Der Richter ist der eigentliche Herr über das Arbeitsrecht»,2 «das Richterrecht bleibt unser Schicksal.»3 So lautete in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts das pointierte Fazit des Göttinger Arbeitsrechtsprofessors Franz Gamillscheg in seinem Werk über die Grundrechte im Arbeitsrecht. Zu einem ähnlichen Schluss kam Ingo Brasat in seiner Dissertation über das Richterrecht im Arbeitsrecht von 1975: «In keinem anderen Rechtsgebiet ist die Bedeutung des Richterrechts so gross wie im Arbeitsrecht. Hier spielt das Richterrecht sogar die dominierende Rolle.»4 Und Erich Frey schätzte bereits 1955, dass rund 80 Prozent des Bestands des materiellen Arbeitsrechts auf richterlicher Rechtsschöpfung beruhen.5
Auch wenn diese Zitate den deutschen Rechtskreis im Auge haben und schon einige Zeit zurückliegen, ist die Aussage wenig gewagt, dass der Befund in der Schweiz ein vergleichbarer ist, bis heute andauert und sich – wie die folgenden Ausführungen nahelegen – in Zukunft noch akzentuieren dürfte. Es ist damit zu rechnen, dass sich die Taktgeberfunktion der Gerichte, die sie im Bereich des Arbeitsrechts seit jeher innehaben, weiter verstärken wird.6 Das ist legitimationsrechtlich nicht unbedenklich, da nach traditionellem Rechtsverständnis Rechtsschöpfung und Rechtsentwicklung zumindest in ihren zentralen Grundzügen Sache der Gesetzgeber sind und die Gerichte auf den ihnen so vorgegebenen Rechtsrahmen verpflichtet sind.
1. Gründe für die Taktgeberfunktion der Gerichte
1.1 Quantitative Bedeutung des Richterrechts
Dem Geschäftsbericht des Schweizerischen Bundesgerichts für das Jahr 2018 ist zu entnehmen, dass unser oberstes Gericht in jenem Jahr 108 Fälle aus dem Bereich Arbeitsvertrag erledigt hat.7 Damit stammte mehr als jeder sechste Entscheid, den das Bundesgericht im zentralen Bereich des Obligationenrechts zu fällen hatte, aus dem Arbeitsrecht. Dieses Rechtsgebiet liegt damit hinter den Streitigkeiten aus Miete und Pacht an zweiter Stelle und übertrifft an Urteilen andere obligationenrechtliche Rechtsbereiche wie z.B. den Kauf, den Werkvertrag, den Auftrag oder das Gesellschafts- und Haftpflichtrecht deutlich, oft um ein Mehrfaches.8
Würde man Streitigkeiten aus dem Bereich des öffentlichen Personalrechts,9 der Arbeitsgesetzgebung10 oder des Personalverleihs und der Personalvermittlung11 hinzurechnen und weiter berücksichtigen, dass von den insgesamt 1714 Urteilen zum Sozialversicherungsrecht ein erheblicher Anteil zumindest teilweise auch arbeitsrechtliche Fragestellungen zum Gegenstand gehabt haben wird,12 wird der zumindest in quantitativer Hinsicht hohe Stellenwert des Arbeitsrechts in der Rechtsprechung und spiegelbildlich die Bedeutung des Richterrechts für dieses Rechtsgebiet noch deutlicher. Dies gilt umso mehr, als nur ein geringer Bruchteil arbeitsrechtlicher Streitigkeiten überhaupt an das Bundesgericht gelangt, sei es, weil die entsprechenden Rechtsmittelvoraussetzungen nicht erfüllt sind, sei es, weil die Parteien ein erst- oder zweitinstanzliches Urteil der kantonalen Gerichte akzeptieren und nicht weiterziehen. Auch wenn schweizweite statistische Daten fehlen, kann als gesichert gelten, dass die Gerichte hierzulande Jahr für Jahr Tausende arbeitsrechtlicher Urteile fällen.13
Die grosse Bedeutung des Richterrechts im Arbeitsrecht deckt sich mit einer empirischen Untersuchung der amtlichen Sammlung des Bundesgerichts von 1989 bis 2018: Die Auswertung des Forschungsmaterials hat für den Bereich des Zivilrechts nicht weniger als 227 Leitentscheide mit arbeitsrechtlichem Bezug zu Tage gefördert, was einem Jahresdurchschnitt von 7,6 Urteilen entspricht.14
Allein der Umstand, dass Richter jährlich in Tausenden von arbeitsrechtlichen Fällen Recht sprechen, führt unvermeidbar dazu, dass sie das Arbeitsrecht prägen und damit auch weiterentwickeln. Eine erste Erklärung dafür, weshalb die Gerichte in arbeitsrechtlichen Belangen so häufig angerufen werden, ist naheliegend: Rund 85 % der Erwerbstätigen in der Schweiz sind in abhängiger Arbeit beschäftigt.15 Diese grosse Anzahl von Arbeitsverhältnissen hat eine direkte Reflexwirkung auf die Häufigkeit arbeitsrechtlicher Prozesse, denn mit der steigenden Anzahl vertraglicher Beziehungen nimmt auch das Potenzial für gerichtliche Streitigkeiten zu.
Hinzu kommt, dass Arbeit haben für das Gros der Bevölkerung eine Frage der Existenzsicherung ist, geht es doch für die meisten Arbeitnehmenden um die notwendige Erzielung eines Einkommens zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts, oft auch jenes der Familie oder anderer Angehöriger. Es steht also viel auf dem Spiel. Das erhöht die Bereitschaft, den Rechtsweg zu beschreiten.
Ein weiterer, vor allem forensischen Praktikern bekannter und nicht zu unterschätzender Faktor liegt darin, dass mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen oft Enttäuschungen, Verletzungen und ganz generell das Gefühl, nicht fair behandelt worden zu sein, einhergehen. Auch dies kann die Streitbereitschaft vor Gericht fördern.
Schliesslich tragen verschiedene verfahrensrechtliche Erleichterungen dazu bei, dass losgelöst von der Motivlage die Anrufung der Gerichte im arbeitsrechtlichen Kontext leichter möglich ist und insofern ebenfalls gefördert wird. Dies gilt besonders für das für arbeitsrechtliche Streitigkeiten typische vereinfachte Verfahren nach Art. 243 ff. ZPO, zumal in der Regel auch eine Kostenbefreiung nach Art. 113 f. ZPO Platz greift.
1.2 Fragmentierung des Schweizer Arbeitsrechts
Die arbeitsrechtlichen Rechtsbeziehungen werden in der Schweiz nicht durch eine gesamtrechtliche Kodifikation geregelt, sondern durch ein ausserordentlich dichtes und komplexes Netz verschiedenartiger Normen auf unterschiedlichen Hierarchiestufen.16 Während andere vertragliche Rechtsbeziehungen ausschliesslich oder mindestens im Wesentlichen durch Gesetz und Parteivereinbarung geordnet werden, treten beim Arbeitsvertrag besondere Rechtsquellenarten hinzu, so etwa Gesamt- und Normalarbeitsverträge, Betriebsordnungen sowie Allgemeine Anordnungen und Weisungen der Arbeitgeber.17 Dazu kommt eine kaum mehr überschaubare Ansammlung öffentlich-rechtlicher Bestimmungen, die auf das Arbeitsrecht einwirken, beispielsweise des Arbeitsgesetzes und seiner Verordnungen, des Gleichstellungsgesetzes, des Mitwirkungsgesetzes, des Datenschutzgesetzes, des Ausländer- oder des Sozialversicherungsrechts.
Das schweizerische Arbeitsrecht erweist sich aber nicht nur als stark fragmentiert, sondern mindestens in Teilen auch als lückenhaft, wenig koordiniert und in manchen Fällen gar als widersprüchlich. Beispielhaft kann hier das Arbeitsgesetz und sein Zusammenspiel mit dem Arbeitsprivatrecht des Obligationenrechts erwähnt werden. So ist etwa bis heute ungeklärt, ob der zentrale Begriff der Arbeitszeit im Arbeitsgesetz und im Obligationenrecht derselbe oder aber ein unterschiedlicher ist, um nur ein besonders augenfälliges Beispiel zu nennen. Die Frage ist von praktischer Bedeutung, wie aktuelle Diskussionen z.B. um Fragen der ständigen Erreichbarkeit, der Arbeit auf Abruf oder der Umziehzeiten in Spitälern belegen.18
Komplizierend kommt hinzu, dass ein und derselbe arbeitsrechtliche Begriff je nach Regelungsbereich, in dem er Verwendung findet, eine unterschiedliche Bedeutung einnimmt. So haben etwa das Obligationenrecht, das Sozialversicherungsrecht, das Ausländerrecht, das Steuerrecht und das Arbeitsschutzrecht je ihre eigenen Kriterien entwickelt, um zu beurteilen, ob überhaupt ein Arbeitsverhältnis vorliegt.19 Dies bringt es beispielsweise mit sich, dass die gleiche Person im Sinn des Sozialversicherungsrechts Arbeitnehmer sein kann, während sie unter dem privatrechtlichen Blickwinkel des Obligationenrechts die dafür vorausgesetzten Kriterien nicht erfüllt und so auch nicht von dessen Schutzbestimmungen wie z.B. Ferien, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Kündigungsschutz profitiert.
Es liegt auf der Hand, dass in einer so heterogenen, teils lückenhaften, teils gar widersprüchlichen Gemengelage der Einfluss der Gerichte bei der Koordination und Anwendung der einzelnen Rechtsquellen zunimmt. Fehlt es an einem konzisen gesetzlichen Konzept, an klaren Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Koordinationsbestimmungen, wie dies im Arbeitsrecht häufig der Fall ist, sind es letztlich die Gerichte, die einen Ausweg aus dem arbeitsrechtlichen Normendschungel finden und weisen müssen.
1.3 Lücken intra legem (Delegationslücken)
1.3.1 Begriff und Wesen
Die juristische Methodenlehre unterscheidet unter anderem Lücken intra legem, also Lücken innerhalb des Gesetzes. Eine solche Lücke liegt vor, wenn das Gesetz eine Frage zwar regelt, sich aus der betreffenden Norm aber für den zu beurteilenden Sachverhalt noch keine konkrete bzw. schlüssige Rechtsantwort ergibt, sondern zusätzliche Wertungen vorgenommen werden müssen, die sich dem Gesetz nicht direkt entnehmen lassen.20 Erscheinungsformen sind vor allem Generalklauseln, die auch als allgemeine Rechtsgrundsätze bezeichnet werden, unbestimmte Rechtsbegriffe und gesetzliche Verweisungen, insbesondere auf das richterliche Ermessen.21 Lücken intra legem werden auch als Delegationslücken bezeichnet, da das Gesetz die Schaffung der für den konkreten Fall massgeblichen Entscheidgrundlagen an die Gerichte delegiert.22 Sie sind ein greifbares Anschauungsbeispiel für den fliessenden Übergang der verschiedenen Rechtsfindungsstufen, wie sie Art. 1 ZGB zugrunde liegen. Wohl liegt in diesen Fällen formell noch immer Auslegung von Gesetzesrecht vor, weil sich die Rechtsfindung noch innerhalb des Wortsinns der fraglichen Norm bewegt.23 Der Interpretationsspielraum ist bei der Anwendung so offen gehaltener Vorschriften aber derart gross, dass faktisch das Vorliegen einer Lücke, die Notwendigkeit ihrer Füllung und damit das Entstehen von Richterrecht, verstanden als über den blossen Gesetzesvollzug hinausreichende Rechtsschöpfung, nicht zu übersehen ist.24
1.3.2 Starke Verbreitung im Arbeitsrecht
Die im eben beschriebenen Sinn vollzogene Entscheidungsdelegation vom Gesetzgeber an die Gerichte trifft in stark ausgeprägtem Mass auf das Arbeitsrecht zu. Namentlich das Arbeitsprivatrecht des Obligationenrechts in den Art. 319–362 OR ist gespickt mit Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen und Verweisungen auf richterliches Ermessen. Dies machen die folgenden, auf für die Praxis besonders bedeutsame Fallgruppen fokussierten und bei weitem nicht abschliessenden Beispiele deutlich:25
Generalklauseln bzw. allgemeine Rechtsgrundsätze: Der zentrale Grundsatz von Treu und Glauben findet sich etwa in Art. 321a Abs. 1 OR (Mass der Sorgfalts- und Treuepflicht), Art. 336 Abs. 1 lit. d OR (Voraussetzung für die Anspruchserhebung zur Geltendmachung einer Rachekündigung) und Art. 337 Abs. 2 OR (Massstab zur Bestimmung des Vorliegens eines wichtigen Grunds für die fristlose Kündigung). Auch das Rechtsmissbrauchsverbot bzw. die auf seiner Grundlage entwickelten Fallgruppen spielen im Arbeitsrecht eine ganz erhebliche Rolle.26
Unbestimmte Rechtsbegriffe: Der Gesetzgeber benutzt unbestimmte Begriffe wie Angemessenheit, Billigkeit, Zumutbarkeit, Umstände, begründeter Anlass oder wichtige Gründe etwa in Art. 321c Abs. 1 OR (Pflicht zur Leistung von Überstunden in zumutbarem Rahmen) oder Art. 324a Abs. 2 OR (besondere Umstände und Angemessenheit als Kriterien zur Bestimmung der Dauer der Lohnfortzahlung bei unverschuldeter Arbeitsverhinderung).27
Verweisungen auf richterliches Ermessen: Ein Verweis auf richterliches Ermessen findet sich etwa in Art. 337 Abs. 3 OR (Umstände für das Vorliegen eines wichtigen Grunds zur fristlosen Entlassung) und in Art. 339c Abs. 2 OR (Umstände zur Festsetzung einer der Höhe nach nicht bestimmten Abgangsentschädigung). Eine Sonderstellung nimmt die per 1. Januar 2014 mit der neuen Sozialplangesetzgebung in Kraft getretene Befugnis der Gerichte ein, unter bestimmten Voraussetzungen autoritär einen Sozialplan aufzustellen. Hier hat der Gesetzgeber gänzlich davon abgesehen, den Gerichten inhaltliche Vorgaben in qualitativer oder quantitativer Hinsicht zu machen.28
1.3.3 Stärkung der Rolle der Gerichte
Wie sehr solche Lücken intra legem für das Arbeitsrecht charakteristisch sind und damit die Rolle der Gerichte stärken, zeigt sich exemplarisch an Art. 340a OR, also an jener Bestimmung, welche nachvertraglichen Konkurrenzverboten in örtlicher, zeitlicher und gegenständlicher Hinsicht Schranken setzt.29 In den lediglich zwei Sätzen dieser Norm kombiniert der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe und Verweisungen auf richterliches Ermessen und greift dabei nicht weniger als acht Mal ins Regal so offen gehaltener Formulierungen:
«Das Verbot ist nach Ort, Zeit und Gegenstand angemessen zu begrenzen, sodass eine unbillige Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens des Arbeitnehmers ausgeschlossen ist; es darf nur unter besonderen Umständen drei Jahre überschreiten.
Der Richter kann ein übermässiges Konkurrenzverbot unter Würdigung aller Umstände nach seinem Ermessen einschränken; er hat dabei eine allfällige Gegenleistung des Arbeitgebers angemessen zu berücksichtigen.»
Angesichts dieser umfassenden Kompetenzdelegation an die Gerichte überrascht es wenig, dass die Frage der Beschränkung von übermässigen Konkurrenzverboten durch ein äusserst reichhaltiges und dynamisches Richterrecht bestimmt wird.30 Ein weiterer, praktisch bedeutsamer Anwendungsfall von Delegationslücken im Multipack findet sich in Art. 337 OR, der die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung umschreibt und dabei unter anderem auf «wichtige Gründe», «Treu und Glauben» und das «Ermessen» des Gerichts abstellt.
Die Stärke dieser offenen Gesetzgebung liegt darin, dass sie es den Gerichten erlaubt, den Umständen des konkreten Einzelfalls besser Rechnung zu tragen. Dies deshalb, weil sie dem von ihnen zu entscheidenden Fall, seinen spezifischen Eigenheiten, aber auch den Prozessparteien zwangsläufig näherstehen und sie besser kennen als der Gesetzgeber, was die Gerichte zu einzelfallgerechteren Entscheiden befähigt. Ein weiterer Vorteil offener Gesetzesnormen ist der Zugewinn an dynamischer Regelungskraft für zukünftige gesellschaftliche, soziale oder technologische Entwicklungen, da sie so generell formuliert sind, dass ihr Wortlaut auch neu entstehende Fragestellungen auffangen kann. So können unter den Begriff des wichtigen Grunds nach Art. 337 OR beispielsweise auch Internet-Missbrauchsfälle am Arbeitsplatz subsumiert werden, obwohl seinerzeit, als die Bestimmung am 1. Januar 1972 in Kraft trat, das Internet in seiner heutigen Form noch gar nicht erfunden war.
Diese Stärken sind aber Schwächen zugleich, indem die Anwendung von dergestalt wenig spezifischen Normen auf den jeweiligen individuellen Fall einen hohen Konkretisierungsbedarf durch die Rechtsanwender und damit letztlich durch die Gerichte erfordert. Wie bereits kurz erwähnt, liegt in einer solchen Konstellation zwar nach traditionellem Methodenverständnis formell noch immer Auslegung von Gesetzesrecht vor.31 Der Gesetzgeber hat aber nur noch dem Schein nach das Sagen, de facto liegt die rechtliche Gestaltungskraft wegen des grossen Interpretationsspielraums bei den Gerichten. Dies kann Bedenken insbesondere in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung wecken. Auch drohen Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit, weil die Gerichte bei der Anwendung dieser offenen Normen zu unterschiedlichen Schlüssen und Urteilen kommen können, auch wenn Fälle gleichgelagert sind.32 Pointiert und mit ausdrücklich arbeitsrechtlichem Blickwinkel spricht Franz Gamillscheg in diesem Zusammenhang von einem Versagen des Gesetzgebers.33 Diese teils weit ins Verfassungsrecht reichenden Fragen können hier nicht vertieft werden. Tatsache ist jedenfalls, dass der schweizerische Gesetzgeber zentrale Regelungsbereiche des Arbeitsrechts durch grosszügige Implementierung von Lücken intra legem und damit durch bewussten Entscheid in die Hände der Gerichte gelegt hat. Damit ist deren Einflussnahme auf die Fortentwicklung des Arbeitsrechts auch unter diesem Blickwinkel eine erhebliche.
1.4 Niedrigere Taktfrequenz der Gesetzgeber
Der Befund, dass gesetzgebende Instanzen bei der Regelung neuer wirtschaftlicher, sozialer oder technologischer Fragestellungen oft hinterherhinken und ihre Taktfrequenz bei der Schaffung neuen Rechts im Vergleich zum Richterrecht eine niedrigere ist, ist weder eine neue noch eine arbeitsrechtliche Besonderheit. Dass Gerichte schneller als die Gesetzgeber auf neue Fragestellungen reagieren können, ist bereits systembedingt: Während das Gesetzgebungsprozedere in der Schweiz mehrere Phasen durchläuft und in der Regel Jahre beansprucht,34 können und müssen Gerichte schneller und unkomplizierter entscheiden, manchmal innert weniger Monate und Wochen oder – etwa bei vorsorglichen Massnahmen – gar innert Tagen seit ihrer Anrufung.35
Der steinigere Weg, den die Gesetzgeber bei der Schaffung neuen Rechts im Vergleich zu den Gerichten zu beschreiten haben, schlägt sich im Arbeitsrecht in besonderem Mass nieder. Die wirtschaftliche Entwicklung und der technologische Fortschritt wirken unmittelbar auf die Arbeitswelt ein, führen zu neuen Bedürfnissen, zu neuen Arbeitsformen und damit auch zu neuen Rechtsproblemen und neuem Regelungsbedarf.36 Besonders deutlich zeigt sich dies an den Herausforderungen, welche die Digitalisierung an das Arbeitsrecht stellt. Der wirtschaftliche und technologische Wandel erfolgt dabei zunehmend in einem Tempo, mit dem die Gesetzgeber, selbst wenn sie es wollten, nicht mehr Schritt zu halten vermögen.37 Umso bedeutsamer wird damit – neben der Praxis in den Betrieben, zwischen den Sozialpartnern und bei den Behörden – die Funktion der Gerichte, für die sich neu stellenden Fragestellungen Lösungen bereitzustellen, um so ein Regelungsvakuum zu vermeiden bzw. zu überwinden.38
1.5 Ringen um Revisionsvorhaben
Über die eben beschriebene, im Wesentlichen systembedingt niedrigere Taktfrequenz der Gesetzgeber hinaus zeigt das Schicksal aktueller Gesetzgebungsprojekte, dass sich diese im Kontext arbeitsrechtlicher Revisionsvorhaben bisweilen besonders schwertun. Das Arbeitsrecht widerspiegelt in besonderem Mass die sich ständig und rasch wandelnden Verhältnisse in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.39 Infolgedessen steht es exponiert im Fokus der politischen Auseinandersetzung, womit Interessendenken an Bedeutung gewinnt. Das ist legitim und entspricht demokratischen Spielregeln, kann aber dazu führen, dass das interessengetriebene Ringen um Detaillösungen in eine Blockade mündet, welche das ganze Projekt gefährdet, mindestens aber um Monate oder gar Jahre zurückwirft.
Beispielhaft können in diesem Zusammenhang die rund fünfzehnjährigen, letztlich erfolglos gebliebenen Bemühungen um die Einführung einer Whistleblowinggesetzgebung genannt werden, die im Frühling 2020 mit einem Nichteintretensentscheid des Nationalrats ihr definitives Ende gefunden haben. Und dies, obwohl im Parlament das Vorliegen eines Regelungsbedarfs während langer Zeit von einem breiten Konsens getragen war.40 Ungeachtet dieses anhaltenden gesetzlichen Vakuums waren die Gerichte in den letzten Jahren wiederholt mit Whistleblowingfällen konfrontiert und mussten somit – ob sie es wollten oder nicht – als Ersatzgesetzgeber Lösungen für die sich stellenden Rechtsfragen finden.41
Das oft zähe und viel Zeit in Anspruch nehmende Ringen, wenn es um den Erlass neuer oder revidierter arbeitsrechtlicher Normen geht, kann an zwei weiteren Beispielen veranschaulicht werden: Einerseits sind die jahrelangen Bemühungen um die Revision der Arbeitszeiterfassungs- und Dokumentationspflicht zu nennen, die mit der Inkraftsetzung der neuen Art. 73a und 73b ArGV 1 am 1. Januar 2016 dann doch noch einen zumindest vorläufigen Abschluss gefunden haben.42 Andererseits kann das derzeit sistierte Vorhaben, das Sanktionensystem des Kündigungsschutzrechts einer Neuordnung zu unterziehen, angeführt werden.
Im Zuge des beschriebenen, letztlich gescheiterten Whistleblowinggesetzgebungsprojekts erwog der Bundesrat ursprünglich eine allgemeine Verbesserung des Kündigungsschutzes. Nach kontroversen Rückmeldungen aus der Vernehmlassung hat er dann aber diesen zweiten Teil des Gesetzgebungsprojekts vorläufig sistiert und eine Studie in Auftrag gegeben, auf deren Basis und unter Beizug der zuständigen Kommissionen und Sozialpartner über das weitere Vorgehen beschlossen werden soll.43
Ganz unabhängig von diesen beispielhaft aufgezeigten Mühen bei der Schaffung neuen Arbeitsrechts ist dessen in den Art. 319–362 OR niedergelegte Kernbereich von einer überschaubaren Revisionskadenz geprägt. Grössere oder gar grundlegende Revisionsvorhaben sind selten, auch in jüngerer Zeit. Führt man sich die seit dem 1. Januar 1989, dem Inkrafttreten des neuen Kündigungsrechts, umgesetzten Revisionsvorhaben vor Augen, entsteht nur auf den ersten Blick der Eindruck einer vergleichsweise regen Gesetzestätigkeit.44
Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die meisten Revisionsvorhaben von materiell eher untergeordneter, teils gar marginaler Bedeutung sind. In etlichen Fällen handelt es sich um blosse sprachliche oder formelle Anpassungen, die aufgrund von Neufassungen anderer Gesetze notwendig wurden.
Von grösserer materieller Gestaltungskraft kann wohl nur in folgenden Fällen gesprochen werden: die Inkraftsetzung von Art. 328b OR als besondere arbeitsrechtliche Datenschutzvorschrift am 1. Juli 1993, das Inkrafttreten der Bestimmungen zum Betriebsübergang und zur Massenentlassung im Rahmen des sog. Swisslex-Pakets am 1. Mai 1994, die Einführung des Normalarbeitsvertrags mit Mindestlöhnen als Teil der flankierenden Massnahmen am 1. Juni 2003 bzw. 2004, die Anpassungen in den Art. 324a, 329, 329b, 329f und 362 OR im Zuge der Einführung des 14-wöchigen Mutterschaftsurlaubs am 1. Juli 2005, die unter bestimmten Voraussetzungen greifende Sozialplanpflicht bei grösseren Entlassungsvorhaben in den am 1. Januar 2014 in Kraft getretenen Art. 335h–335k OR und schliesslich das am 1. Januar bzw. 1. Juli 2021 in Kraft gesetzte «Urlaubspaket», dessen Kern die neuen Art. 329g (Vaterschaftsurlaub), 329h (Betreuungsurlaub für Angehörige) und 329i OR (Betreuungsurlaub für gesundheitlich schwer beeinträchtigte Kinder) bilden.
Die Zurückhaltung bei der Schaffung neuen Rechts muss dem Gesetzgeber nicht zwingend zum Vorwurf gemacht werden, da man durchaus die Auffassung vertreten kann, dass sich das bestehende Arbeitsprivatrecht der Art. 319–362 OR bewährt. So oder anders ist jedenfalls festzustellen, dass sich die schweizerischen Gesetzgeber bei der Schaffung neuer arbeitsrechtlicher Normen in Zurückhaltung üben, was die Taktgeberfunktion der Gerichte zur Verhinderung bzw. Überwindung einer Regelungslücke zusätzlich begünstigt.
1.6 Emanzipation vom geschriebenen Arbeitsrecht
Am eben schon kurz angesprochenen Kündigungsschutzrecht zeigt sich beispielhaft eine weitere Entwicklung, welche die Hypothese stützt, dass das Richterrecht in arbeitsrechtlichen Fragen gegenüber der gesetzlichen Rechtsfortbildung weiter an Bedeutung gewinnt. Dies nicht nur dort, wo die Gesetzgeber untätig bleiben, sondern auch aus eigenem Antrieb der Gerichte. So haben sie, angeführt vom Bundesgericht, das zentrale Kündigungsschutzrecht des Obligationenrechts in den letzten Jahren bemerkenswert dynamisch weiterentwickelt und punktuell markant verbessert. Als wohl augenscheinlichste Beispiele können die neuen, durch Richterrecht geschaffenen Missbrauchstatbestände der Alters- und Konfliktkündigung genannt werden.45 Für den Fall interner Untersuchungen hat das Bundesgericht, ohne dass sich dies dem Wortlaut des geltenden Gesetzestextes entnehmen liesse, sogar eine dem Strafprozessrecht nahekommende Verfahrensordnung gefordert, die Arbeitgeber einzuhalten haben, wenn sie eine solche Untersuchung durchführen und gestützt darauf eine Entlassung erwägen.46
Als weiteres Beispiel kann das Gratifikations- und Bonusrecht genannt werden, das in den letzten Jahren ebenfalls stark durch innovatives Richterrecht geprägt wurde, so insbesondere im Zusammenhang mit der sog. Akzessorietätsrechtsprechung und der Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit von Bedingungen.47
Mit BGE 139 III 214 hat das Bundesgericht die Regelung von Art. 349a Abs. 1 OR, wonach die Entlöhnung eines Handelsreisenden ausschliesslich oder überwiegend auf Provisionsbasis die Verschaffung eines angemessenen Entgelts voraussetzt, via Analogieschluss über das Handelsreisendenrecht hinaus auf sämtliche Arbeitsverhältnisse für anwendbar erklärt.48 Weitere wichtige Regelungsbereiche, in denen die Rechtsentwicklung von den Gerichten geprägt wird, betreffen Arbeitszeitfragen (etwa flexible Arbeitszeitmodelle wie die Arbeit auf Abruf),49 Überstunden (insbesondere bezüglich Beweis- und Verzichtsfragen)50 oder die Zulässigkeit bzw. Modalitäten von Aufhebungsverträgen.51 Die Aufzählung liesse sich leicht erweitern. Hier wie dort blieben demgegenüber die Gesetzgeber untätig und ist auch nicht absehbar, dass mittelfristig eine gesetzliche Neuregelung in Angriff genommen wird.
Es ist hier nicht der Ort, diese oder jene Rechtsprechung zu kritisieren. Die angeführten Beispiele sollen nur Beleg dafür sein, dass die Gerichte nicht nur dort vermehrt rechtsschöpferisch tätig werden, wo gesetzgeberisches Handeln unterbleibt und insofern eine Lücke zu schliessen ist, sondern dass sie auch durchaus eigendynamisch das bestehende Recht in Kernfragen fortentwickeln. Man kann insofern von einer Emanzipation der Gerichte vom geschriebenen Arbeitsrecht sprechen.
1.7 Technologische Entwicklungen
1.7.1 Herausforderungen
Ein letzter, wichtiger Aspekt, der die Gewichte bei der Prägung bzw. der Fortbildung des Arbeitsrechts zusätzlich auf die Seite des Richterrechts verschiebt, ist die technologische Entwicklung der neueren Zeit, die verkürzt unter dem Begriff der Digitalisierung zusammengefasst werden kann.52 Angetrieben durch teils fundamentale Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie verändert sich zunehmend auch die Arbeitswelt.53
Neue Beschäftigungsformen wie z.B. die Plattformarbeit stellen das Arbeitsrecht und dessen Anwendung vor zahlreiche neue Herausforderungen. Dies beginnt schon mit der fundamentalen Vorfrage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen solche neuen Beschäftigungsformen als Arbeitsverhältnisse zu qualifizieren sind. Diese Schlüsselfrage ist eine ganz zentrale Weichenstellung, denn von ihrer Beantwortung hängt ab, ob die Schutzbestimmungen des Arbeitsrechts überhaupt zur Anwendung gelangen können oder nicht.54 Es schliessen sich Fragen zur Arbeitszeit an, die sich als Folge der Digitalisierung und der dadurch bewirkten Mobilisierung der Arbeit und der mehr oder weniger ständigen Erreichbarkeit von Angestellten ergeben.
Dies hat auch zur Folge, dass die traditionelle gesetzliche Konzeption der strikten Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit ins Wanken gerät und sich diese beiden Lebenssphären zunehmend überlagern. Ist das gelegentliche Abrufen und Lesen der geschäftlichen E-Mails via Smartphone beim heimischen Sonntagsbrunch Arbeitszeit? Falls ja, braucht es dazu eine Sonntagsarbeitsbewilligung? Wie verhält es sich damit während der Ferien oder beim Pendeln? Dies ist nur eine kleine Auswahl der sich hier stellenden Fragen, auf welche das Arbeitsrecht und die Gerichte eine Antwort werden finden müssen.55
Ein weiterer arbeitsrechtlicher Brennpunkt, den die Digitalisierung mit sich bringt oder zumindest akzentuiert, sind kaum mehr überschaubare Datenschutzfragen, insbesondere bei der Überwachung am Arbeitsplatz durch immer ausgereiftere technische Systeme. Die Befürchtung, dass diese Systeme von Unternehmen zur ungehemmten Datenerforschung und Durchleuchtung ihrer Mitarbeiter missbraucht werden könnten, ist verständlich.
Die Lohnzahlung in Kryptowährung, die Nutzung von elektronischen Medien bzw. Internetplattformen am oder im Umfeld des Arbeitsplatzes, Cybermobbing unter Arbeitskollegen, die Ausübung des Weisungsrechts oder umgekehrt die Wahrnehmung der Fürsorgepflicht durch «Robobosse»56 und die Bewerberauswahl durch Algorithmen sind weitere Problemfelder, die das Arbeitsrecht vor neue Herausforderungen stellen.
1.7.2 Gesetzliches Vakuum und richterliche Pionierrolle
Vor dem Hintergrund der eben skizzierten Fragestellungen, die spätestens bei Auftreten erster Rechtsstreitigkeiten von der Praxis bewältigt werden müssen, wären mindestens auf den ersten Blick die Gesetzgeber gefordert, die nötigen arbeitsrechtlichen Weichenstellungen in die Wege zu leiten, um so dem technologischen Wandel Rechnung zu tragen. Es ist nun allerdings fraglich und auf kürzere Frist unwahrscheinlich, dass sie dies tun werden. Dies hat zunächst mit den schon zuvor geschilderten, generellen Hemmnissen zu tun, also insbesondere mit dem vergleichsweise schwerfälligen, langwierigen und Interessendenken ausgesetzten Gesetzgebungsprozess, wenn arbeitsrechtliche Revisionsvorhaben zum Entscheid anstehen.
Es kommt nun aber hinzu, dass der Bundesrat in seinem Bericht «Auswirkungen der Digitalisierung auf Beschäftigungen und Arbeitsbedingungen – Chancen und Risiken» vom 8. November 2017 zum Schluss gekommen ist, dass sich aktuell kein grundlegender Handlungsbedarf auf gesetzgeberischer Ebene zeige: «Die Bestimmungen hinsichtlich Datenschutz, Arbeitsmarktaufsicht, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz erfüllen nach Auffassung des Bundesrates ihren Zweck auch im veränderten Umfeld. Dasselbe gilt für das geltende Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, wobei im letztgenannten Feld die Frage zu stellen ist, ob der Rahmen für innovative Geschäftsmodelle genügend flexibel ausgestaltet ist.»57
Der Bundesrat sieht also in arbeitsrechtlicher Hinsicht aktuell keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, um den Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen.58 Er hat allerdings in seinem Bericht auch betont, dass es wichtig sei, die Auswirkungen des aktuellen Strukturwandels laufend zu beobachten, um allfällige Risiken zeitnah zu erkennen. Damit die Entwicklungen aufgrund der Digitalisierung möglichst umfassend beurteilt werden können, müssten bestehende Datenlücken bezüglich neuer Arbeitsformen geschlossen werden.
Seit 2019 werden deshalb auch die neuen Beschäftigungsformen durch das Bundesamt für Statistik erhoben und die Resultate des Monitorings in regelmässigen Abständen von fünf Jahren in einem Bericht zusammengefasst.59 Es wird sich damit bei der nächsten Berichterstattung im Jahr 2022 weisen, ob der Bundesrat an seiner Position festhält oder dannzumal allenfalls doch gesetzgeberischen Handlungsbedarf ortet. Selbst für diesen Fall ist aber absehbar, dass es weitere Jahre beanspruchen würde, bis ein allfälliges Gesetzgebungsprojekt zum Abschluss gebracht werden könnte. Damit muss kurz- und wohl auch mittelfristig von einem nicht unerheblichen gesetzlichen Regelungsvakuum gesprochen werden. Es ist als Folge davon zu erwarten, dass es auch und gerade im Bereich von Digitalisierungsfragen so sein wird, dass wegleitende Weichenstellungen von den Gerichten vorgenommen werden müssen, denen insofern eine Pionierrolle zukommen wird. Damit wird sich die arbeitsrechtliche Rechtsschöpfungskraft weiter vom Gesetzes- zum Richterrecht verlagern.
2. Unverzichtbar für das Funktionieren des Rechtssystems
Wer hat nun also das Sagen im Arbeitsrecht: die Gerichte oder die Gesetzgeber? Beide – lautet die weder überraschende noch spektakuläre Antwort.60 Es ist auch heute noch so, dass das Gesetz, insbesondere das Obligationenrecht in seinen Art. 319–362 OR, den wesentlichen Rechtsrahmen setzt, in den das schweizerische Arbeitsrecht eingebettet ist. Es ist aber unübersehbar, dass die Gerichte eine prägende Taktgeberfunktion einnehmen und in Zukunft wohl noch verstärkt und in ganz zentralen arbeitsrechtlichen Regelungsbereichen wie dem Kündigungsschutz und in Lohn- und Arbeitszeitfragen den Kompass stellen werden.
Dass die handwerkliche Qualität des geschöpften Richterrechts unterschiedlich beurteilt, teilweise kritisch kommentiert und als Einmischung in gesetzliche Regelungskompetenzen gesehen wird, liegt in der Natur der Sache, ist aber letztlich unvermeidbar.61 Denn unabhängig davon, wie man die rechtsschöpferische Leistung der Gerichte würdigt, steht eines fest: Richterliche Rechtsschöpfung ist im Arbeitsrecht nur schon mit Blick auf die zahllosen Lücken intra legem und die fortschreitende technologische Entwicklung, die laufend neue Fragestellungen mit sich bringt, schlicht unverzichtbar für das Funktionieren des Rechtssystems und die Erhaltung des lebenden Rechts.62 Damit schliesst sich der Kreis zur Einleitung und den Worten von Franz Gamillscheg: «Das Richterrecht bleibt unser Schicksal.»63 Oder, um mit Lord Denning, Master of the Rolls am Court of Appeal von England und Wales, zu schliessen: «Someone must be trusted, let it be the judges.»64
1 Die folgenden Ausführungen fussen auf der Zürcher Habilitationsschrift des Autors zur Richterlichen Rechtsfindung im Arbeitsrecht, Zürich/Basel/Genf 2021. Auf eine Wiedergabe der Fundstellen wird der besseren Lesbarkeit halber verzichtet. Der Autor bedankt sich bei Cecila Schuler, wissenschaftliche Mitarbeiterin, für die Unterstützung bei diesem Beitrag.
2 Franz Gamillscheg, «Grundrechte im Arbeitsrecht», in: AcP 1964, S. 385 ff., 388.
3 Gamillscheg, a.a.O., S. 445.
4 Ingo Brasat, Das Richterrecht im Arbeitsrecht – dargestellt an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Wettbewerbsverbot, Diss. Göttingen 1975, S. 35.
5 Erich Frey, «Die richterliche Rechtsschöpfung im Arbeitsrecht», in: AuR 1955, S. 257 ff. Zur über das Arbeitsrecht hinausreichenden, für ihn überragenden Bedeutung des Richterrechts für die Rechtsfortbildung Giovanni Biaggini, Verfassung und Richterrecht, Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsfortbildung im Wege der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, Basel/Frankfurt am Main 1991, S. 10, mit dem weiteren Hinweis, dass die grossen privatrechtlichen Gesetzbücher, das ZGB und das OR, einer steten, schleichenden Dekodifikation durch Richterrechtsbildung ausgesetzt seien.
6 Umso mehr gewinnen die von den Gerichten bei der Rechtsanwendung zu beachtenden Regeln an Bedeutung. Damit sind die juristische Methodenlehre und die auf sie einwirkenden arbeitsrechtlichen Besonderheiten angesprochen. Ausführlich dazu Rudolph, a.a.O., Rz. 75 ff., 192 ff.
7 Als Beschwerden in Zivilsachen, subsidiäre Verfassungsbeschwerden, Revisionsgesuche etc. Total erledigte das Bundesgericht 2018 im Bereich des Obligationenrechts 604 Geschäfte; vgl. Schweizerisches Bundesgericht, Geschäftsbericht 2018, S. 30.
8 Bundesgericht, a.a.O., S. 30.
9 Bundesgericht, a.a.O., S. 28: 75 erledigte Geschäfte.
10 Bundesgericht, a.a.O., S. 29: 7 erledigte Geschäfte.
11 Im Geschäftsbericht des Bundesgerichts nicht gesondert ausgewiesen.
12 Das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses oder Erzielens eines massgebenden Lohns ist in vielen Sozialversicherungszweigen die zentrale Vorfrage, die oft über die Anwendung der entsprechenden Gesetzgebung entscheidet.
13 Allein die Arbeitsgerichte im Kanton Zürich erledigten 2018 621 arbeitsrechtliche Geschäfte; vgl. Rechenschaftsbericht Obergericht Zürich 2018, S. 24.
14 Rudolph, a.a.O., Rz. 556 ff., mit detaillierter Chronologie und Auswertung des Forschungsmaterials.
15 Ullin Streiff / Adrian von Kaenel /Roger Rudolph, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319–362 OR, 7. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2012, S.V.
16 Wolfgang Portmann / Isabelle Wildhaber, Schweizerisches Arbeitsrecht, 4. Auflage, Zürich/St. Gallen 2020, Rz. 130. Vgl. ferner zu Rechtsquellen, die auf das Arbeitsrecht einwirken, Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., S. 9 f. Wohl fasst das Obligationenrecht in Art. 319–362 OR einen Kernbereich des Arbeitsprivatrechts zusammen, soweit es um gegenseitige Rechte und Pflichten der Vertragsparteien geht. Die gleich folgende Auflistung weiterer Normen mit Arbeitsrechtsbezug macht aber deutlich, dass damit nur ein Teilbereich des Arbeitsrechts abdeckt ist.
17 Portmann / Wildhaber, a.a.O., Rz. 130.
18 Dazu weiterführend Roger Rudolph / Adrian von Kaenel, «Aktuelle Fragen zur Arbeitszeit», in: AJP 2012, S. 197 ff.
19 Vgl. dazu Streiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 2 zu Art. 319 OR.
20 Peter Forstmoser / Hans-Ueli Vogt, Einführung in das Recht, 5. Auflage, Bern 2012, S. 511.
21 Vgl. Wolfgang Portmann, «Richterliche Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, Eine Würdigung der schöpferischen Leistungen in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts», in: Richterliche Rechtsfortbildung in Theorie und Praxis, FS Hans Peter Walter, Peter Forstmoser / Heinrich Honsell /Wolfgang Wiegand (Hrsg.), Bern 2005, S. 167 ff.
22 So z.B. Forstmoser / Vogt, a.a.O., S. 511; Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 5. Auflage, Bern 2016, S. 203.
23 Kramer, a.a.O., S. 203; Portmann, a.a.O., S. 168.
24 Portmann, a.a.O., S. 168. Zur in der Schweiz noch kaum diskutierten Grundsatzfrage, ob für das Arbeitsrecht eine besondere Methode zur Anwendung gelangen soll, vgl. Roger Rudolph, «Gibt es eine arbeitsrechtliche Methode?», in: SJZ 2021, S. 271 ff.
25 Vgl. auch die umfassende Zusammenstellung von Portmann, a.a.O., S. 168 ff.
26 Portmann, a.a.O., S. 195; weiterführend Rudolph, Rechtsfindung, a.a.O., Rz. 325 ff.
27 Vgl. auch Portmann, a.a.O., S. 178.
28 Weiterführend dazu Wolfgang Portmann / Roger Rudolph, Kommentar zu Art. 319-362 OR, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht I, Art. 1–529 OR, Corinne Widmer Lüchinger / David Oser (Hrsg.), 7. Auflage, Basel 2020, N 6 zu Art. 335j OR.
29 Vgl. auch Portmann, a.a.O., S. 177.
30 Ausführlich dazu Streiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 2 ff. zu Art. 340a OR; vgl. beispielhaft BGE 145 III 365.
31 Vgl. Kramer, a.a.O., S. 203; Portmann, a.a.O., S. 168.
32 Dies gilt umso mehr, als sich das Bundesgericht als potenzielle Ordnungskraft auch und gerade im arbeitsrechtlichen Kontext bei der Überprüfung vorinstanzlicher Ermessensentscheide in verschiedener Hinsicht in Zurückhaltung übt, so, um nur zwei Beispiele zu nennen, bei der Bemessung der für die Praxis sehr bedeutsamen Entschädigungen wegen ungerechtfertigter fristloser und missbräuchlicher Entlassung (Art. 337c und 336a OR). Dazu und weiterführend Streiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 3 zu Art. 336a OR; Portmann / Rudolph, a.a.O., N 6 zu Art. 337c OR.
33 Franz Gamillscheg, «Gedanken zur Rechtsfindung im Arbeitsrecht, dargestellt an Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts», in: FS Hans Schmitz zum 70. Geburtstag, Theo Mayer-Maly /Albert Nowak / Theodor Tomandl (Hrsg.), Wien 1967, S. 68 ff.
34 Angefangen mit einem ersten Vorstoss, über die Vorarbeiten in der Verwaltung, die Durchführung einer Vernehmlassung, die parlamentarische Beratung bis hin zu einem obligatorischen oder fakultativen Referendum und schliesslich zur Inkraftsetzung, um nur einige Meilensteine zu nennen.
35 Vgl. dazu den in Art. 124 Abs. 1 ZPO enthaltenen Beschleunigungsgrundsatz und Art. 236 ZPO, wonach bei Spruchreife des Verfahrens zu entscheiden ist. Art. 239 ZPO schafft überdies die Möglichkeit, Entscheide zunächst unbegründet zu eröffnen und auf eine Begründung sogar vollends zu verzichten, wenn keine Partei eine solche innert zehn Tagen verlangt.
36 Portmann / von Kaenel (Hrsg.), Fachhandbuch Arbeitsrecht, Zürich/Basel/Genf, S. 1.
37 Portmann / von Kaenel, a.a.O., S. 1.
38 Portmann / von Kaenel, a.a.O., S. 1.
39 Portmann / von Kaenel, a.a.O., S. 1.
40 Für Einzelheiten zum Gesetzgebungsprojekt vgl. Rudolph, Rechtsfindung, a.a.O., Rz. 37.
41 Um nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen: BGer 8C_484/2016 vom 17.11.2016 und BGer 8C_397/2016 vom 16.11.2016.
42 Dazu Roger Rudolph, «Die Neuregelung der Arbeitszeiterfassungspflicht», in: AJP 2016, S. 145 ff. Derweil werden weitere Revisionsüberlegungen angestellt. Vgl. dazu insbesondere die parlamentarische Initiative Graber (16.414), Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle.
43 Vgl. Roger Rudolph, «Digitalisierung: Eine Herausforderung an das Arbeitsrecht und die Gerichte», in: Gedenkschrift für Claire Huguenin; Wolfgang Portmann / Helmut Heiss / Peter Isler / Florent Thouvenin (Hrsg.), Zürich/ St. Gallen 2020, S. 387 ff., 393.
44 Eine ausführliche Zusammenstellung der seit 1989 umgesetzten Revisionsvorhaben findet sich bei Rudolph, Rechtsfindung, a.a.O., Rz. 555 ff.
45 Stark verkürzt hat das Bundesgericht entschieden, dass die Entlassung von älteren Mitarbeitern unter bestimmten Voraussetzungen ebenso missbräuchlich ist wie die Entlassung in Konfliktsituationen, wenn Arbeitgebende vorgängige Konfliktlösungsbemühungen unterlassen. Vgl. dazu beispielhaft BGE 132 III 115 (Alterskündigung) und BGE 125 III 70 sowie BGE 136 III 513 (Konfliktkündigung); weiterführend Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., N 4 zu Art. 336 OR.
46 BGer 4A_694/2015 vom 4.5.2016. Zu beachten ist allerdings, dass dieser Entscheid, mindestens in der Absolutheit, mit der er die Einhaltung der erwähnten Verfahrensordnung fordert, bis heute ein Isolani geblieben ist und sich auch nicht auf eine tragfähige Lehre stützen kann. In BGer 6B_48/2020 vom 26.5.2020 hat das Bundesgericht selber ausgeführt: «En effet, les règles de la procédure pénale ne pourraient jamais – en pratique – être observées par un employeur.» Weiterführend dazu Roger Rudolph, «Interne Untersuchungen: Spannungsfelder aus arbeitsrechtlicher Sicht», in: SJZ 2018, S. 385 ff.
47 Weiterführend dazu Rudolph, Rechtsfindung, a.a.O., Rz. 501 ff. und 513 ff.
48 Bestätigt und ausgeweitet auf Beteiligungen am Geschäftsergebnis (vgl. Art. 322a OR) in BGer 4A_435/2015 vom 14.1.2016.
49 Vgl. BGE 124 III 249.
50 Vgl. BGE 124 III 469.
51 Vgl. für eine Praxisübersicht Streiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 10 zu Art. 335 OR.
52 Weiterführend zum Ganzen Rudolph, Rechtsfindung, a.a.O., Rz. 43 ff.; Rudolph, Digitalisierung, a.a.O., S. 387 ff.
53 Schweizerischer Bundesrat, Bericht über die zentralen Rahmenbedingungen für die digitale Wirtschaft vom 11. Januar 2017, S. 9.
54 Vorbehalten bleibt die Möglichkeit der analogen Anwendung arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen auf andere Vertragsverhältnisse mit ähnlicher persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit (sog. arbeitnehmerähnliche Personen), was allerdings von den Gerichten nur sehr selten praktiziert wird.
55 Grundlegend und weiterführend zum Phänomen der ständigen Erreichbarkeit und seiner arbeitsrechtlichen Erfassung Adrian von Kaenel, «Die ständige Erreichbarkeit des Arbeitnehmers», in: ARV 2009, S. 1 ff.
56 Wenn also nicht mehr eine natürliche Person, sondern ein Roboter faktisch Arbeitgeberrechte oder -pflichten übernimmt, z.B. die Arbeit verteilt und kontrolliert oder Weisungen über das Verhalten am Arbeitsplatz erteilt. Weiterführend dazu und zum Begriff Isabelle Wildhaber, «Robotik am Arbeitsplatz: Robo-Kollegen und Robo-Bosse», in: AJP 2017, S. 213 ff.
57 Schweizerischer Bundesrat, a.a.O., S. 52 ff.
58 Diese Einschätzung des Bundesrats, dass die Digitalisierung im Bereich des Arbeitsrechts aus heutiger Sicht nach keinem grundlegenden Gesetzgebungsbedarf ruft, mag man teilen oder nicht. Je nach Blickwinkel lassen sich Argumente für und wider diese Betrachtungsweise anführen.
59 Schweizerischer Bundesrat, a.a.O., S. 108.
60 Ausserdem spielen im Arbeitsrecht weitere «Player» eine gewichtige Rolle, etwa Behörden wie das Seco und die kantonalen Arbeitsämter im Arbeitsschutzrecht oder die Sozialpartner durch den Abschluss von Gesamtarbeitsverträgen.
61 Vgl. für eine Gesamtwürdigung der bundesgerichtlichen Praxis im Bereich des Arbeitsrechts Rudolph, Rechtsfindung, a.a.O., Rz. 485 ff.
62 Portmann, a.a.O., S. 198.
63 Gamillscheg, a.a.O., S. 445.
64 Alfred Denning, What Next in the Law, London 1982, S. 330; vgl. auch Walter, a.a.O., S. 11.