Die Vorwürfe des Zürcher Anwalts Marcel Bossonnet an die Adresse der Zürcher Justiz waren für die Schweiz einmalig: Sein Mandant – in der Öffentlichkeit unter dem Namen Carlos bekannt – sei vom 6. bis 26. Januar 2017 im Bezirksgefängnis Pfäffikon ZH unter menschenrechtswidrigen Umständen inhaftiert gewesen. Er sei in einer ungeheizten Zelle in Einzelhaft untergebracht worden, habe ohne Matratze auf dem kalten Boden schlafen müssen, tagelang sogar ohne Wolldecke. Bosonnet: «Das einzige Kleidungsstück von Carlos war ein Hemd, Unterwäsche hatte er keine. Teilweise wurde er nur mit Wasser und Brot verpflegt.»
Weiter habe Carlos dauernd Fussfesseln tragen müssen, Hofgang sei ihm nicht erlaubt worden und er habe sich auch nicht duschen dürfen. Bosonnet: «Zudem hatte er keine Lektüre, keinen Radio und keinen Fernseher sowie kein Schreibmaterial.» Schliesslich seien Carlos auch keine Besuche der Eltern erlaubt worden und zwei Gesuche seines Anwalts um Besuche seien von der Gefängnisleitung abgewiesen worden.
In der Zelle stets Fussfesseln getragen
Der Untersuchungsbericht von Ex-Staatsanwalt Ulrich Weder bestätigt die meisten dieser Vorwürfe: Mehrere Haftbedingungen, denen Carlos im Zeitraum vom 6. bis 26. Januar 2017 ausgesetzt war, kämen aufgrund ihrer kumulativen Auswirkungen und vor allem auch mit Blick auf die Dauer von beinahe drei Wochen objektiv klar einer erniedrigenden, diskriminierenden Behandlung gleich. Carlos habe im fraglichen Zeitraum in der Zelle stets Fussfesseln getragen, nie geduscht und keine Hof- oder Spaziergänge gemacht. Auch treffe es zu, dass Carlos während der gesamten Zeitspanne bloss ein Hemd trug und meist ohne Matratze auf dem Boden habe schlafen müssen. Immerhin habe er aber «quantitativ genügend und qualitativ meistens dem Menüplan entsprechendes Essen» erhalten, schreibt Weder in seinem Untersuchungsbericht. Zugang zu Trinkwasser sei mit einer Ausnahme immer gewährleistet gewesen. Zwei Anwaltsbesuche seien bewilligt worden, wobei die Kommunikation mit dem Mandanten «durch die geschlossene Zellentüre» stattgefunden habe.
Weder verweist auf Aussagen des Personals
Weder kommt trotz all dem zum Schluss, es liege «keine verfassungs- und konventionswidrige Behandlung gemäss Art. 3 EMRK und Art. 10 Abs. 3 BV vor». Er begründet dies einerseits mit den Aussagen des Personals. Die mit Carlos befassten Mitarbeiter hätten ohne Erniedrigungs-, Demütigungs- oder Diskriminierungsabsicht gehandelt. Sie hätten vielmehr gehofft, dass Carlos sein Verhalten ändere, damit die Haftbedingungen hätten gelockert werden können. Zum anderen seien primär Sicherheitsaspekte und die Überforderung des Gefängnispersonals im Umgang mit dem querulierenden Häftling Anlass für die Haftbedingungen gewesen. Sein renitentes Verhalten sei im Rahmen der Beurteilung der Haftbedingungen ebenfalls zu berücksichtigen. «Es vermag diese zwar nicht zu rechtfertigen, aber doch zu erklären.»
Bosonnet sieht sich durch das Ergebnis der Untersuchung bestätigt: «Ich bin der Ansicht, dass mein Mandant aufgrund des weitgehend erstellten und nur in wenigen Punkten umstrittenen Sachverhalts in Beachtung der bisherigen Rechtsprechung und Lehre eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK erfuhr.»
Auch Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Uni Bern, übt Kritik am Fazit des Berichts: «Das geschilderte Verhalten von Carlos vermag dessen Behandlung nicht zu rechtfertigen», sagt er. Die Behörden und das Vollzugspersonal müssten mit solchen Extremsituationen anders umgehen können. «Allenfalls lässt das Verhalten von Carlos das Verhalten einzelner Justizvollzugsangestellten verständlicher erscheinen – eine Rechtfertigung kann ich darin aber nicht erblicken.»
Sandra Imhof, Geschäftsführerin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter, betont: «Die im Bericht Weder dargelegten Haftbedingungen sind als klar unangemessen einzustufen und lassen sich aus Sicht unserer Kommission nicht rechtfertigen.»
“Einschränkungen müssen verhältnismässig sein”
Lukas Gschwend, Professor für Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Strafrecht an der Uni St. Gallen, hält die Massnahmen für unverhältnismässig und unzulässig – insbesondere aufgrund der langen Dauer: «Dass Carlos drei Wochen nicht duschen und keine Hofspaziergänge machen durfte sowie nur einen Poncho als Kleidungsstück und während fast zwei Wochen keine Matratze hatte, verstösst prinzipiell gegen die Grundsätze und Zwecksetzung der Haft.» Falls die Einschränkungen zum Zwecke der Disziplinierung angeordnet worden seien, um Carlos «weichzukochen», seien sie unzulässig gewesen.
Laut Gschwend müssen Einschränkungen der persönlichen Freiheit auch in der Haft stets verhältnismässig sein. Der Fall zeige, «dass Bezirksgefängnisse nicht geeignet sind für die Aufnahme besonders schwieriger Insassen». Es stelle sich daher die Frage, weshalb nicht früher eine Verlegung in eine geeignetere Institution angeordnet worden sei.
In seinem Bericht erklärt Weder einige Haftbedingungen für gerechtfertigt. Die Einzelhaft etwa sei aufgrund der Beschimpfungen und Drohungen von Carlos gegenüber dem Gefängnispersonal zu dessen Sicherheit zwingend gewesen. Auch die Verpflegung, Einschränkungen des Besuchsrechts und das Verweigern von Lese- und Schreibmaterial werden im Bericht nicht beanstandet.
Am Ende des Berichts gibt Weder Empfehlungen für gleich oder ähnlich gelagerte Extremfälle. Er fordert genügend Personal sowie bauliche Veränderungen, die beispielsweise Hof- oder Spaziergänge sowie die Körperhygiene gewährleisten könnten, ohne dass dabei ein persönlicher Kontakt des Gefängnispersonals mit dem Gefangenen notwendig wäre.