plädoyer: Über die Hälfte aller Unternehmen überleben die ersten fünf Jahre nicht. Jährlich kommt es zu 8000 Konkurseröffnungen. Meist findet gar kein Konkursverfahren statt, weil zu wenig Geld vorhanden ist. Ist dies unvermeidlich?
Matthias Häuptli: Die meisten Gläubiger scheinen sich damit abzufinden, dass im Falle eines Konkurses nichts mehr zu holen ist. Das gilt vor allem für Drittklassforderungen. Diese Situation empfinde ich als unbefriedigend. Meines Erachtens dauert es häufig zu lange, bis über eine überschuldete Firma der Konkurs eröffnet wird.
Franco Lorandi: Falls wir in Kauf nehmen, dass bei einem Konkurs die Forderungen vollständig abgeschrieben werden müssen, betreiben wir zu viel Aufwand. Konkursverfahren sind bei weitem nicht kostendeckend, der Staat legt bei diesen Verfahren drauf. Und die Gläubiger verlieren jährlich 11 Milliarden Franken. Das ist eine riesige Geldvernichtung.
Häuptli: Tatsächlich ist das zu viel Aufwand, wenn es am Schluss nichts zu verteilen gibt.
plädoyer: In der Schweiz kann man mit 20 000 Franken Stammkapital eine GmbH gründen. Ist das nicht zu wenig, um ein Geschäft erfolgreich zu betreiben?
Lorandi: Dieser Betrag ist lächerlich tief. Der Betrag wurde seit Jahrzehnten nicht angepasst. Passt man die 20 000 Franken der Inflation an, kommt man zu einem Stammkapital von 160 108 Franken. Für juristische Personen scheint mir eine Erhöhung auf mindestens 50 000 Franken unerlässlich.
Häuptli: Da bin ich anderer Meinung. Es hängt von der Art eines Unternehmens ab, ob ein Startkapital von 20 000 Franken genügt. Klar ist: Mietet eine Firma zum Beispiel Geschäftsräume, reicht dieses Kapital nicht weit. Anders ist es bei Mikrounternehmen, etwa Consultingfirmen, die wenig Betriebsmittel brauchen und keine grossen Verpflichtungen eingehen. Viele Unternehmen fangen klein an und wachsen. Das Anfangskapital sagt nichts über die Risikofähigkeit aus. Auch ein hohes Startkapital kann schnell aufgebraucht sein. Es wäre problematisch, wenn sich Mikrounternehmen nur noch als Einzelfirmen konstituieren könnten. Denn natürliche Personen können sich nach einem Konkurs nur schwer entschulden.
Lorandi: Das Mindestkapital muss für die Gründungphase und die Anfangszeit reichen. Es dauert, bis ein Unternehmen Geld verdient. Das Gründungskapital sollte einen Teil der prognostizierten Verluste für das erste Jahr abdecken.
Häuptli: Es ist illusorisch, dass ein Unternehmen alle möglichen Verlustrisiken mit dem Eigenkapital abdecken kann. Werden die Hürden zu hoch angesetzt, erfolgt eine Flucht in andere in- und ausländische Gesellschaftsformen. Eine englische «Limited» kann mit einem Pfund Mindestkapital gegründet und dann in der Schweiz mit einer Zweigniederlassung eingetragen werden. Es braucht daher Regeln, die unabhängig von der Gesellschaftsform greifen. Sie müssten im Insolvenzrecht angesiedelt sein.
Lorandi: Das sehe ich anders. Bis das Konkursamt einen Konkurs abzuwickeln hat, ist der Schaden für die Gläubiger schon zu 90 Prozent eingetreten. Wird der Konkurs mangels Aktiven eingestellt – und das ist in 60 Prozent der Verfahren der Fall –, kann das Konkursamt gar nichts mehr tun. Das Hauptproblem liegt ausserhalb des Konkursrechts und ist zeitlich vorgelagert. Es ist falsch, auf die vergangenheitsbezogene Bilanz abzustellen. Angeknüpft werden müsste an Kriterien, die betriebswirtschaftlich relevant sind, um in Zukunft zu geschäften. Wer ein Unternehmen gründet, sollte zwingend einen Businessplan und einen Liquiditätsplan erstellen müssen. Das wird heute nicht verlangt.
plädoyer: Businesspläne sind reine Prognosen. Könnten sie tatsächlich Konkurse verhindern?
Häuptli: Nein, das Problem liegt anderswo: bei der Buchführung selbst. Halten Unternehmen ihre Buchführungspflichten nicht ein, werden lächerlich tiefe Strafen ausgesprochen. In der Regel Geldstrafen in der Höhe von einigen Hundert Franken. Das schreckt nicht ab. Die Staatsanwaltschaften und Gerichte haben zu wenig erkannt, dass mit der unterlassenen Buchführung andere schwerwiegende Vermögensdelikte verdeckt werden können. Es wären deutlich härtere Strafen nötig.
plädoyer: Es gibt auch den Straftatbestand der Misswirtschaft. Trotzdem kommt es jedes Jahr zu sehr vielen Konkursen. Ist das Strafrecht wirklich ein effizientes Mittel, um Gläubiger zu schützen?
Lorandi: Wie auch sonst im Wirtschaftsleben ist das Strafrecht sicher nur Ultima Ratio. Die Staatsanwaltschaften stürzen sich nicht auf Firmenkonkurse. Ich bin aber überzeugt, dass sie in mindestens der Hälfte der jährlich 8000 Konkursfälle deliktische Handlungen fänden, wenn sie danach suchen würden. Aber das wird nicht gemacht. Anstatt des Strafrechts bräuchte es deshalb Mechanismen, die einfach prüfbar sind. Sanktion müsste sein, dass ein Unternehmen bei bestimmten Pflichtverletzungen nicht mehr weiterwirtschaften darf.
plädoyer: Woran denken Sie konkret?
Lorandi: Wir müssen im Gesellschaftsrecht ansetzen: Die Unternehmen müssten gegenüber den Gläubigern viel früher Rechenschaft ablegen. Dafür müssten die Jahresabschlüsse beim Handelsregisteramt hinterlegt werden – in Deutschland wird dies so praktiziert. Jede Person, die ein Interesse nachweist, könnte dann den Abschluss einsehen. Würde ein Unternehmen den Abschluss beispielsweise bis im März nicht hinterlegen, käme es zum Konkurs.
Häuptli: Das wäre sicher wirksam. In Grossbritannien wird der Abschluss nicht nur hinterlegt, sondern sogar im Internet publiziert.
Lorandi: Das finde ich gut. Mich stört, dass Gläubiger keine Möglichkeit haben, auf einfache Weise an Finanzinformationen zu gelangen. Betreibungsregisterauszüge sind aus vielerlei Gründen nichtssagend. Auch die Informationen von Wirtschaftsauskunfteien helfen nicht weiter. Kenne ich als Gläubiger aber den Abschluss des Unternehmens und die Vorjahreszahlen, kann ich entscheiden, ob ich dieses Unternehmen weiterhin beliefern will – oder nur noch gegen Vorauszahlung. Wenn ein Gläubiger dann trotz schlechter Bilanz liefert, muss man mit ihm kein Erbarmen haben.
plädoyer: Firmen können auch während eines Geschäftsjahrs pleitegehen. Reichen jährliche Abschlüsse?
Lorandi: Bei Unternehmen ist das Risiko vor allem in der Anfangsphase hoch. Junge Unternehmen sollten ihren Abschluss deshalb früh – erstmals beispielsweise nach einem halben Jahr – machen und hinterlegen müssen. Und die Revisionsstelle sollte diesen Zwischenabschluss ordentlich prüfen.
plädoyer: Eine Revision ist seit einigen Jahren für Firmen mit weniger als zehn Angestellten nur noch fakultativ. Ein Fehler?
Lorandi: Ja, dieses «Opting-out» halte ich für einen der grössten Fehler der letzten Jahre. Denn Unternehmen, die von einem «Opting-out» Gebrauch machen, haben ein 50- bis 100-prozentig höheres Konkursrisiko. Kleine Unternehmen sollten erst auf eine Revision verzichten dürfen, wenn sie Gewinn erzielen und ihr Kapital intakt ist.
Häuptli: Die Revisionspflicht halte ich für eine bürokratische und für die Wirtschaft sehr teure Lösung. 5000 Franken für eine Revision sind für ein kleines Unternehmen viel Geld. Es ist auch nicht so, dass die kleinen Unternehmen, die auf eine Revision verzichten, alle eine marode Buchhaltung hätten. Zudem ist die Revision kein Frühwarnsystem. Sie stellt ja erst nachträglich fest, was schiefgelaufen ist.
plädoyer: Gibt es seit der Einführung des «Opting-out» mehr Konkurse?
Häuptli: Die Unternehmenskonkurse haben massiv zugenommen. Ob das auf die Möglichkeit des «Opting-out» bei der Revision zurückzuführen ist, wissen wir nicht.
Lorandi: Eine Kausalität lässt sich kaum belegen. Das «Opting-out» sollte trotzdem gestrichen werden.
plädoyer: Heute müssen die Gläubiger die Kosten des Konkursverfahrens vorschiessen, falls die Firmenkasse leer ist. Müsste diese Vorschrift nicht abgeschafft werden?
Häuptli: In der Schweiz erfolgen die Konkurseröffnungen generell zu spät, auch weil Gläubiger das Kostenrisiko scheuen. Es wäre sicher hilfreich, wenn der Gläubiger, der das Konkursbegehren stellt, nicht für die Kosten, die bis und mit der Einstellung des Konkurses mangels Aktiven entstehen, haften müsste. Zudem ist es sehr problematisch, dass öffentlich-rechtliche Gläubiger, die am schnellsten zu einem vollstreckbaren Titel kommen, auf Pfändung betreiben dürfen und so Unternehmen im Geschäft lassen, die eigentlich konkursreif sind.
Lorandi: Ich frage mich, was sich der Gesetzgeber bei der verabschiedeten – noch nicht in Kraft getretenen – Revision des SchKG gedacht hat, wonach die öffentliche Hand wählen kann, ob sie auf Pfändung oder Konkurs betreibt. Selbstverständlich werden öffentlich-rechtliche Gläubiger weiterhin die Pfändung verlangen, statt für alle Gläubiger den Konkurs zu eröffnen, womit sie leer ausgehen würden. Die öffentliche Hand sollte Unternehmen nur auf Konkurs betreiben können. Dies hätte dann in der Regel eine wesentlich raschere Eröffnung des Konkurses zur Folge.
plädoyer: Heute profitieren Unternehmen davon, dass sie im Zeitpunkt der Konkurseröffnung keine Aktiven mehr haben. Dann wird gar kein Konkursverfahren durchgeführt, die Geschäftsführung nicht mehr untersucht. Ein Systemfehler?
Lorandi: Unternehmen, welche die Bilanz rechtzeitig deponieren und noch genug liquide Mittel haben, damit ein Konkurs durchgeführt werden kann, laufen tatsächlich Gefahr, dass die Zeit vor der Insolvenz durchleuchtet wird. Dies ist für den Unternehmer ein Risiko. Ist die Kasse dagegen leer und wird der Konkurs mangels Aktiven sogleich eingestellt, entfällt dieses Risiko. Ich schlage deshalb vor, die Konkurseinstellung mangels Aktiven bei juristischen Personen abzuschaffen.
plädoyer: Ist noch etwas Geld da, wird oft eine ausseramtliche Konkursverwaltung eingesetzt, bis das restliche Vermögen aufgebraucht ist. Wäre es nicht günstiger, wenn die Konkursämter alle Verfahren selbst durchführten?
Häuptli: Im Kanton Basel-Stadt führen wir praktisch alle Konkurse selbst durch. Ausseramtliche Konkursverwaltungen können nur im ordentlichen Konkursverfahren mit hohen Aktiven eingesetzt werden. Ordentliche Verfahren sind bei uns selten. In anderen Kantonen werden sie öfter genutzt, um Verfahren zu delegieren.
Lorandi: Ordentliche Konkursverfahren gibt es tatsächlich fast keine und damit auch keine ausseramtlichen Konkursverfahren. Die staatlichen Konkursämter können nur moderate Gebühren veranschlagen. Die Kosten sind bei ausseramtlichen Konkursverwaltungen zwar wesentlich höher, so etwa bei Grosskonkursen wie der Swissair. Dafür werden aber auch viel höhere Dividenden für die Gläubiger realisiert. Solche Verfahren werden meist von Anwälten durchgeführt.
Häuptli: Als Verwaltung haben wir nicht die Möglichkeit, für ein grosses Konkursverfahren die Kapazitäten kurzfristig auszubauen. Für solche Fälle sind ausseramtliche Konkursverwaltungen geeignet.
Lorandi: Ein Grossteil der Konkurse betrifft das Massengeschäft, das bei den Konkursämtern in besten Händen ist. Sie arbeiten gut, sind auf Konkurse spezialisiert und werden subventioniert.
plädoyer: Heute bekommen meistens das Steueramt, die Sozialversicherungen und die Angestellten eine Konkursdividende. Der Rest geht leer aus. Sind diese Privilegien fair?
Häuptli: Die Idee des Konkurses wäre eigentlich, alle Gläubiger gleich zu behandeln. Die Privilegierung verdreht diese Idee ins Gegenteil. Es ist daher zu überlegen, die Privilegien abzuschaffen. Das ist jedoch eine politische Frage.
Lorandi: In Deutschland wurden die Konkursprivilegien abgeschafft. Dies könnte man auch in der Schweiz tun, damit alle etwas vom Kuchen erhalten. Heute erhält rund ein Drittel der Gläubiger die ganze zu verteilende Konkursmasse. Die Lohnforderungen machen davon den grössten Teil aus und können für die Dauer der Kündigungsfrist auch noch für die Zeit nach Konkurseröffnung geltend gemacht werden. Ein Lieferant kann nach Konkurseröffnung keine neuen Forderungen eingeben, ein Angestellter sogar solche, die bei Konkurseröffnung noch nicht einmal bestanden: Es findet eine massive Umverteilung durch die Privilegien statt.
plädoyer: Welche der angesprochenen Änderungen könnten rasch zu Verbesserungen des Konkursverfahrens führen?
Lorandi: Abgeschafft werden sollten die Vorschusspflicht für den Gläubiger und das Privileg der öffentlichen Hand, auf Pfändung zu betreiben. Das hätte die grösste Einzelwirkung aller in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten.
Häuptli: Das sehe ich auch so. Es hätte eine präventive Wirkung, wenn der Unternehmer weiss, dass er am Ende ist, wenn er die Steuern und die AHV-Beiträge nicht mehr bezahlen kann. Ausserdem muss sich die Einstellung zu den Kapitalschutz- und Buchführungspflichten ändern. Unternehmer, die keine Buchhaltung führen oder andere elementare gesellschaftsrechtliche Pflichten nicht erfüllen, sollten voll für Gesellschaftsschulden haften müssen. Es sollte in diesen Fällen ein Durchgriff auf die rechtlichen und faktischen Organe stattfinden können. Eine solche Haftung wäre wirkungsvoll. Dies sieht man bei der direkten Haftung für die AHV-Beiträge. Viele Unternehmen schauen, dass zumindest diese Schulden bezahlt werden.
Lorandi: Ich frage mich, wie Sie den Durchgriff gestalten wollen. Es wäre ein Konstrukt, das zu einer partiellen Haftung der Organe führen würde und an einzelnen Pflichtverletzungen anknüpft. Zu klären wäre, welche Pflicht verletzt werden müsste, um eine private Haftung zu begründen. Das wäre zwar sehr effizient, aber ein grundlegender Systemwechsel, was die Haftung angeht.
Häuptli: Genau. Juristische Personen, deren Vermögen mit dem Privatvermögen der Inhaber vermischt wird, gibt es zuhauf. Bei ihnen müsste man davon ausgehen, dass die betreffenden Personen faktisch als Einzelunternehmer tätig waren und deshalb voll haften. Sie dürften keine rechtliche Hülle haben, die sie schützt. Die Figur des Durchgriffs gibt es in der Theorie, in der Praxis spielt sie heute keine Rolle. Sie ist weder im Gesetz verankert, noch gibt es eine Gerichtspraxis dazu. Dies müsste geändert werden.
Matthias Häuptli, 50, Advokat, ist seit 17 Jahren im Konkursrecht tätig und leitet das Konkursamt Basel-Stadt.
Franco Lorandi, 56, Rechtsanwalt, Zürich, lehrt seit 20 Jahren an der Uni St. Gallen Schuldbetreibungs- und Konkursrecht.