gilt dies auch für die Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistands der Privatklägerschaft.
Ein derartiger Anspruch auf zusätzliche Entschädigung war bisher im schweizerischen Strafprozessrecht soweit ersichtlich nur in Artikel 52 Absatz 2 des bernischen Gesetzes über das Strafverfahren (StrV) vorgesehen. Die StPO betritt mit diesem Anspruch also weitgehend Neuland. Bemerkenswerterweise erscheint er nicht in der Schweizerischen Zivilprozessordnung; Art. 123 ZPO sieht (analog zu Artikel 135 Absatz 4 Buchstabe a StPO) nur eine Nachforderung des Staats für die von ihm geleistete Entschädigung vor.
Der Zweck von Artikel 135 Absatz 4 Buchstabe b StPO ist an sich löblich: Es soll verhindert werden, dass Personen, die sich eigentlich eine frei gewählte Verteidigung leisten könnten, zulasten der eingesetzten Anwälte von geringeren Vertretungskosten profitieren.
Der Gesetzgeber lässt uns jedoch im Ungewissen darüber, wie diese Norm praktisch umzusetzen ist, und auch die Materialien helfen nicht weiter. Kann der unentgeltliche Rechtsbeistand - so die Hauptfrage - dem Klienten selbst Rechnung für die Honorardifferenz stellen und diese allenfalls in Betreibung setzen, wenn er das Gefühl hat, es sei bei diesem der Wohlstand ausgebrochen?
Die amtliche Verbeiständung, die daraus erwachsenden Honoraransprüche und das Verfahren zu deren Festsetzung sind öffentlich-rechtlicher Natur. Dies gilt ebenso für die zusätzliche Entschädigung nach Artikel 135 Absatz 4 Buchstabe b StPO. Das Einfordern dieser Ansprüche und deren Befriedigung kann demgemäss nicht eine bilaterale Angelegenheit zwischen Anwältin und Klient sein. Vielmehr hat die Strafbehörde, die nach Art. 135 Abs. 2 StPO den Entschädigungsentscheid fällt, auf Antrag der Verteidigung oder von Amtes wegen über die Zusprechung dieser Honorardifferenz zu befinden.
Werden die günstigen wirtschaftlichen Verhältnisse erst später bekannt, hat die ursprünglich entscheidende Behörde einen nachträglichen Entscheid nach Artikel 363ff. StPO zu fällen. Ein solches Vorgehen schliesst Missbräuche in der Art des bisher verpönten Vorgehens aus, so etwa in dem Sinne, dass zwischen Klientin und Anwalt von Anfang an die Absprache getroffen wird, dass zwar eine unentgeltliche Verbeiständung beansprucht, gleichzeitig aber - ohne Wissen der Strafbehörde - eine zusätzliche, direkt zu leistende private Vergütung vereinbart wird.