Es schien fast, als käme die Bundesanwaltschaft nach Jahren der Negativschlagzeilen endlich zur Ruhe. Die Aufsichtsbehörde (AB-BA) spricht in ihrem Ende April publizierten Jahresbericht von einer «Stabilisierung» der umstrittenen Behörde und attestierte den stellvertretenden Bundesanwälten, «konstruktiv» mit ihr zusammenzuarbeiten. Das waren neue Töne, kam es doch unter dem im Sommer 2020 zurückgetretenen Michael Lauber zu einem öffentlich ausgetragenen Zerwürfnis zwischen Bundesanwalt und Aufsichtsgremium.
Auch die Bundesanwaltschaft selbst sandte zuletzt positive Signale aus: So vermeldete sie im Rahmen ihres Tätigkeitsberichts 2020, dass sie im vergangenen Jahr 29 Anklagen ans Bundesstrafgericht in Bellinzona überwiesen hatte – so viele wie noch nie.
Geschäftigkeit statt Skandale, Stabilität statt personelle Querelen: Hat die seit mehreren Jahren skandalumwitterte Bundesanwaltschaft knapp ein Jahr nach dem Rücktritt von Lauber effektiv Kurs auf ruhige Gefilde genommen?
Fast alles auf dem Prüfstand
Das wäre eine vorschnelle Annahme. Kommunikationschef André Marty verlässt seinen Posten, gegen ihn läuft noch ein Strafverfahren in der Fifa-Affäre. Und der in der Fifa-Affäre als Sonderstaatsanwalt ermittelnde Stefan Keller wurde vom Bundesstrafgericht in den Ausstand geschickt, weil er Fifa-Präsident Gianni Infantino «voreingenommen und unfair» behandelt haben soll. Unter anderem, indem er offensiv Medienmitteilungen verschickt und in plädoyer 1/2021 ein Beschwerdeverfahren Infantinos öffentlich gemacht und so gegen Amtspflichten verstossen habe. Keller war von der AB-BA eingesetzt worden.
Vor allem aber liegen im Zusammenhang mit der Bundesanwaltschaft zurzeit mehrere drängende politische Fragen auf dem Tapet. Da ist zum einen die nach wie vor ungeklärte Nachfolge von Lauber. Die für die Nominierung zuständige Gerichtskommission präsentierte der Bundesversammlung auch nach mehreren Anhörungen noch keinen Kandidaten. Und da ist zum anderen eine relativ umfassende Überprüfung der Bundesanwaltschaft durch die Geschäftsprüfungskommissionen des National- und Ständerats.
Unter die Lupe genommen werden Struktur und Organisation der Bundesanwaltschaft sowie die Aufsichtsfrage – Bereiche, die in den vergangenen Jahren im Zentrum teils hitziger politischer Diskussionen standen. Zurzeit befassen sich beide Geschäftsprüfungskommissionen mit einem Gutachten zu diesen Fragen. Es wurde von den Professoren Benjamin Schindler von der Universität St. Gallen und Christopher Geth von der Universitität Basel erstellt.
Auch die Zuständigkeiten der Bundesanwaltschaft stehen zurzeit auf dem Prüfstand. Den Anlass dazu gab ein Postulat des Zürcher SP-Ständerats Daniel Jositsch (plädoyer 1/2020).
Kompetenzen: Feuerwerk, Mafia, Kriegsverbrecher
Die Zuständigkeiten des Bundesanwalts sind in der Strafprozessordnung geregelt. Der Strauss ist bunt: So ist der Bundesanwalt nicht nur für die Verfolgung der organisierten und internationalen Kriminalität oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Sein Aufgabenkatalog umfasst auch Sprengstoffdelikte oder Banknotenfälschungen. «Auf der einen Seite hat es die Bundesanwaltschaft mit hochkomplexen und anspruchsvollen Fällen zu tun – auf der anderen Seite aber auch mit Kleingemüse, das eher zufällig in die Bundeskompetenz fällt», sagt Ständerat Jositsch. Die Konsequenz: Die Bundesanwaltschaft bringe Fälle vor das Strafgericht in Bellinzona, die genauso gut vor kantonalen Gerichten verhandelt werden könnten – und muss andererseits eben diesen Gerichten komplexe Fälle überlassen, für die sich eine Bundeszuständigkeit eigentlich aufdrängt.
Jositsch nennt als Beispiel den Swissair-Prozess: «Dass dieser Fall von nationalem Interesse am Ende vor dem Bezirksgericht Bülach verhandelt wurde, entbehrt jeder Logik.» Die Forderung des Strafrechtsprofessors: «Die Bundesanwaltschaft sollte sich auf internationale oder zumindest überkantonale Fälle fokussieren und vor allem im Bereich Wirtschaftskriminalität tätig sein.»
Auch der Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth ist der Ansicht, dass sich die Bundesanwaltschaft noch stärker auf komplexe Fälle konzentrieren sollte, «statt jahrelang in zahlreichen Fällen herumzuwuseln». Die Bundesanwaltschaft sieht Fingerhuth im Idealfall als «kleinen, exklusiven Club», der sich auf drei oder vier anspruchsvolle Themenkomplexe beschränkt. «In diesen Bereichen könnte die Bundesanwaltschaft dann wirklich gut und ef-
fizient agieren», sagt er.
Hanspeter Uster, der Präsident der AB-BA, äussert sich seiner Rolle entsprechend zurückhaltender, wenn es um die Kompetenzfrage geht. Er stellt aber klar, die Aufsichtsbehörde begrüsse, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen nun nach zehn Jahren Erfahrung mit der Schweizerischen Strafprozessordnung einer Überprüfung unterzogen werde. Und er tönt zumindest an, dass er für Änderungen in diesem Bereich durchaus offen ist: «Man kann mit guten Gründen hinterfragen, weshalb der Bund etwa für die in der Regel nicht besonders anspruchsvollen Sprengstoffdelikte zuständig sein soll.» Hinterfragt werden derweil nicht nur die Zuständigkeiten, sondern auch die Stellung des Bundesanwalts innerhalb der Behörde und deren Organisation.
Das Ende der Alleinherrschaft
Michael Lauber, Erwin Beyeler, zuvor Valentin Roschacher und Carla Del Ponte: Die öffentliche Wahrnehmung der Bundesanwaltschaft ist seit Mitte der 1990er-Jahre vor allem mit der Person an ihrer Spitze verknüpft. Der Historiker Hans-Ulrich Jost, emeritierter Professor der Universität Lausanne, blickte zuletzt in Essays für die Medienportale «Infosperber» und «Bon pour la tête» noch weiter zurück. Zum Beispiel auf den «Kommunistenjäger» Franz Stämpfli, Bundesanwalt von 1916 bis 1948, dem Jost die Stellung eines «achten Bundesrates» zuschreibt.
An der üppigen Machtfülle des Bundesanwalts änderte sich über all die Jahre wenig. Heute ist es der Artikel 13 des Strafbehördenorganisationsgesetzes, der dem obersten Strafverfolger des Bundes ein «umfassendes Weisungsrecht» einräumt. Der Bundesanwalt kann denn auch alleine über die Einleitung oder Einstellung eines bestimmten Verfahrens bestimmen.
In ihrer Disziplinaruntersuchung gegen Michael Lauber kam die AB-BA folglich wenig überraschend zum Schluss, dass Lauber «sehr viele Kompetenzen auf seine Person vereinigte». Die aktuelle politische Diskussion dreht sich deshalb auch um die Frage, ob die Leitung der Bundesanwaltschaft neu organisiert werden muss. Denkbar wäre gemäss Uster zum Beispiel ein Modell mit drei gleichberechtigten Bundesanwälten oder ein «Primus-inter-pares»-Modell mit einem ersten Bundesanwalt.
Für Historiker Jost ist jedenfalls klar: «Eine weniger diktatorische Leitung würde der Bundesanwaltschaft guttun. Die Zeiten des starken Mannes sind vorbei.» Zu diesem Schluss kommt auch Daniel Jositsch. Dies weniger, weil ihn die starke Rolle des Bundesanwalts innerhalb der Behörde stört. «Aber es soll nicht eine Person sein, die derart im öffentlichen Fokus steht.» Der Ruf der Bundesanwaltschaft habe in den letzten Jahren auch aufgrund des medialen Dauerfeuers auf die jeweiligen Personen an der Spitze Schaden genommen.
Kein Problem mit der starken Stellung des Bundesanwalts hat Strafverteidiger Fingerhuth. Seiner Meinung nach sollte ein Bundesanwalt aber viel stärker im Hintergrund agieren, als er es heute tut. Fingerhuth sieht den obersten Strafverfolger des Bundes als eine Art Manager, zuständig für Organisation und Abläufe, und nicht als Akteur an der Front. Die heutigen Strukturen würden eine solche Interpretation der Rolle eigentlich zulassen, habe der Bundesanwalt doch Stellvertreter und Pressesprecher. «Auch ist er meist nicht so stark in einzelne Fälle involviert», so Fingerhuth.
Gemäss Hanspeter Uster brachte das Disziplinarverfahren gegen Lauber auch «grosse Unsicherheiten» über die personalrechtliche Stellung des Bundesanwalts ans Tageslicht. Die AB-BA fordert in ihrem Tätigkeitsbericht 2020 deshalb, dass die Funktionen des Bundesanwalts neu dem Bundespersonalrecht unterstellt werden.
Aufsichtsbehörde als zahnloser Tiger
Die Gutachter Geth und Schindler überprüfen zurzeit aber auch rechtliche Unklarheiten, welche die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft selbst betreffen. Die AB-BA besteht in ihrer heutigen Form seit 2011 und übernahm die Aufsichtsaufgabe vom Bundesrat. Ihr gehören sieben Mitglieder an, die allesamt nebenamtlich tätig sind. Es handelt sich um Richter, Anwälte und andere Fachleute, die weder einem Gericht angehören noch im Anwaltsregister eingetragen sind. Gewählt wird die AB-BA von der vereinigten Bundesversammlung.
Im Zuge der Affäre Lauber wurde die AB-BA gewissermassen einem ersten Praxistest unterzogen: Sie führte eine Disziplinaruntersuchung gegen den damaligen Bundesanwalt, sah sich aufgrund mangelnder Ressourcen aber nicht in der Lage, diese selbst durchzuführen – und betraute eine externe Drittperson damit. Das Bundesverwaltungsgericht kam nach einer Beschwerde Laubers zum Schluss, dass dieses Vorgehen mangels genügender gesetzlicher Grundlage nicht rechtens sei. Folge: Die Aufsichtsbehörde stand im Ernstfall als zahnloser Tiger da. Und es wurde die Frage laut, ob die AB-BA ihren Auftrag überhaupt erfüllen kann oder ob nicht doch besser der Bundesrat oder das EJPD die Aufsicht wahrnehmen soll.
Die AB-BA kommt in ihrem Tätigkeitsbericht 2020 zu einem anderen Schluss: «Die AB-BA hat ihren gesetzlichen Auftrag kontinuierlich und gewissenhaft erfüllt», heisst es da. Und: Gerade das Disziplinarverfahren gegen Lauber habe gezeigt, dass weder der Bundesrat noch das EJPD die Aufsicht in der «gleichen Unabhängigkeit, Gründlichkeit und Qualität» wie die AB-BA hätte wahrnehmen können.
“Die Aufsichtsbehörde ist nicht die Polizei”
Allerdings benötige die Aufsichtsbehörde zur Erfüllung ihrer Aufgaben zusätzliche Ressourcen. Im Sekretariat, aber auch an der Spitze: So bräuchte der künftige Präsident der AB-BA gemäss Hanspeter Uster ein fixes Pensum. Mit dem von ihr erlassenen neuen Organisationsreglement konnte die AB-BA dieses nun immerhin auf 35 Prozent festlegen. Ein noch höheres Pensum müsste das Parlament beschliessen. Die Ressourcenfrage ist allerdings nicht alles: Gemäss Uster gilt es auch, die «teils rudimentären gesetzlichen Grundlagen», die die AB-BA betreffen, einer Revision zu unterziehen.
Für Thomas Fingerhuth, der von 2010 bis 2014 selbst der AB-BA angehörte, ist das Problem der Aufsichtsbehörde jedoch nicht nur organisatorischer oder ressourcentechnischer Natur. Er kritisiert die Art und Weise des Vorgehens im Fall Lauber: «Es war nicht geschickt, dem Bundesanwalt mit einem öffentlich breitgetretenen Disziplinarverfahren derart an den Karren zu fahren», sagt er. «Die Aufsichtsbehörde ist nicht die Polizei.» Hanspeter Uster verteidigt derweil das im Fall Lauber gewählte Vorgehen: «Hätten wir weggeschaut, hätten wir unsere Kernaufgabe als Aufsichtsbehörde nicht erfüllt», sagt er. Und: «Unsere Disziplinarverfügung betreffend den ehemaligen Bundesanwalt wurde vom Bundesverwaltungsgericht in allen wesentlichen Punkten bestätigt.»
Auch die Geschäftsprüfungskommissionen von National- und Ständerat kamen vor knapp einem Jahr in einem Bericht zum Schluss, dass die Gründe für das Zerwürfnis zwischen der AB-BA und dem ehemaligen Bundesanwalt vor allem bei Lauber lagen. Er habe ein «falsches Aufsichtsverständnis» an den Tag gelegt und die Aufsichtsbehörde «frontal angegriffen».