Die Revision der Bundesrechtspflege erinnert stark an das Bild des Dieners zweier Herren aus dem gleichnamigen Stück von Carlo Goldoni. Die Revision dient - in Verschärfung von Goldoni - nicht nur zwei, sondern gar drei Herren respektive verfolgt drei Ziele: Die Entlastung des Bundesgerichtes, die Erhöhung des Rechtsschutzes und die Vereinfachung von Verfahren. Wie im Theaterstück entstehen Zielkonflikte. Eine Zwischenevaluation zeigt, dass die Revision der Bundesrechtspflege trotz schwieriger Ausgangslage durchaus respektable Wirkungen erzielt.
Entlastungswirkung beim Bundesgericht
Auf Anfang 2007 trat die Totalrevision der Bundesrechtspflege in Kraft. Die damit verbundenen Gesetzesänderungen betreffen die Organisation und das Verfahren des Bundesgerichts, Veränderungen bei den Vorinstanzen sowie Anpassungen der Rechtsmittel, die an das oberste Gericht führen. Das Bundesamt für Justiz hat die Autoren beauftragt, die Revision mit ihren 15 Massnahmen zu evaluieren. Die zentrale Frage lautet, ob die durch die Revision der Bundesrechtspflege ausgelösten Veränderungen zu einer Entlastung des Bundesgerichtes (Ziel 1), zur Verbesserung des Rechtsschutzes (Ziel 2) und zur Vereinfachung der Verfahren (Ziel 3) geführt haben. Aufgrund der bisherigen Analyse kann festgehalten werden, dass die Revision der Bundesrechtspflege das Bundesgericht entlastet hat:
-?Erstens berichten die Mitarbeitenden am Bundesgericht, dass sie eine Reduktion der Arbeitsbelastung infolge der Revision der Bundesrechtspflege erfahren haben. Allerdings sind die Richterinnen und Richter im Vergleich zu den anderen Gruppen von Befragten zurückhaltender, was das Ausmass der Entlastungswirkung angeht.
-?Zweitens ergibt die Analyse der 15 Massnahmen der Revision, dass fünf davon einen positiven Beitrag zur Entlastung des Bundesgerichts geleistet haben.
-?Drittens weist die Auswertung von statistischen Daten darauf hin, dass primär durch einen Rückgang der Beschwerden im Bereich des öffentlichen Rechts eine Entlastung des Bundesgerichtes eingetreten ist. In bestimmten Bereichen - Sozialversicherungsrecht, Zivil- und Strafrecht - hat auch die durchschnittliche Dauer der Verfahren abgenommen. Ein Teil dieser Veränderungen kann als Folge der Revision der Bundesrechtspflege bezeichnet werden.
Welches sind die Massnahmen, die einen Beitrag zur Entlastung des Bundesgerichts im Einzelnen bewirkt haben? Es sind dies die veränderte Gerichtsorganisation beim Bundesgericht - insbesondere die Einführung der Verwaltungskommission - und die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichtes. Die Schaffung des Bundesstrafgerichtes, die erweiterte Möglichkeit zu Entscheiden im vereinfachten Verfahren und die Einschränkung der Kognition im Sozialversicherungsrecht haben eine kleinere Entlastung bewirkt.
Die Entlastung ist indessen nicht so gross ausgefallen wie ursprünglich erwartet, was vor allem auf die Einführung der subsidiären Verfassungsbeschwerde zurückzuführen ist. Es fällt zudem auf, dass eine Reihe von Massnahmen, die eine Entlastung bewirken können - Streitwertgrenzen, Kostenpflicht, Teilintegration des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, Schaffung der Vorinstanzen -, nicht die erwartete oder gar keine Entlastung gebracht haben.
Eine Zielkonkurrenz herrscht zwischen der Entlastung des Bundesgerichtes (Ziel 1) und der Verbesserung des Rechtsschutzes (Ziel 2). Unter dem Strich kommt die Zwischenevaluation zum Schluss, dass die Revision der Bundesrechtspflege den Rechtsschutz erhöht hat. Gestützt wird dieser Befund durch Umfragen bei den eidgenössischen und kantonalen Gerichten sowie bei der Anwaltschaft und durch die Analyse der 15 Massnahmen. Bestimmte Massnahmen erhöhen den Rechtsschutz - subsidiäre Verfassungsbeschwerde -, können der Entlastung des Bundesgerichtes aber zuwiderlaufen.
Aus Sicht der Evaluation geht diese Zielkonkurrenz allerdings nicht so weit, dass die Entlastung des Bundesgerichtes vollständig mit einer Reduktion des Rechtsschutzes hätte «erkauft» werden müssen. Vielmehr ist es gelungen, wenigstens einen Teil der Zielkonkurrenz durch die Schaffung der erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichte und die Einführung der Einheitsbeschwerde zu entschärfen.
Die Analyse zeigt darüber hinaus, dass nicht nur ein Zielkonflikt zwischen dem Rechtsschutz und der Entlastung des Bundesgerichtes besteht. Zusätzlich enthält die Revision Massnahmen, die den Rechtsschutz selbst unterschiedlich beeinflussen. So etwa erhöhten die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichtes, die Einführung der Einheitsbeschwerde und weniger ausgeprägt die Schaffung des Bundesstrafgerichtes sowie der doppelte Instanzenzug auf kantonaler Ebene den Rechtsschutz für die Rechtssuchenden.
Die Einschränkungen der Kognition im Sozialversicherungsrecht sowie die Einführung der Kostenpflicht bei Beschwerden im Sozialversicherungsrecht schränkten den Rechtsschutz wieder ein. Wie aber bereits erwähnt, führt die Revision im vorläufigen Ergebnis der Evaluation insgesamt zu einer Verbesserung des Rechtsschutzes.
Die Revision hat die Verfahren in der Bundesrechtspflege vereinfacht (Ziel 3). Im Vergleich zu den Beiträgen zu den Zielen 1 und 2 sind die Effekte aber weniger stark ausgeprägt und primär auf die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichtes und die Einführung der Einheitsbeschwerde zurückzuführen.
Zielerreichung schwierig, aber nicht unmöglich
Nicht weniger als zwölf Massnahmen haben hingegen eine eher bescheidene oder gar keine Wirkung hinsichtlich der Vereinfachung der Verfahren gehabt. Das Verfahren der Bundesrechtspflege eher verkompliziert hat die Schaffung des Bundesstrafgerichts. Hier zeigt sich eine Zielkonkurrenz zu Ziel 2. Während die Schaffung des Bundesstrafgerichts auf der einen Seite den Rechtsschutz erhöht hat, wurden durch die Einsetzung des Gerichts Verfahren auch verlängert und verkompliziert. Die Schaffung der Kostenpflicht im Sozialversicherungsrecht hat als zweite Massnahme ebenfalls zu einer Verkomplizierung der Verfahren beigetragen. In der Summe ist durch die Revision aber ein positiver Beitrag zur Vereinfachung der Verfahren eingetreten.
Insgesamt kommt die Zwischenevaluation zum vorläufigen Schluss, dass die untersuchten 15 Massnahmen bisher einen substanziellen Beitrag zur Erreichung der drei Ziele der Revision der Bundesrechtspflege geleistet haben. Die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichtes, die Einführung der Einheitsbeschwerde und die Reorganisation des Bundesgerichtes sind im Hinblick auf die Zielerreichung von zentraler Bedeutung.
Letzlich ist die Revision der Bundesrechtspflege das Ergebnis eines helvetischen Kompromisses. Die bisherigen Erkenntnisse der Evaluation lassen aber vermuten, dass es trotz ambivalenten Zielen durchaus gelungen ist, substanzielle Ergebnisse zu erzielen. Die Schlussevaluation wird es erlauben, dies noch verlässlicher zu beurteilen. Dabei wird sich auch zeigen, ob und gegebenenfalls wie sich eine Veränderung der Sitzungskultur am Bundesgericht auswirkt.
Die Analyse der drei ersten Jahre nach der Revision ergibt, dass - um das eingangs verwendete Bild aus Carlo Goldonis Theater nochmals aufzunehmen - der Diener dreier Herren seine Aufgabe bisher ganz gut gemeistert hat.
Andreas Lienhard, Universität Bern
Stefan Rieder, Interface Luzern
Martin Killias, Universität Zürich
Der Zwischenbericht ist abrufbar unter:
www.ejpd.admin.ch/content/dam/data/staat_buerger/evaluation/bj/ber-evalphase1-d.pdf
Der Bericht des Bundesrates dazu ist erhältlich unter:
www.admin.ch/ch/d/ff/2010/4837.pdf
Die weiteren Arbeitsschritte sehen insbesondere eine qualitative Analyse von Urteilen des Bundesgerichts, weitere Interviews und Online-Befragungen sowie aktualisierte statistische Auswertungen vor. Ende 2011 wird ein weiterer Zwischenbericht folgen, Ende 2012 dann der Schlussbericht der Evaluation.