Politik und Rechtsprechung erarbeiten fern von der Praxis Entscheide, die sich in sehr vielen Einzelfällen - also bei konkreten Menschen aus Fleisch und Blut - existenziell vernichtend auswirken. In der alltäglichen Praxis der Medizin, besonders in der Psychiatrie und in der Psychotherapie, begegnen wir Menschen, die sich in grosser Not befinden. Die behandelnden Fachleute befinden sich an der Front leidender Menschen. Das ist die Arbeit der Behandlungsmedizin.
Daneben hat sich, fern von dieser Front, im Hintergrund eine andere Medizin, die Versicherungsrechtsmedizin, etabliert. Sie kann die Arbeit der Ärzte und besonders deren Diagnosen und Prognosen aufheben und wirkungslos machen. Dies führt zur Entmündigung der Behandlungsmedizin und zur willkürlichen Verfügung über das Leben von Patienten durch medizinische und psychiatrische Laien, nämlich Juristen.
Die so «behandelten» Prämien- und Steuerzahler (Patienten) verlieren damit nicht nur ihren Glauben an den Sozial- und Rechtsstaat, weil sie sich in ihrem Rechtsempfinden schwer verletzt fühlen. Vielmehr werden sie durch dieses «Rechts-»Verständnis einer oligarchen Versicherungsrechts-Elite real als Sozialhilfeempfänger ausgegrenzt.
Der spezielle Winkelzug, der hier zur Anwendung kommt, ist die willkürliche Spaltung der Medizin. Durch diese Spaltung entstanden zwei verschiedene Bereiche, die unverbunden sind und füreinander unverbindlich bleiben: Behandlungsmedizin versus Versicherungsrechtsmedizin.
Rechtsprechung bestimmt medizinische Diagnosen
Mit dieser Spaltung grenzt sich die Versicherungsrechtsmedizin von den medizinischen Leistungserbringern, den behandelnden Ärzten und Therapeuten, ab. Sie übernimmt das Diktat darüber, was Krankheit ist und was nicht. Die behandelnden Ärzte sind so als
Diagnostiker entmündigt. Das ist ein Widerspruch in sich, weil die behandelnden Ärzte schliesslich nach ihren Diagnosen behandeln müssen. Die Folge: Anstelle der behandelnden Ärzte bestimmt letztlich die Rechtsprechung über die medizinischen Diagnosen.
Um diese Verdrehung der Realität zu rechtfertigen, erlaubt sich die Rechtsprechung Übergriffe. Solche sind nötig, wenn Laien die Ärzte ersetzen sollen: Bundesrichter und Professor Ulrich Meyer geht in dem 2009 publizierten Werk «Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff» von «unbewiesener Anspruchsgrundlage» aus, die in Zusammenhang gebracht werden soll mit «anerkannten Beweisregeln» (Meyer, Beweisführung, 2006). Psychotherapeuten würden das als narzisstischen Anspruch klassifizieren.
Ein anderer Übergriff von Professor Ulrich Meyer besteht in seinem kapriziösen Umgang mit dem Krankheitsbegriff. Mit einem «sprachlogischen» Trick macht er den bisher angewandten und immer noch gültigen Krankheitsbegriff untauglich und juristisch angreifbar: Er erklärt den Krankheitsbegriff als Tautologie. Damit seien der «Aussagegehalt» und die «normative Steuerungsfähigkeit» (sic!) dieser Legaldefinition «äusserst gering».
Er selbst hat nicht die Absicht, eine «bessere» Definition zu geben. Vielmehr will er die alte Definition aushebeln, um die Norm «steuern» zu können: Mit der Infragestellung des Krankheitsbegriffs wird eine Grundlage geschaffen, um ärztliche Diagnosen und Prognosen ausser Kraft zu setzen.
Tendenziös fragt Meyer in den «Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff»: «Was ist nun Krankheit im medizinischen Sinne?» Er weiss die Antwort gleich selbst: «Die Medizin weiss es selber nicht.» Mit anderen Worten: Er bezichtigt die Mediziner der Scharlatanerie. Der Jurist Meyer zieht eine Berufskollegin bei, welche dem «sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff auf Grund seiner leistungsorientierten Komponente eine einschränkende Funktion» zuspricht.
Hier findet also die Wende statt: Nachdem verschiedenen Krankheitsmodellen rechtliche Geltung abgesprochen wurde, wird ein neuer Krankheitsbegriff eingeführt, der dem Sozialversicherungsrecht entgegenkommt und im Meyerschen Sinn «steuerungsfähig» ist.
Versicherung bezahlt lieber Gutachter als Versicherte
Wir lesen es immer neu in den Medien, wie Begutachtungsinstitutionen, die von ihren Auftraggebern weitgehend abhängig sind, ihren Auftraggebern die Leistungsverweigerung empfehlen. Sie arbeiten durchwegs mit dem Krankheitsbegriff des Sozialversicherungsrechts. Der sogenannt «Versicherte» erfährt dann, dass er plötzlich nicht mehr versichert
ist. Sein Rechtsempfinden wird schwer verletzt. Professor Meyer sagt es in den «Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff» so: «Der betroffenen Person muss klargemacht werden, dass sie zwar aus medizinischer Sicht krank und arbeitsunfähig ist, es aber aus juristischer Sicht nicht sein soll, weil die Morbiditätskriterien nicht erfüllt sind, an deren Vorhandensein die Rechtsprechung die Leistungsberechtigung knüpft.»
Von der Spaltung der Medizin in eine Behandlungs- und eine Versicherungsrechtsmedizin profitiert eine neue Gilde der Mediziner: Gewisse Mediziner sind bereit, sich gegen ihre behandelnden Kollegen in den Dienst der Versicherungen zu stellen und gegen teures Geld versicherungsfreundliche Gutachten bis zu Aggravationsdiagnosen abzuliefern.
Fatale Folgen des Zwangs zur Wirtschaftlichkeit
Die Versicherung scheint lieber den Gutachter als den Versicherten zu zahlen. Das rechtfertigt sich durch die Behauptung «medizinisch unklarer syndromaler Zustände ohne fassbare Befunde» - wiederum Bundesrichter Meyer in den «Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff».
Die Sicht der Patienten: Sie fühlen sich verkannt und verraten. Sie fühlen sich in ihrem Rechtsempfinden zutiefst verletzt, verlieren den Glauben an den Staat und beginnen, gegenüber dem Rechts- und Versicherungssystem eine feindliche Haltung einzunehmen. Das Resultat ist eine allmähliche Isolation, ein Ausgeschlossensein von der Gesellschaft. Der Krankheitsbegriff der Versicherungsrechtsmedizin hat in gewissen Fällen fatale Folgen, die Patienten werden behandlungsresistent.
Wenn Schmerzstörungen und die damit immer verbundenen depressiven Störungen willentlich behoben werden könnten, wäre Psychotherapie reine Pädagogik. In diesem Sinne fungieren heute die Sozialversicherungsrechtler als autoritäre Erzieher: «Der betroffenen Person muss klargemacht werden...», schreibt Professor Meyer in den «Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff».
Es wäre hilfreich, wenn mehr Ärzte und Psychotherapeuten sich der Situation der Patienten entschiedener annehmen würden, um rückgängig zu machen, was in den letzten Jahren unter dem Zwang der Wirtschaftlichkeit an Mitmenschlichkeit verloren ging. Empörung ist angesagt. Denn hier kann ich nur feststellen: Es mischen sich Laien ein, sogenannte Sozialversicherungsrechtler, und sie massen sich Urteile an in einer Angelegenheit, von der sie schlicht keine Ahnung haben.