I.
Ob es beim Tod eines Menschen Hinterbliebene gibt, ist eine Frage der persönlichen Beziehungen – notfalls ist es der Staat (Artikel 466 ZGB). Es ist hingegen eine erbrechtliche Naturgesetzlichkeit, dass beim Tod eines Menschen etwas zurückbleibt, nämlich seine Hinterlassenschaft, die möglicherweise nur aus einem grossen Durcheinander und Schulden besteht. Entgegen dem verbreiteten Klischee ist Erbrecht nicht (zwingend) die rechtliche Variante eines Millionenloses. Sondern eine notwendige Konstruktion, um sämtliche Hinterlassenschaften zu ordnen.
Weil der Tod eines Menschen das biografisch wohl einschneidendste Ereignis ist und alle, auch einsame Menschen, Respekt auch nach dem Tod verdienen, mischt – zumindest subsidiär – der Staat mit. Der Anspruch auf ein schickliches Begräbnis ist zwar Ende 1999 aus der Verfassung verschwunden, aber es gilt seit 2000 aufgrund der in Artikel 7 BV gewährleisteten Menschenwürde ein gleiches Recht in umfassender Form:1 Nicht nur die Bestattung, sondern der Umgang mit allen Belangen eines verstorbenen Menschen erfordert ein gewisses Feingefühl und Respekt.
II.
Wer sich berufsmässig mit dem Tod befasst, ist zwangsläufig weniger berührt als Einzelne, die durch Alter, Krankheit und Sterben eines Mitmenschen emotional betroffen sind. Während Bestatter eher allzu geschäftig-routiniert Empathie zur Schau stellen mögen, hat der Friedhofgärtner mit Bagger und Schaufel den Aushub zu besorgen – das ist Knochenarbeit, die ganz einfach erledigt werden muss.
Etwas differenzierter ist der Umgang mit Persönlichem. Was aber ist nun «persönlich»? Zwar ist viel von postmortaler Persönlichkeit die Rede, die indes Verstorbene – jedenfalls nach den Welt- und Todesvorstellungen des Schreibenden – kaum mehr gross kümmert. Immer sind es die Hinterbliebenen, die sich um die Hinterlassenschaft zu kümmern haben und emotional berührt sind. «Persönliches» sind aber nicht nur die Personalia (das ZGB widmet ihnen einen Artikel 613 Absatz 2). Persönlich ist auch, wem Objekte mit wirtschaftlichem oder emotionalem Wert überlassen werden sollen. Auch dafür – und nicht nur für die Bestattung – hat der Staat Regeln aufgestellt. Die erste lautet: «Die zuständige Behörde hat von Amtes wegen die zur Sicherung des Erbgangs nötigen Massregeln zu treffen» (Artikel 551 Absatz 1 ZGB). Und im zweiten Absatz wird klargestellt, dass die in den Artikeln 552 ff. folgenden Massregeln nicht abschliessend sind («insbesondere»). Die unscheinbare Norm hat also weitreichende Bedeutung.
III.
Der gesamte Bereich der erbgangsichernden Massnahmen unterliegt der Offizialmaxime; pflichtgemässes behördliches Ermessen (Artikel 4 ZGB) bezweckt, dass alles in die richtigen Hände kommt. Das deckt sich bis zu einem gewissen Grad – in milderer Ausprägung – mit der Ordnung im Bereich des Common Law oder auch dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, wo (anders als beim kontinentalen System des Vonselbsterwerbs) eine «Administration» beziehungsweise die «Verlassenschaftsabhandlung»2 zu verhindern hat, dass das «Interregnum» nach dem Tod einer Person durch Unberechtigte ausgenützt wird. Schickliche Bestattung meint nicht nur, dass die Leiche beigesetzt wird, sondern, dass die letzten Dinge insgesamt ihre Ordnung haben – dieser Respekt ist Teil der Menschenwürde, die zwar primär von den Mitmenschen zu achten, aber vom Staat zu gewährleisten ist.
IV.
Die Artikel 457 bis 640 ZGB regeln zwar nur die wirtschaftlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen. Aber indem Erblasser im gesetzlichen Rahmen Testierfreiheit geniessen, wird eine persönliche Ordnung der wirtschaftlichen Aspekte ermöglicht.
Man muss sich in der Tat hüten, das Erbrecht allzu sehr nur als starres «Wohlstandstransportmittel» zu sehen:3 Wohl ist wirtschaftliche Absicherung nicht Garantie für Lebensglück, aber doch Voraussetzung. Und auch betraglich bescheidene Zuwendungen können beträchtlichen Impact haben: Ein tiefer vierstelliger Betrag ermöglicht jungen Menschen einen Sprachaufenthalt und gewaltige Horizonterweiterung. Auch betraglich kleinere Sachzuwendungen sind Geschenke und Erinnerungsstücke, die zwischenmenschliche Bindungen erhalten und Zufriedenheit und Lebensfreude schaffen.
Man könnte sich also bei der Nachlassabwicklung etwas Mühe geben. So betrachtet ist eine Modelleisenbahn etwas Wichtiges! Selbst wer keine Freude an Modelleisenbahnen hat, aber professionell mit der Abwicklung von Nachlässen befasst ist, müsste spüren, dass Schienen und Wagen eben nicht nur Blech, sondern Erinnerung sind.
V.
2019 n. Chr. und 107 Jahre nach Inkrafttreten des ZGB starb am Sonntag, 15. September 2019, in Bern E.L. Nach nachvollziehbaren Medienberichten4 hinterliess er nur weit entfernte gesetzliche Erben, einige testamentarisch bedachte Freunde und 6,99 Tonnen Wohnungsinhalt sowie einige übliche bankgängige Werte. Zweifelsohne war er Sammler, beruflich Finanzchef eines KMU gewesen. Also jemand, der nicht durchwegs desorganisiert, aber möglicherweise durchaus etwas kauzig war und Freude an Spielzeug hatte. Sein Tod wurde von einem Freund am Montag entdeckt, der ihn mit Zweitschlüssel in der Wohnung besuchte, nachdem er einen Tag nichts mehr von ihm gehört hatte (was auf eine enge Beziehung der «Clique» schliessen lässt). Ebenfalls an diesem Montag erfolgte die Siegelung durch das Erbschaftsamt. Eine Woche später – das Netzwerk von E.L. funktionierte – wurde das bei einem anderen Freund lagernde Testament durch einen Mitarbeiter des Erbschaftsamts abgeholt. Am 3. Oktober erfahren drei Freunde per eingeschriebenen Brief des Erbschaftsamts, dass aufgrund des mittlerweile eröffneten Testaments sie drei «entscheiden, wer was bekommt, und können, was sie selber wollen, behalten». «Eisenbahn und Bären eventuell an Kinder» war ein weiteres Anliegen. Jedem der drei Freunde stand 20 Prozent zu, 40 Prozent sollten ans Kinderdorf Pestalozzi in Trogen gehen.
VI.
Am Tag nach Mitteilung des Testaments wenden sich die drei Freunde an den Notar zu Burgdorf, um die ihnen übertragene Auflösung des Haushalts einzuleiten. Sie erfahren, dass innert der vergangenen zehn Tage der gesamte Hausrat bereits in Brockenhaus und Kehrichtverbrennung entsorgt wurde. Etwas später hatte E.L. auf dem Bremgartenfriedhof auch sein schickliches leibliches Begräbnis erfahren. Das Erschaftsamt nennt nicht näher spezifizierte «gesundheitspolizeiliche Gründe», die rasches Vorgehen erfordert hätten.
Die Stimmung zwischen Behörden und privatem Freundeskreis entwickelte sich unerfreulich, nachdem die Freunde gewagt hatten, ihre fehlende Begeisterung ob der entsorgten 6990 Kilo Hausrat auszudrücken, was man offenbar als behördliche Dienstleistung in positivem Sinne hätte wahrnehmen sollen.
VII.
Natürlich ist aufgrund eines Zeitungsartikels kein abschliessendes Urteil möglich; aber nach Massgabe der Darstellung, die der vorstehenden Schilderung zugrunde liegt, ist doch eine rechtliche Analyse geboten.
Rechtlich ist der Grundsatz klar: Die Behörde hat zu gewährleisten, dass die qua Universalsukzession Berechtigten und Verpflichteten in ihre Stellung eintreten können. Offizialmaxime bedeutet nicht, dass die Behörde «es» macht, sondern dass die Behörde den korrekten Ablauf von Amtes wegen zu steuern und dort einzugreifen hat, wo die Beteiligten es nicht vermögen (namentlich also in den Fällen von Artikel 554 und Artikel 556 Absatz 3 ZGB).
Im konkreten Fall hatte die Behörde die Siegelung (Artikel 552 ZGB) angeordnet. Diese dient in Bern weniger der Sicherung der Erbschaft denn als Grundlage der Ermittlung der Erbschaftssteuer. Doch gewährleistet das dabei zu erstellende Inventar einen Überblick über den Bestand des Nachlasses.5 Bundeszivilrechtlich konnte die Erbschaft nicht tel quel den testamentarisch Begünstigten überlassen werden, weil diese nicht gesetzliche Erben waren. Es lag der Tatbestand von Artikel 556 Absatz 3 ZGB vor. Aber: Die drei Freunde waren mit der Haushaltsauflösung beauftragt und E.L. hatte ihnen ein gewisses Dispositionsermessen eingeräumt. Ob das allenfalls mit dem Grundsatz der materiellen Höchstpersönlichkeit kollidiert hätte,6 oder ob den Freunden sinngemäss die Errichtung einer Stiftung zum Betrieb eines Spielwarenmuseums aufgetragen war, braucht nicht mehr diskutiert zu werden. Sinngemäss waren sie aber mit der Abwicklung des Nachlasses beauftragt und damit als Willensvollstrecker eingesetzt.
VIII.
Die Miterben-testamentsvollstreckung kann Spannungspotenzial bergen. Sie ist aber zulässig, und nach Artikel 554 Absatz 2 ZGB obliegt Willensvollstreckern die Erbschaftsverwaltung. Erster behördlicher Schritt muss demnach die Prüfung sein, ob die weiteren Schritte einem Willensvollstrecker übertragen werden können oder ob behördliches Handeln erforderlich ist. Ohne diese Prüfung fehlt dem Handeln der Behörde jede Grundlage und ist die Einmischung in den Bestand des Nachlasses und der Entscheid zur Entsorgung widerrechtlich. Eine Wohnungsräumung, ohne sich mit dem Inhalt des der Behörde vorliegenden Testaments auch nur im Ansatz befasst und mit den mutmasslichen Willensvollstreckern Kontakt aufgenommen zu haben, widerspricht elementarstem Verständnis: Die (externe) Testamentseröffnung hat nach Artikel 557 ZGB binnen eines Monats nach Einlieferung zu erfolgen. Die Frist ist Ordnungsvorschrift, und regelmässig wird behördenintern das Testament vorgängig zur Kenntnis genommen, um die Erben (und damit die Adressaten der Eröffnung) zu ermitteln7 und sich einen Überblick – etwa bezüglich Einsetzung eines Willensvollstreckers – zu verschaffen.8 Und was angebliche gesundheitspolizeiliche Aspekte betrifft: Selbst der Hausrat eines an Covid-19 Verstorbenen wäre nach Epidemiengesetz nicht via Kehrichtverbrennung zu entsorgen. Schutzmasken und Desinfektionsmittel brauchte es bei Nachlässen kranker und vereinsamter Menschen schon früher. Aber die Verwaltung auch einer solchen Erbschaft bedeutet mitnichten ihre Liquidation (Artikel 593 ff. ZGB meint etwas ganz anderes).
IX.
Bekanntlich wird das Erbrecht revidiert, in einer ersten, angeblich «politischen» Etappe (die ein Erbrecht unverheirateter Paare verworfen hat) wurde es am 18. Dezember 2020 verabschiedet. Es folgen noch eine «technische» Etappe (die solches zu regeln hätte), sodann noch das Unternehmererbrecht und die Revision der erbrechtlichen Bestimmungen des IPRG zwecks Koordination mit der Erbrechtsverordnung der EU.
Für den hier interessierenden Bereich der technischen Anliegen unterstreicht dieser Fall die Unzweckmässigkeit eines rein behördlichen Vorgehens. Zwar gilt der Grundsatz der «effizienten Verwaltung», aber auch der «rule of law»: Effizienz im gesetzlichen Rahmen! Vieles in der Nachlassabwicklung ist weniger behördlicher Schematismus als gerichtliche Auslegung. Namentlich bietet ein gerichtliches Verfahren den Vorteil, dass kontradiktorisch allenfalls divergierende Standpunkte von Nachlassbeteiligten untereinander oder gegenüber involvierten Amtsstellen abgewogen werden können. Das Risiko, dass eine Wohnung erst während der ordentlichen Kündigungsfrist und nicht schon vor der Bestattung geräumt ist, scheint erträglich.
Dass eine Amtsstelle, die für die erbrechtliche Siegelung verantwortlich ist, während laufender Siegelung, vor Eröffnung des Testaments bzw. (Vorab-)Information des ihr bekannten erblasserischen Umfelds und vor Beisetzung der verstorbenen Person «den Bagger auffahren» und 6,9 Tonnen Material entsorgen lässt, ist nicht einfach ein Fehler, der unterlaufen kann, sondern ein kapitaler Organisationsmangel und fachliches und menschliches Unvermögen, das arbeitsrechtliche und strafrechtliche Relevanz hat. Die «Zusammenarbeit» von Erbschaftsamt und Entsorgungsunternehmen birgt reizvolle Rechtsfragen.9 Es drängt sich auf, wesentlich enger mit den Hinterbliebenen als mit der «Industrie» zusammenzuarbeiten, auch wenn dort die «Abläufe» einfacher und eingespielt sind.
X.
Die Vermischung einer bundeszivilrechtlich dem Kanton delegierten Kompetenz (Erbgangssicherung) mit einer gesundheits-
polizeilichen Anmassung ist ein Fehlkonstrukt. Es lässt sich allerdings beobachten, dass Bestattungsämter gerne und leichthin mit privaten Bestattungsunternehmen zusammenarbeiten, was die Amtsstelle beträchtlich entlastet und die Hinterbliebenen kostet.
Manche dieser «Bestatter» haben längst zum Totalunternehmer der Lebensendebewältigung mutiert und bieten über die blosse Grabbepflanzung hinaus Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag, Testament und Willensvollstreckung aus einer Hand an. Da diese Dinge einen «engen» inneren Bezug haben (in dem Sinne, dass sich viele Leute nicht gerne mit all dem befassen, und andere sich damit eher allzu sehr befassen), scheint das Modell kommerziell einigermassen erfolgreich zu sein. Die Empirie zeigt allerdings, dass der Bestatter nicht der beste Willensvollstrecker ist. Die Tabuisierung des dunklen Todes schafft ein Feld, wo durchaus auch etwas im Dunkeln gewerkelt werden kann und «aus Pietät» niemand nachzufragen wagt. Es müssten sich wieder mehr Menschen daran gewöhnen, von einer verstorbenen Person persönlich durch eine zärtliche Berührung der Hand oder Wange Abschied zu nehmen.
1 Basler Kommentar Bundesverfassung, Basel 2015, René Pahud de Mortanges, Art. 15 N 58 ff.
2 Dazu etwa Rudolf Welser, Erbrecht, Wien 2019, S. 227 ff.
3 Peter Breitschmid, «Darf man erben?», in: Successio 2021, S. 87 ff., im Anschluss an Anne Röthel, «Ist es gerecht, dass es ein Recht zu vererben gibt?», in Archiv für die civilistische Praxis 2020, S. 19 ff.
4 Markus Häfliger, «Ein Testament für den Ofen», in: Tages-Anzeiger, 22.8.2020, S. 3 = Der Bund 22.8.2020, S. 20.
5 Vgl. die VO über die Errichtung eines Inventars, BELEX 214.431.1; dass irgendetwas im Sinne dieser Standards unternommen (z.B. die angeblich chaotische Wohnung fotografisch dokumentiert) worden wäre, ist nicht ersichtlich.
6 Basler Kommentar ZGB II, Basel 2019, Peter Breitschmid, Art. 498 N 12 ff.
7 Vgl. etwa Praxiskommentar Erbrecht, Basel 2015, Frank Emmel, Art. 556 N 14 ff.
8 Die Situation entspricht jener bei einem Vorsorgeauftrag (vgl. Art. 363 ZGB): Ob eine Kesb Massnahmen zu treffen hat, hängt davon ab, ob private Vorsorge getroffen wurde und ob diese private Struktur funktioniert. Ist das nicht geklärt, mögen ausnahmsweise unaufschiebbare Massnahmen möglich sein; es fiele z.B. in Betracht, einstweilen durch Auswechseln eines Schlosses den Zugang für allenfalls unberechtigte unbekannte Schlüsselinhaber zu sperren, aber knappe 7 Tonnen Hausrat können auch noch zehn Tage lagern, da sie offenkundig nicht in den zwei Monaten zuvor angehäuft worden waren, weshalb dafür kaum vorsorglich ein Beistand bestellt werden müsste, wenn nicht dringende baustatische Probleme bestehen.
9 Ohne Bezug zum vorliegenden Fall sei an die «Praxis» eines vorarlbergischen Landgerichts erinnert, wo interessanterweise verschiedentlich Angehörige von am Gericht Beschäftigten testamentarische Erben alleinstehender Erblasser wurden: Man hatte in geeignet scheinenden Fällen die Testamente gleich am Gericht erstellt und umgesetzt, und lange bemerkte das niemand: Gernot Hämmerle, Falsche Erben – Testamentsfälscher bei Gericht, Hohenems /Wien 2011 (Rezension durch Luigi Rossi in Successio 2012, S. 309). Für das halbe Dutzend Beteiligte resultierten teils mehrjährige Haftstrafen. Solches Vorgehen wird natürlich durch das System des «Verlassenschaftsverfahrens» (vorne bei Fn 2) beträchtlich erleichtert und durch das hiesige Konzept des Einbezugs des bekannten erblasserischen Umfelds erschwert; lokale Erbschaftsbehörden seien gewarnt, dass die amtliche Begleitung nicht zur im ZGB systemwidrigen Situation führt, dass Hinterbliebene bei der Behörde den Nachlass «abholen» müssen (vgl. §§ 797 ff. ABGB, wo Universalsukzession erst mit «Einantwortung» resultiert: Welser, a.a.O., S. 246 f.).