plädoyer: R. S. wurde zu einer Freiheitsstrafe von 35 Monaten und einer stationären Massnahme nach Artikel 59 StGB verurteilt. Diesen Frühling wurde er nach über elf Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Widerspricht dieses Missverhältnis zwischen Strafe und Massnahme nicht dem Gesetz?
Thomas Noll: Ich höre immer wieder von solchen Fällen, in denen das Delikt in keinem Verhältnis zur Dauer des Freiheitsentzuges steht. Das kann stossend sein. Es gibt aber auch gerechtfertigte Beispiele. Ich denke etwa an einen Schizophrenen, der eine einfache Körperverletzung beging. Er baute ein paranoides Wahnsystem auf und hatte schon konkrete Pläne, Leute in seiner unmittelbaren Umgebung zu töten. Diesen Mann musste man behandeln, denn er war extrem gefährlich. Grundsätzlich meine ich aber: Man muss mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip arbeiten und beurteilen, wann es nicht mehr verhältnismässig ist, eine therapeutische Massnahme nach Artikel 59 StGB zu verlängern.
Stephan Bernard: Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist keine klare Regelung. Was als unverhältnismässig gelten soll, bleibt offen.
Noll: Damit eine Massnahme nicht mehr verhältnismässig ist, muss sie in Relation zur Wahrscheinlichkeit und Schwere eines zu erwartenden Delikts zu lange sein.
Bernard: Da bin ich anderer Ansicht: Ein Schuldstrafrecht knüpft an der begangenen Tat an. Grundsätzlich braucht es eine Rechtfertigung, warum jemand länger inhaftiert ist, als die Strafe dauert. Wenn zu therapierende Verurteilte beispielsweise in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies sitzen, befinden sie sich in einem Freiheitsentzug. Solange die Freiheit entzogen wird, hat dies einen Strafcharakter und die Justiz muss sich dafür rechtfertigen.
plädoyer: Seit 2007 haben sich die Massnahmen nach Artikel 59 StGB mehr als vervierfacht. Laut Statistik waren am Stichtag 7. September 2016 904 Straftäter betroffen. Wie ist diese Zunahme erklärbar?
Bernard: Wir arbeiten hier mit vielen offenen Rechtsbegriffen. Einzige klare Voraussetzung für eine solche Massnahme: Es muss ein Vergehen oder ein Verbrechen vorliegen. Fast jede Straftat fällt unter diese Kategorie. Weiter braucht es eine psychische Störung. Dieser Begriff ist sehr offen. Dazu kommen unklare Begriffe wie «Gefährlichkeit», «Therapierbarkeit» und die «Verhältnismässigkeit». Es fehlt an einer klaren gesetzlichen Normierung.
plädoyer: Wie könnte man das Gesetz konkretisieren?
Bernard: Es müsste festgehalten sein, wie lange die Massnahme bei einer bestimmten Strafdauer maximal dauern darf. Und die Delikte, bei denen sie angeordnet werden darf, müssten stark eingeschränkt werden – auf schwerste Delikte wie etwa Körperverletzungen. Heute ist oft nicht die begangene, sondern die drohende Rechtsgutverletzung massgebend.
Noll: Bei Massnahmen geht es immer um die Zukunft. Das unterscheidet das Massnahmenrecht vom Strafrecht und war vom Gesetzgeber so beabsichtigt.
Bernard: Das ist eine Umdeutung des Strafrechts zum Präventionsstrafrecht. Bis vor kurzem musste die Sanktion grundsätzlich der Tat entsprechen. Das Präventionsstrafrecht betraf nur einen kleinen Randbereich. Mittlerweile haben wir bald 1000 Leute in stationären therapeutischen Massnahmen.
plädoyer: Laut Gesetz dauert der mit einer Massnahme verbundene Freiheitsentzug «in der Regel höchstens fünf Jahre». Bei vielen Verurteilten stellt die Vollzugsbehörde aber dem Gericht einen Antrag auf Verlängerung um nochmals fünf Jahre.
Bernard: Dieses Nachverfahren für die Verlängerung ist zu wenig geregelt. Immerhin geht das Gesetz davon aus, die Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme sei die Ausnahme. Im Prinzip sollte die Massnahme also innerhalb von fünf Jahren erfolgreich abgeschlossen sein. Heute ist es aber so, dass die Ausnahme zur Regel geworden ist und die Regel zur Ausnahme. Der Justizvollzug beantragt dem Gericht eine Verlängerung. Ein Psychiater empfiehlt dies, und das Gericht übernimmt seine Meinung.
plädoyer: Sind die Gerichte mit psychiatrischen Gutachten überfordert?
Bernard: Gutachter müssen sich zur Gefährlichkeit des Gefangenen in der künftigen Freiheit äussern. Dies ist eine blosse Prognose. Sie kann falsch sein, wie Untersuchungen in Deutschland zeigten. Dort musste man viele Leute, die man lange weggesperrt hatte, entlassen. Es zeigte sich, dass sehr viele Prognosen nicht zutrafen. Es gibt kein sicheres Wissen über die Zukunft.
Noll: Es ist tatsächlich ein Problem, dass die Risikobeurteilung zum Teil nicht kunstgerecht erfolgt. Man müsste die Richter besser schulen. Dies ist im Gang. Es ist aber nicht von heute auf morgen möglich, dass Richter plötzlich jedes schlechte Gutachten als solches erkennen. Meines Erachtens sollten die Gerichte die Gutachter häufiger zu den Verhandlungen vorladen und sie befragen. Das ist in Deutschland Standard.
Bernard: Die Richter müssen sich faktisch im Blindflug auf die Mediziner verlassen. Meistens liegt nur ein einziges psychiatrisches Gutachten bei den Akten. Der Gutachter hat damit ein grösseres Gewicht als jede andere Person im Justizapparat. Warum erstellt man nicht zwei unabhängige Gutachten?
Noll: Dagegen hätte ich nichts einzuwenden – das ist aber eine finanzielle Frage. Solange das nicht realisierbar ist, sollten die Richter geschult werden. Damit sie erkennen, was an einem Gutachten gut oder schlecht ist, und sie es zurückweisen können, wenn es nicht sorgfältig erstellt wurde. Das ganze Verfahren sollte möglichst transparent sein.
plädoyer: Weder Richter noch Verteidiger, noch Staatsanwälte wissen, was im Explorationsgespräch zwischen Gutachter und Beschuldigtem abläuft. Hier herrscht null Transparenz. Warum werden diese Gespräche nicht aufzeichnet?
Noll: Da hätte ich persönlich nichts dagegen. Man muss die Vor- und Nachteile einer Aufzeichnung aber abwägen. Ein Nachteil könnte sein, dass sich der Explorand dann strategischer und weniger authentisch verhält. Ich hätte im Prinzip auch nichts dagegen, wenn der Anwalt beim Explorationsgespräch dabei wäre. Er dürfte aber nicht dreinreden.
plädoyer: Die Zahlen zeigen, dass Psychiater immer seltener eine positive Prognose stellen. Weshalb?
Bernard: Auf Psychiatern und Richtern lastet ein enormer Druck. Es braucht starke Nerven, um etwa den Druck der Medien auszuhalten. Dort gilt: im Zweifel für die Inhaftierung. Und an jedem Rückfall muss jemand schuld sein – und möglichst noch persönlich dafür haften.
Noll: Als Psychiater spüre ich diesen Druck. Das politische Klima ist heute anders als vor 20 Jahren.
plädoyer: Ist die heutige stationäre Massnahme nach Artikel 59 StGB für Psychiater eine Versuchung, im Zweifel die Therapie noch einmal zu verlängern?
Bernard: Ja. Dieser Artikel hat eine wahnsinnige Verführungskraft: durch die Erhöhung der Sicherheit der Allgemeinheit, die Möglichkeit, sie ad infinitum anzuordnen. Es tönt plausibel, wenn man sagt, die betroffene Person solle noch an sich arbeiten. Artikel 59 StGB hat für alle Beteiligten nur Vorteile – ausser den Betroffenen.
Noll: Wenn der Betroffene erfolgreich therapiert werden kann, hat Artikel 59 StGB auch für ihn Vorteile. Nach altem Recht hatte man in der Verwahrung behandelbare und unbehandelbare Leute. Einen Teil der Verwahrten von früher wollte man nicht länger verwahren. Das ist sinnvoll, denn behandelbare Personen muss man nicht verwahren. Aber: Bei einigen, die man verwahren müsste, wurde eine Massnahme nach Artikel 59 StGB angeordnet, da der Gutachter dies so empfahl. Und die Richter unterschrieben dies.
Bernard: Strafrechtsprofessor Günter Stratenwerth war bereits damals einer der ganz wenigen, der eine therapeutische Massnahme ad infinitum ablehnte. Heute ist klar, dass es eine zeitliche Limitierung der therapeutischen Massnahmen und klarere Vollzugspläne bräuchte. Wenn jemand nach fünf Jahren nicht therapiert ist, dürfte die Massnahme nachher noch maximal drei oder fünf Jahre dauern.
plädoyer: Was soll man mit Leuten machen, die nachher noch gefährlich sind?
Noll: Verwahren, wenn die Voraussetzungen von Artikel 64 StGB erfüllt sind, also der Täter eine dort aufgezählte schwere Straftat beging. Und sonst freilassen. Es hat selbst mich verblüfft, dass gegen bestimmte Inhaftierte teils eine dritte Verlängerung einer Massnahme nach Artikel 59 StGB angeordnet wurde. Dabei geht es aber nur um sehr wenige Fälle. Ich würde mich für eine einmalige Verlängerung von fünf Jahren stark machen. Wenn jemand vor der ersten Verlängerung überhaupt keine positive Entwicklung zeigt, muss man diese Person als nicht therapierbar bezeichnen. Wenn sie dagegen Verbesserungen zeigt, finde ich eine Verlängerung von fünf Jahren in Ordnung.
Bernard: Zehn Jahre sind für eine stationäre therapeutische Massnahme extrem lang. Es braucht eine Limitierung: Liegt ein schweres Delikt nach Artikel 64 StGB vor, sollte eine einmalige Verlängerung zulässig sein. Bei allen anderen Delikten sollte eine Verlängerung unzulässig sein. So hätte man eine rechtsstaatliche Grenze.
plädoyer: Das Ziel der Massnahme nach Artikel 59 StGB ist die Resozialisierung. Wird sie tatsächlich angestrebt?
Noll: Bei jemandem, der im Gefängnis ist, wird sowohl die Sicherheit wie die Resozialisierung angestrebt. Wenn man jemanden, nur um ihn zu sichern, in eine Massnahme nach Artikel 59 StGB schickt, ist dies rechtsstaatlich nicht korrekt. Es muss eine Therapierbarkeit vorliegen. Das Bundesgericht hat sie so definiert: Die Massnahme muss «mit hinreichender Wahrscheinlichkeit» eine «deutliche Reduktion der Rückfallgefahr» erreichen.
Bernard: Meines Erachtens überwiegen die Sicherheitsüberlegungen gegenüber dem Resozialisierungsgedanken. In den letzten vier, fünf Jahren fand aber von professioneller Seite ein gewisses Umdenken statt. Die Richter wurden kritischer. Dies erlebte ich an Zürcher und Berner Gerichten. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kritisiert in einem Bericht nicht nur die dauerhaften Verlängerungen, sondern auch die teilweise zufälligen Therapieverläufe. Die aktuellen Standards sind also nicht professionell genug. Die Psychiater unterschätzen, dass die Akklimatisierung draussen extrem schwierig ist für Leute, die lange inhaftiert waren. Man müsste viel intensiver und mit einer viel höheren Frequenz therapieren und die betroffenen Personen früher entlassen. Die intensivere Therapie scheitert jedoch an einem Ressourcenproblem. Ich hatte einen Klienten, der während einem Jahr nur 22 Therapiestunden hatte. Das ist unhaltbar.
Noll: Auch ich bin dafür, dass man die ungefährlichen Leute tendenziell früher entlässt und sie dafür nach der Entlassung intensiver betreut. Diese Stossrichtung ist international anerkannt. Den Wissenschaftern ist klar, dass dies in Bezug auf die Rückfälle bessere Resultate bringt. In der Schweiz wird das zu wenig berücksichtigt.
Bernard: In einem Fall von mir sagte der Psychiater vor Gericht, eine ambulante Massnahme mit einem sehr engen sozialarbeiterischen Case-Management und einer intensiven ambulanten Therapie wäre denkbar. Es stelle sich aber die Frage, ob dies im heutigen Vollzug umsetzbar wäre. In den meisten Kantonen gebe es solche Möglichkeiten nicht. Der Gutachter sprach sich also tendenziell für eine ambulante Massnahme aus – krebste aber mangels Ressourcen zurück. Es wird viel zu wenig in gescheite ambulante Massnahmen mit sozialarbeiterischem Case-Management investiert. Bei einem grossen Teil der heute knapp 1000 Leute in einer stationären Massnahme würde dies reichen. Vielen Betroffenen würde man damit einen Gefallen tun. Bloss bei wenigen besteht ein Restrisiko.
Noll: Es gibt psychische Störungen, die das Setting der stationären Massnahme nicht aus Sicherheitsgründen verlangen, sondern wegen der Milieutherapie, die dort angewandt wird. In einer ambulanten Therapie hat der Betroffene ein paar Therapiestunden pro Woche. Dort ist er entweder alleine mit dem Psychiater oder in einer Gruppentherapie. Wenn die Sitzung vorbei ist, ist auch die Behandlung bis zur nächsten Sitzung vorbei. In der Milieutherapie hingegen wird man rund um die Uhr therapiert. Und zwar nicht nur von einem Therapeuten, sondern auch von den Aufsehern, den Werkmeistern oder den Sportplatzbetreuern.
Bernard: Was Sie schildern, ist ein Idealzustand. Die Milieutherapie ist von der Professionalisierung her aber im embryonalen Stadium. Es ist eine psychiatrische Mode, die überschätzt wird. Ich hatte einen Klienten, der eine chronifizierte, posttraumatische Belastungsstörung hatte und ein Delikt beging. Die posttraumatische Belastungsstörung erlitt er als Opfer eines Sexualverbrechens. Er war dann in der Strafanstalt in einem milieutherapeutischen Setting mit lauter Sexualstraftätern.
Noll: Im Einzelfall kann die Milieutherapie ungeeignet sein. Wir führten sie im Jahr 2009 in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies ein – sie ist auf gutem Weg.
Stationäre Massnahme und Verwahrung
Psychisch schwer gestörte Straftäter, die als therapierbar gelten, können nach Artikel 59 StGB zu einer stationären Massnahme verurteilt werden. Der damit verbundene Freiheitsentzug dauert laut Gesetz «in der Regel höchstens fünf Jahre». Eine Verlängerung um jeweils maximal fünf Jahre kann angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben sind und zu erwarten ist, dass man mit der Fortführung der Massnahme weitere mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehende Verbrechen verhindern kann. Damit ist die stationäre Massnahme faktisch unbefristet.
Der Freiheitsentzug nach Artikel 59 StGB ist nicht zu verwechseln mit der Verwahrung nach Artikel 64 StGB. Diese Massnahme kann vom Gericht nur bei als untherapierbar geltenden Tätern angeordnet werden, bei denen eine Wiederholungsgefahr besteht. Die Verwahrung nach Artikel 64 StGB ist zeitlich unbefristet.
Thomas Noll, 48, Jurist und Psychiater. Er arbeitet im Stab des Amts für Justizvollzug des Kantons Zürich und ist Lehrbeauftragter an den Universitäten St. Gallen und Zürich.
Stephan Bernard, 42, Rechtsanwalt und Mediator in Zürich mit Schwerpunkt Strafverteidigung.