An einem Sonntag im Juni vergnügten sich drei Richter aus Shanghai mit Prostituierten. Zwei Monate später, im August 2013, schauten ihnen vier Millionen Chinesen dabei zu. Viel war auf Youku, Chinas Youtube, freilich nicht zu sehen: Männer, die rauchten und mit jungen Frauen aus einem Lift traten. Später gingen die gleichen Frauen in Miniröcken über den Flur eines Hotels. Eine stopfte sich Geld in den Ausschnitt.
Das Filmchen löste in China Empörung aus. So korrupt sind unsere Richter, schimpften die Chatter im Internet. Und die Staatsmedien fauchten kräftig mit. Die drei Richter und ein Gerichtsbeamter wurden aus der Partei ausgeschlossen und entlassen.
Ein Jurist warf den dreien vor, sie hätten das chinesische Rechtssystem in Verruf gebracht. Das aber ist kaum möglich: Richter gelten in China a priori als korrupt. Und selbst wenn einer unbestechlich sein sollte, kann er nicht unabhängig arbeiten.
Jede Richterstelle wird von der Partei abgesegnet
«Der ganze Rechtsprozess wird von der kommunistischen Partei kontrolliert», sagt Donald Clarke, der an der George-Washington-Universität in Washington D. C. chinesisches Recht lehrt. Jede Besetzung einer Richterstelle werde von der zuständigen Parteiorganisation abgesegnet, jeder Gerichtspräsident sitze auch der Parteizelle seines Gerichts vor. Oder umgekehrt: Der Parteichef wird Gerichtspräsident.
Chinas Richter sind nicht dem Volk verpflichtet, sondern der Partei. Sollten sie das vergessen, kann sich die KP über ihre «Polit-und-Rechts-Kommission» direkt in ein Verfahren einschalten – oder ein gefälltes Urteil umstossen.
Das Problem der drei Richter in Shanghai war banaler. Sie pflegten einen Lebensstil, den sich ein chinesischer Richter mit seinem Gehalt gar nicht leisten kann. Der Präsident eines Bezirksgerichts verdient monatlich umgerechnet etwa 1000 Franken, an einem höheren Gericht rund das Doppelte. Dazu Zulagen. Damit kann man in Chinas Grossstädten durchaus überleben. Für einen Lebensstil in Wohlstand, den die neue urbane Oberschicht inzwischen für selbstverständlich hält, reicht es hingegen nicht. Die Studienkollegen der Richter in der Wirtschaft verdienen das Zehn- bis Zwanzigfache.
Lokalpolitiker mischen sich am häufigsten ein
Zufällig ausgewählte Chinesen in den Grossstädten sagen, «fast alle Richter» seien käuflich. Transparency International stuft Chinas Justiz irgendwo im Mittelfeld ein. Nach einer Studie des US-Kongresses klagen zwei Drittel der Richter selber über Einmischungen in ihre Arbeit. Am häufigsten schalten sich dabei Lokalpolitiker und -beamte in laufende Verfahren ein. Sie setzen sich für ortsansässige Unternehmen ein oder für «Freunde» oder «Freunde von Freunden». Da die lokalen Gerichte bisher am Budget der jeweiligen lokalen Verwaltungen hängen, sind sie a priori befangen – auch in Strafsachen, in denen sich die örtliche – ebenfalls oft korrupte – Polizei oder die Staatsanwaltschaft durchzusetzen sucht.
Korruption der Gerichte ist «institutionalisiert»
Gemäss Li Ling vom US-Asia-Law Institute der New York University genügen die Gehälter und die Abhängigkeit von der lokalen Verwaltung als Erklärung für die endemische Korruption der chinesischen Gerichte nicht. Er schreibt, höhere Richter erhielten zusätzlich zu ihren Bezügen noch Boni und Privilegien. Sie hätten keinen Grund, sich bestechen zu lassen. Viel eher sei die Korruption der Gerichte «institutionalisiert» und «systemisch».
Korruption heisst nicht notwendigerweise, Richter liessen sich für einzelne Fälle schmieren. Sicher gibt es das, zumal man in China den persönlichen Kontakt sucht, bevor man ins Geschäft kommt. Das hat sich auch vor Prozessen eingebürgert. Heute ist es üblich, dass Kläger und Beklagte oder ihre Anwälte den Richter vor dem Verfahren zum Essen einladen und beschenken, so Gong Ting in der «China Review» – mit «Fernsehern, Uhren, Autos und Gold». Manche Anwälte lassen sich Shopping-Rechnungen weiblicher Richter schicken oder bezahlen sexuelle Dienstleistungen für Männer. Auch mit Beihilfe zur Geldwäsche werden Richter geködert.
Allerdings ist direkte Bestechung riskant, zumal Staatspräsident Xi Jinping eine Kampagne gegen die Korruption gestartet hat. Eher stützt man sich auf informelle oder jedenfalls unsichtbare Netze. Braucht jemand – und sei es ein «Freund eines Freundes» oder dessen Klient – einen wohlgesonnenen Richter, dann hat in einem Filz aus Funktionären, Anwälten und Richtern irgendjemand den nötigen Kontakt. In diesen Netzen gelten ungeschriebene, aber verbindliche Regeln, so Li. Ausserdem erlauben es diese Geflechte, die ganze Gruppe am Profit zu beteiligen. Das verringert das Risiko, verraten zu werden.
Der Geschäftsmann Ni, der die drei Shanghaier Richter mit seinem Video blossstellte, tat dies aus Rache, wie er gegenüber einer Zeitung freimütig zugab. Er fühlte sich in einem Rechtsstreit von einem der Richter betrogen. Dieser soll mit der Gegenpartei unter einer Decke gesteckt haben. Das Urteil habe ihn ruiniert. Seither habe er den Richter beobachtet. Dazu bestach er auch Hotelpersonal, um an Videos aus Sicherheitskameras zu gelangen. Eine vom Justizministerium publizierte Fachzeitung lobte Ni ausdrücklich für dieses eigentlich rechtswidrige Vorgehen. Manche Chatter nahmen die drei Richter im Internet dagegen in Schutz, denn aufgrund der Filmchen konnten ihnen keine Vergehen nachgewiesen werden.
«Die Good Governance ist in Gefahr»
Auf die Richter wird in einem chinesischen Gerichtssaal von allen Seiten Druck ausgeübt, in Fällen wie dem geschilderten sogar noch hinterher. Dabei wird ein Fall oft gar nicht von jenem Richter entschieden, der die Verhandlung führte. Schwach sind auch die Gerichte als Institutionen, das fördert die Korruption zusätzlich. So sehr, fürchtet Eric Chi-yeung Ip von der Uni Hongkong, dass die «Good Governance der chinesischen Gesellschaft in Gefahr» sei. Die verbreitete Korruption untergrabe die Legitimität der Gesetze und damit auch jene der chinesischen Regierung.
Sogar Xiao Yang, bis 2008 Präsident des Obersten Gerichts, räumte in einem Aufsatz ein: «Die professionelle Qualität der chinesischen Richter ist nicht hoch.» Die schlechten Gehälter und der Druck vertreibe junge Richter. Sie wechselten in die Privatwirtschaft.
Das hat auch Peking erkannt. Vergangenen Herbst beschloss der Volkskongress daher Reformen, damit China «zu einem Rechtsstaat» werde. Die Strukturreformen des Rechtswesens sollen «vertieft und beschleunigt werden», China müsse sich «ein faires, effizientes, respektiertes, sozialistisches Rechtssystem aufbauen». Details dieser Reformpläne wurden bis heute nicht publiziert. Immerhin weiss man: Lokale Gerichte sollen künftig von der Provinzregierung finanziert werden, sie soll auch die Richter berufen. Damit will man die Gerichte aus der Abhängigkeit der lokalen Behörden, ihrer Polizei und der örtlichen Geheimpolizei lösen. Ausserdem will man die Gehälter anheben und den einzelnen Richter zu mehr «Ethik» zwingen.
Anwälte wollen nicht einmal anonym reden
Das laute Echo, das die Video-Denunziation der drei Shanghaier Richter in den Staatsmedien auslöste, ist keine Boulevardreaktion der Medien, sondern eine gezielte Bündelung der Verachtung, die viele Chinesen für ihre Justiz hegen. Solange diese Abscheu sich auf schwarze Schafe fokussiert, lenkt das von der institutionellen Korruption ab.
Xi Jinpings Anitkorruptionskampagne und die Verhaftung prominenter Menschenrechts- und Umweltanwälte verunsichert Chinas Juristen zurzeit sehr. Mehrere Anwälte, die für diesen Artikel für ein Gespräch angefragt wurden, lehnten ab. Selbst anonym wollten sie nichts über die «Unabhängigkeit der Justiz von der Partei» sagen.
In Europa erregen politische und Menschenrechtsverfahren in China, in welche die Partei eingreift, grosses Aufsehen. Gemessen an allen Gerichtsverhandlungen in China – jährlich etwa sechs Millionen – ist diese Zahl jedoch gering. Die Präsenz der Partei in den Gerichten dagegen wirkt sich täglich aus.
Allerdings hat die Partei die Gerichte nicht unterwandert, wie man vermuten möchte. Sie hat die Gerichte erst geschaffen. Mao Tse-tung hatte das bürgerliche Rechtswesen Chinas, das nach dem Sturz des Kaiserreichs 1911 mit Hilfe japanischer Experten aufgebaut worden war, nach seinem Umsturz von 1949 völlig zerschlagen.
Das kommunistische China existierte drei Jahrzehnte ohne Justiz. Das heutige System wurde erst ab den 1980er-Jahren aufgebaut, als China sich zaghaft zu öffnen und zu modernisieren begann. Aus dem Nichts mussten Kaderleute der Partei ein Gerichtswesen schaffen. Die Partei war zuerst im Gericht. Und blieb.
Die Partei steht über den Gerichten
Auch deshalb steht die Partei, an der längst nichts mehr kommunistisch ist, über den Gerichten. Die Justiz kann die KP nicht belangen. Diese hat für Vergehen ihrer eigenen Leute ein geheimes internes Disziplinarwesen geschaffen, das sogenannte «Shuanggui».
Streng hierarchisiert, verpflichtet die KP ihre Mitglieder zu strikter Parteidisziplin. Die Gerichte spiegelten diese Hierarchisierung, schreibt Li Ling. Unabhängig davon, wer eine Verhandlung führe, würden die wichtigen Entscheidungen von einem «leitenden Richter» im Hintergrund getroffen. Ist dieser korrupt, so Li Ling, dann nutzt er die Parteiorganisation als Gerüst für den beschriebenen Filz.
Unabhängige Gerichte waren nie ein Ideal
Das offizielle China behauptet, seine Gerichte seien unabhängig. Jetzt soll die Justiz «noch unabhängiger» werden. Allerdings als «sozialistisches Rechtssystem». Diese Formel bedeutet jedoch nur, dass die Partei ihre Rolle in den Gerichten behalten soll.
In der chinesischen Tradition war ein unabhängiges Gericht nie ein Ideal. Im Kaiserreich gab es gar keine Gerichte, Recht gesprochen hat der jeweilige Magistrat. Es gab – fast wie heute – somit keine Trennung zwischen Justiz und politischer Macht, die beiden waren identisch. Daran störten sich die jesuitischen Missionare nicht, die ersten Europäer, die über Chinas Rechtswesen berichteten. Im Gegenteil: Sie waren beeindruckt, wie gut es funktionierte. Erst die Händler, vor allem Briten, die China ausbeuten wollten, kritisierten die chinesischen Gesetze und ihre Umsetzung als «willkürlich».
Seither verachtet der Westen Chinas Justiz als primitiv, despotisch und korrupt. Der Rechtshistoriker Teemu Ruskola lehnt dies ab. Die Universalisierung der westlichen Rechtsphilosophie nennt er in Anlehnung an Edward Said einen «Legal Orientalism».
Nach dem traditionellen Recht Chinas sollte der Magistrat die Streitparteien zur Mediation drängen, um eine Verhandlung abzuwenden. «Für Konfuzius war die Rechtsprechung keine zivilisatorische Errungenschaft, sondern eine bedauerliche Notwendigkeit. Im kaiserlichen China galt es als schäbig, in Rechtshändel verwickelt zu sein», schreibt der Rechtshistoriker Jerome Cohen. «Das galt selbst dann, wenn man schliesslich recht bekam.» Wer klagte, störte die Harmonie der Gesellschaft. Musste der Magistrat dennoch einmal Recht sprechen, dann unter Berücksichtigung der Interessen der Gesamtgesellschaft.
Dieser Grundsatz gilt bis heute auch in Japan und Südkorea. Zweimal wurden in Seoul jüngst Industriekapitäne wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Doch man erliess ihnen die Strafe, weil ihre Arbeit für die Gesellschaft wichtig sei.
Moderne Justiz entstand erst nach Maos Tod
Noch im 19. Jahrhundert löste man in China die meisten Zivilkonflikte mit Mediation. Und nach der Machtübernahme der Kommunisten – zumindest theoretisch – wieder. Mao, der Konfuzius sonst vehement ablehnte, propagierte, das Volk sollte Streit «demokratisch, mit Diskussion, Kritik, Überzeugungsarbeit und Erziehung lösen».
Erst nach dem Tod von Mao begann die Partei, eine Justiz nach europäischem Muster aufzubauen. In drei Jahrzehnten stampfte die Kommunistische Partei 10 000 Gerichte mit 200 000 Richtern aus dem Boden. Parteikader ohne juristische Vorkenntnisse mauserten sich plötzlich zu Richtern. Es gab noch keine juristischen Fakultäten und auch keine Rechtstradition, auf die sie sich hätten stützen können.
Wenn sich jetzt korrupte Richter wie die drei in Shanghai erwischen lassen, weil sie zu dreist waren oder zu blöd – dann dient das der Partei. Es strafft die Parteiorganisationen in den Gerichten. Die Partei wird die Gerichte noch mehr im Griff haben als bisher.