Bruno Steiner, 62, Anwalt, davor vier Jahre Untersuchungsrichter und 16 Jahre Bezirksrichter in Zürich
Christine Baltzer, 55, Präsidentin am Kantonsgericht Baselland, davor zehn Jahre Bezirksgerichtspräsidentin
plädoyer: Haben die Medien schon einmal ein von Ihnen erlassenes Urteil beeinflusst?
Christine Baltzer: Das kann ich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Als Richterin ist man von vielem beeinflusst: Wo man aufgewachsen ist, das Geschlecht, der Freundeskreis … Die Medien haben auch einen Einfluss. Aber man kann nicht sagen, ein Urteil sei unter deren Einfluss gefällt worden.
Bruno Steiner: Ich kann mich aus meiner Richterzeit an keinen Fall erinnern. Wobei ich anmerken muss, dass Beeinflussungen des Richters in den wenigsten Fällen als solche wahrgenommen werden. Wir sind dem Zeitgeist und dem Wertewandel unterworfen – es ist selbstverständlich, dass sich auch die Justiz wandelt. Die Medien kommunizieren nur den Wertewandel in der Bevölkerung, dem auch Richter unterworfen sind.
plädoyer: Wie weit reicht der Einfluss der Medien auf einen Prozess?
Steiner: Die Anwesenheit der Medien führt dazu, dass sich das Gericht sehr genau an die Regeln hält. Ihr Einfluss ist also nicht von Vornherein negativ, sondern dient durchaus der Qualitätssicherung.
plädoyer: Gehen Sie anders vor, wenn ein Fall viel Medienaufmerksamkeit hat?
Baltzer: Ich habe einen Leitfaden, dem ich seit Jahrzehnten folge. In einem solchen Fall kann es gut sein, dass ich ihn ein zweites Mal durchgehe. Allenfalls bin ich bei der Urteilseröffnung etwas präziser, damit nicht etwas Falsches über das Urteil berichtet wird.
Steiner: Sobald die Medien im Gerichtssaal sind, weiss der Richter, dass jedes Wort verfolgt wird. Die Verhandlungen sind deshalb oft etwas «verklemmt». Das ist allerdings ein Problem der Richter. Gerichtsberichterstatter wollen eine unterhaltsame Geschichte und sind nicht an juristischen Finessen interessiert. Deshalb sind sie froh um eine markante Aussage, was ich als Richter bewusst praktiziert habe. Aber das Urteil wird deswegen kein anderes sein.
plädoyer: Sie haben also den Medien das gefüttert, was sie wollten?
Steiner: Ich sagte nicht, was die Medien hören wollten. Sondern ich sagte etwas Markantes zur Sache selbst. Dies hilft dem Journalisten wie dem Richter und ist keine Manipulation.
Baltzer: Die Medien sind ja vor allem bei grösseren Fällen dabei. Das heisst, dass die Urteilseröffnungen länger sind. In diesen Fällen mache ich oft am Schluss eine Zusammenfassung, die die Medien nutzen können.
plädoyer: Sie haben vorhin gesagt, das Urteil werde kein anderes, nur weil Medien da sind…
Steiner: In grossen Fällen entscheidet selten ein Einzelrichter, sondern ein Gremium, was Einflüsse sicher mildert. Ich schliesse aber einen Einfluss der Medien auf einzelne Fälle nicht aus. Aber das kann man nicht belegen, sondern höchstens vermuten.
plädoyer: Erinnern Sie sich an einen Prozess, an dem Sie den Einfluss vermuteten?
Steiner: Der Fall des Fluglotsenmörders Kalojew, bei dem wohl auch Druck aus dem Ausland eine Rolle spielte. Das war ein Geschworenenprozess. Dieses Gremium scheint mir anfälliger.
Baltzer: Es ist enorm schwierig den Beweis zu erbringen, ob die Medien einen Einfluss hatten. Wir haben ja nicht das Urteil ohne Einfluss und das Urteil mit Einfluss.
plädoyer: Raser, Pädophilie, Jugendgewalt, das sind ja die Lieblingsthemen der Medien. In diesen Fällen wurden die Urteile in den letzten Jahren auch härter. Wegen der Medien?
Baltzer: Die härteren Urteile in Raserfällen liegen am Zeitgeist und nicht an den Medien. Und bei den Sexual- oder Gewaltdelikten – gerade im Bereich der häuslichen Gewalt – war man wohl einfach jahrelang zu mild.
Steiner: Dass die Raserfälle härter bestraft werden, liegt klar am Zeitgeist; vor allem, wenn es junge Raser aus dem Balkan sind. Bei der Jugendgewalt spielt oft die Erfahrung der Richter eine Rolle, die Familienväter sind.
plädoyer: Haben Sie als Verteidiger in einem Fall, der gross in den Medien ist, manchmal das Gefühl, dass Sie deshalb auf verlorenem Posten stehen?
Steiner: Ich habe gerade einen solchen Fall – da wird es echt schwierig: Eine Gruppe junger Leute aus dem Balkan, die randaliert und geprügelt haben. Ein gefundenes Fressen für die Medien. Mein Klient wird sich vor Gericht tadellos aufführen müssen. Wenn er querschlägt, zahlt er einen hohen Preis.
plädoyer: Was gibt es für Strategien, um sich dem Druck – sei es von Medien, Bekannten, Leuten auf der Strasse – nicht zu beugen?
Baltzer: Man muss sich der Problematik bewusst sein, sie reflektieren und sich gut vorbereiten. Gut ist auch, die Thematik mit Richterkollegen zu diskutieren.
plädoyer: Könnte man bewusst Medienberichte über einen Fall nicht verfolgen?
Steiner: Nein. Man muss sich damit auseinandersetzen und seine Reaktion hinterfragen. Die Medien können einen Richter auch auf etwas hinweisen, das er übersehen würde, und seine Sensibilität wecken.
Baltzer: Wir sollen und können uns der Medienberichterstattung nicht entziehen. Doch zulasten des Täters darf man ja nur berücksichtigen, was angeklagt wurde. Somit dürfte man nur täterfreundliche Argumente berücksichtigen, die Medien sind aber meist auf Seiten der Opfer. Wichtig ist mir noch: Wir haben bisher nur über die Richter gesprochen, es gibt aber auch die Untersuchungsphase. Wenn die Medien dann darüber diskutieren, dass jemand in Haft zu setzen sei, gilt für diese Behörden das Gleiche wie für ein Richter: Sie müssen sich des möglichen Einflusses bewusst sein.
Steiner: In Zürich beobachte ich, dass die Haftrichter sehr ängstlich geworden sind. Flucht- oder Wiederholungsgefahr werden sehr hart beurteilt. Doch auch da: Ist es der Zeitgeist oder ist es Angst vor den Medien?
plädoyer: Der Einfluss auf die ersten Schritte eines Verfahrens ist also grösser?
Baltzer: In der Frage der Untersuchungshaft ist der Druck grösser. Ich erinnere an die Fälle Lucie und Pascale Brumann. Das Thema Sicherheit wird dann überall ein Thema, nicht nur in den Medien.
Steiner: Beim Fall Hirschmann war ich aufgrund der Praxis in Zürich sehr erstaunt, dass man ihn beim Vorwurf sexueller Nötigung mit gewissen Auflagen auf freien Fuss setzt. Das war ein ausserordentlicher Entscheid.
plädoyer: War das der Einfluss der Medien?
Steiner: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kenne den entsprechenden Staats-anwalt.
Baltzer: Ich fand den Entscheid mutig. Es bestand wohl kaum Fluchtgefahr, aufgrund der starken Medienbeobachtung war auch die Fortsetzungsgefahr gebannt.
Steiner: Schön wäre es, es würde auch sonst so gehandhabt. Interessanterweise gab es kaum Empörung. Dies könnte vielleicht dem einen oder anderen Richter den Antrieb geben, etwas mutiger zu sein.
Baltzer: Bei einem Fall, der so gross in den Medien ist, muss sich der Richter überlegen, ob er in einem Fall, der weniger publik ist, auch so entschieden hätte.
plädoyer: Stellen Sie sich diese Frage jeweils?
Baltzer: Ja. Aber es ist schwierig, sie zu beantworten.
Steiner: Man muss sich auch die umgekehrte Frage stellen: Wie hätte ich gehandelt, wenn es um einen jungen Mann aus dem Balkan gegangen wäre? Oder im Fall Polanski: Hätte das Bundesstrafgericht einem anderen Täter auch den Aufenthalt im seinem Chalet mit der elektronischen Fussfessel gestattet? Mir scheint, man wollte etwas gutmachen. Die Justiz reagiert auf die Politik. Auch bei der UBS spielt die Politik eine Rolle, wenn die Staatsanwaltschaft keine Unter-suchung vornimmt. Solche politische Beeinflussung kann man nicht ausschliessen.
Baltzer: Wo der Staatsanwalt noch der Regierung unterstellt ist, ist es für ihn schwieriger, sich dem politischen Druck zu widersetzen.
plädoyer: Inwiefern ermöglicht die Tatsache, dass Richter gewählt werden, eher Beeinflussung?
Baltzer: Je stärker jemand in einer Partei verwurzelt ist, desto schwerer hat er es. Aber ich denke nicht, dass unsere Richter, die vom Volk oder Parlament gewählt sind, eine andere Qualität Urteile fällen als Richter in unseren Nachbarländern. Sie unterliegen nur einer andern Art Medienscheu.
Steiner: Das Wahlsystem im Kanton Zürich bedeutet, dass man keine extremen Kandidaten aufstellt, sondern mehrheitsfähige. Es kann aber sein, dass ein Kandidat für das Obergericht an seinen bisherigen Urteilen gemessen wird. Wer Karriere machen will, sollte nicht allzu viel in den Medien erscheinen. Das erklärt auch eine gewisse Medienscheu.
Baltzer: Abwahlen sind in der Schweiz sehr selten, somit muss man sich davor nicht allzu sehr fürchten und ist frei in der Entscheidfindung.
Steiner: Interessant ist ja, dass die Parteizugehörigkeit innerhalb des Gerichtes kaum noch eine Rolle spielt. Wenn man die Urteile anschaut, würde man oft eine andere Parteizuteilung machen. Auch ein ausgesprochen eigenwilliger Richter hat keine Sanktionen zu befürchten.
plädoyer: Wie erleben Sie die Beziehungen zwischen den Medien und der Justiz in Ihren jeweilen Tätigkeitsfeldern?
Steiner: Man ist sehr nett miteinander. Die Justiz ist wohl die einzige Institution in der Schweiz mit einem positiven Ansehen. Dies wird durch die Medien vermittelt. Es gibt aber auch viele Richter, die sich schwer tun mit den Medien und ihnen misstrauen. Umgekehrt leiden Journalisten oft unter dieser selbstauferlegten Zurückhaltung.
Baltzer: Richter werden selten persönlich kritisiert im Vergleich zu Exekutiv-politikern. Und die Richter reagieren auf Kritik extrem. Sie müssten dies aber aushalten, schliesslich sind sie relativ gut bezahlt. Als ehemalige Politikerin arbeite ich wohl anders mit den Medien zusammen und weiss, dass mich nicht jeder Journalist in die Pfanne hauen will. Wenn ein Gerichtsberichterstatter einen krassen Fehler macht, weise ich ihn darauf hin. Aber ich lobe gute Berichterstattung auch.
plädoyer: Zeichnen denn die Medien ein adäquates Bild der Justiz?
Baltzer: Das Problem ist, dass vor allem Strafrecht und Verwaltungsrecht vorkommen und Zivilrecht nur selten. Das gibt ein etwas falsches Bild. Auf Anregung der Medien haben wir letztes Jahr deshalb die regelmässigen Berichterstatter getroffen. Fazit dieses Treffens: Wir müssen unsere Kommuni-kation verbessern.
Steiner: Wir leben in einer relativ friedlichen Gesellschaft. Die Justiz ist deshalb auch relativ friedlich. Kuschlige Zeiten haben kuschlige Justizen und kuschlige Medien. (lacht). Ich vermisse manchmal pointierte Kritik der Medien an der Justiz. Themen gäbe es genug. Und mich bedrückt die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in der Justiz …
Baltzer: … das sehe ich gar nicht so…
Steiner: Die Fremdenfeindlichkeit spielt vor allem in frühen Verfahrensstadien eine Rolle. Die Justiz ist auch hier ein Spiegel der Gesellschaft.