Das 20. Jahrhundert war geprägt von drei grossen Erzählungen: der faschistischen, der kommunistischen und der liberalen. Übrig geblieben ist die liberale. Auf eine vereinfachte Formel verdichtet lautet das liberale Mantra: Wenn wir unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme nur immer weiter liberalisieren und globalisieren, werden wir Frieden und Wohlstand für alle schaffen.
Doch seit der Bankenkrise von 2008 hat der Glaube an die liberale Erzählung gelitten. Politiker wie Wähler sind kaum in der Lage, die neuen Technologien wie etwa das Internet zu verstehen – geschweige denn, in griffige regulatorische Schranken zu verweisen. Das demokratische System ist noch immer damit beschäftigt zu begreifen, was da alles auf uns zukommt. Und es ist schlecht gerüstet, um mit den nächsten Erschütterungen wie dem Aufstieg der «künstlichen Intelligenz» und der Blockchain-Revolution fertig zu werden. Der Erfolg des Modells der liberalen Demokratien ist in der Krise.
Die Revolutionen in Bio- und Informationstechnologie werden von Ingenieuren, Unternehmern und Wissenschaftern vorangetrieben, die sich der politischen Implikationen ihrer Entscheidungen wohl selten bewusst sind und keine gesellschaftliche Verantwortung tragen müssen (siehe dazu Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, Seite 25 ff.).
Die grösste Bedrohung für die Menschheit ist der bevorstehende Klimakollaps. Können Parlamente und Parteien uns davor bewahren? Bisher lässt nichts darauf hoffen. Die politischen Prozesse sind zu langsam. Es kann Jahre dauern, bis ein neues Gesetz in Kraft tritt, wenn es denn vorher alle Hürden schafft, ohne im konsensualen Prozess seine ursprüngliche Griffigkeit zu verlieren. Beispielhaft CO2-Gesetz: In Nachachtung des Pariser Klimaabkommens, welches die Schweiz am 6. Oktober 2017 ratifizierte, sollte damit die Schweizer Klimapolitik festgelegt werden. Das Gesetz wurde von den Stimmberechtigten am 13. Juni 2021 mit 51,6 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Es ist nicht absehbar, wann über die revidierte CO2-Vorlage abgestimmt werden kann. Die Erreichung der Ziele des Pariser Klimaabkommens sind in noch weitere Ferne gerückt.
Justiz bewies bei wichtigen Fragen ihre Wirksamkeit
Könnte die Judikative ihren Teil zur Lösung der grossen Herausforderungen beitragen? Oder müssen die rechtsanwendenden Gerichte unter Hinweis auf das Legalitätsprinzip und die richterliche Gesetzesbindung zuerst auf den Gesetzgeber warten? Die Justiz ist in der Lage, Akzente mit weitreichenden gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen zu setzen. Sie kann Entwicklungen anstossen und beschleunigen, sie kann aber auch begrenzend wirken. Nicht zu unterschätzen ist die symbolische Wirkung von Gerichtsverfahren.
Eindrücklich zu beobachten war, dass einzig die US-Justiz dem Gebahren von Donald Trump während dessen Amtszeit etwas entgegensetzen konnte. Trump war zwar nicht der erste Präsident der Vereinigten Staaten, der das Regieren per Dekret für sich entdeckte – also das Verfügen per Präsidentenerlass ohne Zustimmung des Kongresses. Aber er tat es auf seine Weise. Nach zwölf Tagen im Amt hatte er bereits elf «presidential memoranda» und sieben «executive orders» unterzeichnet. Unter anderem verweigerte er zahlreichen Muslimen die Einreise. Es lag an den Gerichten, solche und und viele andere Dekrete aufzuheben. Die US-Justiz erwies sich in diesem Zusammenhang als insgesamt funktional.
Es gibt auch Beispiele für die Wirksamkeit der Justiz in der Schweiz. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung der letzten Jahre im Familienrecht bewirkte unter anderem, dass die «Lebensversicherung Ehe» endgültig passé ist. Insbesondere das Schulstufenmodell und die Praxis zur alternierenden Obhut beschleunigt die Rückkehr der Mütter in den Arbeitsprozess, fördert die Akzeptanz von Teilzeitarbeit und die Schaffung von Mittagstischen und Tagesstrukturen auch auf dem Land (Urteile 5A_384/2018, 5A_907/2018, 5A_311/2019, 5A_891/2018, 5A_104/2018 oder 5A_800/2019).
Wenn man bedenkt, dass das Familienrecht im schweizerischen Zivilgesetzbuch zu einem der am dichtesten geregelten Rechtsgebieten gehört, ist diese durch die Gerichte massgebend mitgetragene Entwicklung nicht bemerkenswert. Es gehört zu den Kernaufgaben der Gerichte, Rechtsfortbildung zu betreiben und mit den gesellschaftlichen Realitäten Schritt zu halten (Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 6. Auflage, Bern 2019).
Rechtsbegriffe mit Inhalt füllen
Im Ausland ergehen bahnbrechende Urteile im Bereich Klimaschutz. Im April 2021 befanden die deutschen Verfassungsrichter das deutsche Klimagesetz als mit den Grundrechten unvereinbar. Das Bezirksgericht Den Haag entschied im Mai 2021, dass der Ölmulti Shell bis 2030 seine gesamten CO2-Emissionen gegenüber 2019 um 45 Prozent senken muss. Auch die Schweizer Justiz könnte Teil der Lösung der grossen Probleme und Herausforderungen sein, wenn sie wollte.
Wir haben in der Schweiz zwar keine Verfassungsgerichtsbarkeit wie in Deutschland, aber das Instrumentarium steht dennoch zur Verfügung. Es obliegt den Gerichten, unbestimmte Rechtsbegriffe mit Inhalt zu füllen und sie den aktuellen Entwicklungen entsprechend auszulegen und anzuwenden. Hier besteht für die Gerichte grosser Spielraum, der nicht ausgeschöpft wird. Ist es Mutlosigkeit? Oder gar die Angst vor gesellschaftlichen Dammbrüchen? Würde die Justiz der Anarchie gewissermassen Vorschub leisten, würde man Klimaengagierten attestieren, in rechtfertigendem Notstand gehandelt zu haben?
Das Bundesgericht bestätigte im Entscheid BGer 6B_1295/2020 vom 26. Mai 2021 seine bisherige Rechtsprechung zum rechtfertigenden Notstand (Artikel 17 StGB). Eine unmittelbar drohende, nicht anders abwendbare Gefahr sei nur dann gegeben, wenn diese innert der nächsten wenigen Stunden bevorsteht. Dass das im Fall des Klimakollapses nicht der Fall sei, liege auf der Hand.
Andreas Noll ist der Frage, woher diese Definition dieses unbestimmten Rechtsbegriffs kommt, mit buchstäblich archäologischem Sinn nachgegangen. Er konnte aufzeigen, dass dieses Verständnis auf die allererste Fassung des Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1918 zurückgeht. Der Begriff des rechtfertigenden Notstandes wurde damals im Zuge der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch geformt: Einem Arzt sollte es gestattet sein, sich auf Notstand zu berufen, wenn die Schwangerschaft «das Leben der Mutter oder ihre Gesundheit ernsthaft mit einem schweren und dauerhaften Schaden bedrohte» (Andreas Noll, Protestaktionen und klimaspezifische Rechtfertigungsgründe. Der Klimawandel ist im Strafrecht angekommen, Stämpfli Verlag, Seite 44).
Weiterentwicklung statt historische Auslegung nötig
Das Bundesgericht bevorzugt offenkundig eine grammatikalische und historische Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs eines rechtfertigenden Notstandes, obwohl der Methodenpluralismus die Weiterentwicklung und eine zeitgemässe Auslegung ohne weiteres erlauben würde. Der Zeitpunkt der Handlungsmacht, die erforderlich ist, um einen ernsthaften, dauerhaften Schaden noch abzuwenden oder zumindest zu reduzieren, liegt beim Klimakollaps offenkundig anders als bei einem medizinischen Eingriff. Dieser Umstand könnte und müsste bei der Rechtsanwendung berücksichtigt werden.