Parlamentarische Vorstösse verlangen in den Kantonen Bern und Solothurn ein Verbot der Ganzkörperverschleierung. Der Aargauer Grosse Rat hat einer Kommission den Auftrag erteilt, eine Standesinitiative für ein nationales Verschleierungsverbot auszuarbeiten. Dem Verfassungsrechtler Andreas Auer gehen diese Vorhaben in die falsche Richtung, weil man Musliminnen nicht ein Verhalten aufzwingen kann, das diskriminierend ihre religiöse Freiheit beschneidet. Er ist gegen das Burka-Verbot. Rosmarie Zapfl, die Präsidentin von Alliance F, dem Bund Schweizerischer Frauenorganisationen, hält ihm entgegen, dass eine Duldung von komplett verschleierten Gesichtern im öffentlichen Raum die Gleichstellung von Frau und Mann sabotiert. Zapfl fordert, die Ganzkörperverschleierung sei zu verbieten.
plädoyer: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Ihnen eine völlig verschleierte Frau begegnet?
Andreas Auer: Nichts Besonderes. Denn jede Person hat das Recht, ihre religiösen Gefühle im Rahmen der öffentlichen Ordnung mittels Kleidungsstücken auszudrücken. Allerdings habe ich in der Schweiz noch nie eine Frau in einer Burka gesehen, wohl aber in Paris und anderswo. Gestört hat es mich nicht.
Rosmarie Zapfl: Mir fährt es bei diesem Anblick kalt den Rücken hinunter. In meiner Arbeit bin ich durchaus schon solchen Frauen begegnet. Sie tragen eine Burka, weil die Gesellschaft, in der sie leben, sie zum Tragen dieser Kleidung zwingt. Für mich ist die Ganzkörperverschleierung kein religiöses Zeichen, der Koran schreibt sie schliesslich nicht vor. Burka und Niqab stellen eine ausgesprochene Diskriminierung von Frauen dar, denn kein einziger muslimischer Mann kleidet sich so. Ich möchte anfügen, dass ich kein Problem mit einem Schleier oder Kopftuch habe. Eine Enkelin von mir ist Muslimin und trägt ein Kopftuch - das stört mich überhaupt nicht. Die Burka hingegen verdeckt den Körper und das Gesicht komplett. Vom Standpunkt der Emanzipation der Frau aus betrachtet ist das inakzeptabel.
plädoyer: Handelt es sich um eine rechtlich relevante Diskriminierung?
Auer: Nein. Frau Zapfl geht von einem falschen Konzept der Diskriminierung aus. Grundrechte können unmittelbar nur gegenüber dem Staat eingefordert werden. Die Diskriminierung hat also von einem vorwerfbaren Verhalten des Staates auszugehen, nicht von Handlungen einzelner Privatpersonen. Frau Zapfl geht einigermassen willkürlich davon aus, dass jede Frau, die eine Burka trägt, dazu von ihren männlichen Familienmitgliedern gezwungen wird. Dies kann, muss aber nicht der Fall sein. Die Verfassung kann für eine solche Unterstellung nicht angerufen werden. Denn es lässt sich zumindest nicht ausschliessen, dass sich manche Frauen aus eigenem Wunsch so kleiden. Ein Verbot schränkt aber ihre persönliche und religiöse Freiheit unzulässig ein, ohne die unterstellte Diskriminierung beseitigen zu können. Es zeugt von einer paternalistischen - oder genauer - in Ihrem Fall von einer maternalistischen Bevormundung der Frauen durch Frauen. Eigentlich ein krasser Widerspruch!
Zapfl: Die Rechte der Frau sind Teil der Menschenrechte. Und die Schweiz hat dafür zu sorgen, dass diese respektiert werden - auch mit ihrer Gesetzgebung.
plädoyer: Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Schweiz noch nicht durchgesetzt ist. Frauen verdienen im Durchschnitt deutlich weniger als Männer, selbst wenn sie für dieselbe Tätigkeit die gleichen Qualifikationen mitbringen. Ist es nicht zusätzlich ein gewaltiger Rückschritt für das Anliegen der Gleichberechtigung, wenn nun die Ganzkörperverschleierung der Frau mittels Burka oder Niqab toleriert wird?
Auer: Einverstanden, mit der Gleichstellung von Mann und Frau sind wir noch nicht am Ziel. Doch auch der Kampf für alle anderen Menschenrechte wird nie abgeschlossen sein. Mich stört zweierlei: Erstens wird einfach angenommen, dass sich diese Frauen gegen ihren Willen so kleiden müssen. Und zweitens werden die Menschenrechte einzig aus unserer schweizerischen Optik berücksichtigt, die alles andere als unvoreingenommen ist. Ich verweise darauf, dass es auch in unseren Familien deutliche Ungleichheiten gibt, denen beide betroffenen Seiten freiwillig zustimmen. Es verhält sich zum Beispiel sehr oft so, dass nur einer der beiden Ehepartner den Haushalt besorgt, sich der Wäsche annimmt oder die Mahlzeiten zubereitet – und niemand hat etwas dagegen einzuwenden.
Zapfl: Frauen, die im Iran oder in Pakistan keine Möglichkeit haben, einen Beruf zu ergreifen und in Freiheit zu leben, kommen zu uns. Sie erwarten, dass wir sie dabei unterstützen, wenn sie sich von den unterdrückenden Elementen ihrer Religion befreien wollen – und jetzt wollen wir ihnen dazu nicht die Hand reichen?
Auer: Vorsicht: Es ist nicht an uns zu urteilen, ob es sich beim Tragen einer Burka oder eines Niqab um einen religiösen Ausdruck handelt. Entscheidend ist lediglich die subjektive Überzeugung dieser Frauen. Es kommt darauf an, ob sie selbst der Ansicht sind, ihren religiösen Gefühlen auf diese Art und Weise Ausdruck verleihen zu können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg schützt einen solchen Ausdruck, wie er zum Beispiel im Urteil Ahmet Arslan und andere c. Türkei vom 23. Februar 2010 festgestellt hat. Dabei wurde eine Klage gegen die Türkei gutgeheissen, nachdem das Land den Angehörigen einer religiösen Gruppe das Tragen charakteristischer Kleidung untersagen wollte.
Zapfl: Genau deshalb trete ich nicht für ein Verbot der Burka ein. Ich bin für ein generelles Verbot, das Gesicht im öffentlichen Raum zu verhüllen. Wir sollten auf die Stimmen dieser Frauen hören. Ich bin selbst in einer sehr katholischen Familie aufgewachsen und erfuhr Unterdrückung, zum Teil durch die Kirche, zum Teil durch die Gesellschaft, die sich auf die Kirche abstützte, um bestimmte Verhaltensweisen durchzusetzen. Meine eigene Grossmutter durfte - hier, in der Schweiz! - das Haus nicht verlassen, ohne sich den Kopf zu bedecken. Es bedurfte zweier Generationen, um die Frauen in der Schweiz von diesem Zwang zu befreien. Warum können wir für die heutige Form dieses Problems keine Lösung finden? Schliesslich wenden sich muslimische Frauen mit dieser Bitte an uns.
Auer: Eine Lösung wofür? Ist unsere Gesellschaft gefährdet, weil hier vielleicht zweihundert Frauen eine Vollverschleierung tragen? Sind die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Sittlichkeit bedroht, weil diese zweihundert Frauen manchmal mit verhülltem Körper durch die Strassen spazieren? Wir konzentrieren uns auf Symbole wie die Burka oder das Minarett. Mir kommt das vor wie ein stillschweigendes Eingeständnis, dass der Kampf gegen die Einwanderung - der von denselben Kreisen geführt wird wie jener gegen die Burka - letztendlich defintiv fehlgeschlagen ist.
Zapfl: Das sehe ich anders. Die Einwanderung ist eine grosse Chance für die Schweiz.
Auer: Die Gefahr geht wohl eher von jenen aus, die Angst davor haben, dass die muslimische Gesellschaft expandieren könnte.
Zapfl: Und gerade deshalb - ich wiederhole es gerne noch einmal - braucht es eine umfassendere Regelung: ein Vermummungsverbot auf öffentlichem Grund.
Auer: Das käme einer indirekten Diskriminierung gleich, nämlich einer Diskriminierung, die nicht ausdrücklich auf die muslimische Religion abzielt, aber im Endeffekt nur ihr Schaden zufügt. Vom rechtlichen Standpunkt betrachtet ist eine indirekte Diskriminierung genauso untolerierbar wie eine direkte.
plädoyer: Wie können die Rechte und Freiheiten von Dritten geschützt werden? Rosmarie Zapfl fühlt sich in ihrem Recht auf einen freien Austausch mit anderen Frauen in der Öffentlichkeit beeinträchtigt, weil die Ganzkörperverschleierung einige Frauen bis auf ein kleines Gitter vor den Augen völlig verhüllt und keinerlei Austausch ermöglicht.
Auer: Den Schutz der Rechte und Freiheiten Dritter kann man in der Tat heranziehen. Die Beeinträchtigung muss allerdings gravierend sein, um daraus eine Begründung für eine derartige Einschränkung der Freiheit abzuleiten, wie sie die angesprochenen Verbote darstellt. In diesem Fall jedoch ist die Beeinträchtigung der Rechte von Dritten nicht derart einschneidend, dass sich daraus eine Begründung konstruieren liesse. Wenn Frau Zapfl sagt, sie fühle sich im Kontakt mit vollverschleierten Frauen diskriminiert, so argumentiert sie nicht juristisch. Ich habe jedoch nichts einzuwenden, wenn der Staat von muslimischen Personen verlangt, dass sie gegenüber Behörden den Schleier ablegen, etwa um ein Passfoto anzufertigen.
plädoyer: Betrachtet man die umliegenden Länder, so diskutiert Frankreich ähnliche Fragen, während Belgien als erstes europäisches Land das Tragen von Burka und Niqab im öffentlichen Raum per Gesetz untersagt hat.
Auer: Die Diskussion in Frankreich ist hochinteressant. Der Conseil d'Etat (Anm. der Redaktion: oberste Verwaltungsinstanz und Beratungsorgan in Verfassungsfragen) hat sich gegen ein völliges Verbot der Ganzkörperverschleierung in der Öffentlichkeit ausgesprochen, weil es sich auf «keinerlei einwandfreie juristische Grundlage» stützen könne und weil ein solches Verbot auf einer zweifelhaften verfassungsmässigen Grundlage basiere. Die Regierung hielt dennoch am geplanten generellen Verbot fest, sodass nun das Parlament zu entscheiden hat. Um das Argument der Verfassungswidrigkeit zu entkräften, will Präsident Nicolas Sarkozy das Gesetz dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Mit diesem Manöver kann er das Verfassungsgericht, den Conseil Constitutionnel, umgehen, der sich bislang weigerte, vom Volk genehmigte Gesetze zu beurteilen. Man kann davon ausgehen, dass das Volk Ja sagt zum Verbot. Damit entsteht letztlich eine ähnliche Situation wie bei uns durch die Abstimmung über das Minarettverbot, die die Volksrechte zum Zweck der Diskriminierung einer einzelnen Religion missbraucht hat. Ich gehe davon aus, dass solche Verbote vor der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht standzuhalten vermögen und dass der Strassburger Gerichtshof sie verurteilt. Bestätigen Frauen, dass sie nach ihrer Auffassung aus religiösen Gründen solche Kleidung tragen müssen, so ist die Frage bereits bejaht, ob die betroffenen Frauen in ihrer religiösen Freiheit beschränkt werden. Das französische Gesetz diskriminiert also eine einzelne Religion, ohne sich auf eine triftige Rechtfertigung stützen zu können.
plädoyer: Ist jetzt nicht Handeln angesagt? Ansonsten riskiert man, Vorkommnisse wie jenes in Basel zu fördern, wo am 1. Juni eine schwarz verschleierte Muslimin angegriffen wurde. Oder wie in Dresden, wo eine 32-jährige Mutter umgebracht wurde, weil sie ein Kopftuch trug.
Auer: Gerade weil es diese Diskussionen über ein Verbot in verschiedenen europäischen Ländern gibt, fühlen sich manche Menschen in ihren Vorurteilen bestätigt und lassen sich davon zu Attacken auf verschleierte Frauen anstacheln. Was bringt es, wenn wir mit einem Burka-Verbot manchen Frauen de facto verunmöglichen, das Haus zu verlassen? Wir diskriminieren sie, indem wir ihnen - indirekt - den Zugang zum öffentlichen Raum untersagen.
Zapfl: Ihr erstes Argument, Herr Auer, leuchtet mir ein: Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass die Aggressionen gegen Muslime zu verurteilen sind, und - als Grossmutter einer Muslimin - kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, wie widerlich manche Kommentare von Menschen ausfallen, die sich mit ihrem unflätigen Verhalten erst noch im Recht fühlen. Dennoch bin ich der Ansicht, dass Frauen dieselben Chancen und Rechte haben sollen wie Männer.
Auer: Das erinnert mich an jene feministische Strömung, welche behauptet, dass eine rechtliche Gleichstellung nicht genüge, weshalb überall eine faktische Gleichstellung von Frau und Mann durchzusetzen sei. Mit dieser Vorstellung kann ich mich nicht anfreunden. Denn in Tat und Wahrheit sind Mann und Frau schlichtweg nicht gleich, allein schon und vor allem körperlich, und das ist auch gut so. Beim Frauenstimmrecht habe ich an der Seite der Frauen gekämpft, etwa beim Bundesgerichtsentscheid von 1990 im Fall von Appenzell-Innerrhoden. Und ich habe mich dafür eingesetzt, dass Frauen an den Universitäten bessere Chancen erhalten, zum Beispiel mit einer Bevorzugungsklausel im Genfer Universitätsgesetz. Mich stört, dass die Mehrheit - sowohl im politisch linken wie auch im rechten Spektrum - mittlerweile glaubt, sie setze sich mit einem Verbot der Burka für eine gute Sache ein. Mit einer vorherrschenden, politisch dominanten Meinung im gesellschaftlichen und vor allem im religiösen Bereich habe ich generell ein Problem. Als Staatsrechtler kann ich nicht anders, als meine Stimme laut und vernehmbar gegen jede Diskriminierung von Muslimen und ihrer Religion zu erheben, im besten Wissen darum, dass meine Meinung bei einer allfälligen Volksabstimmung Gefahr läuft, sang- und klanglos überstimmt zu werden.
plädoyer: Verliert unsere Gesellschaft zu viel Zeit mit Diskussionen über Burka und Niqab, die nur relativ wenige Menschen betreffen? Täten wir nicht gut daran, diese Energie anders einzusetzen, zum Beispiel durch die Suche nach Möglichkeiten für eine grundsätzlich bessere Integration von Fremden in unserer Gesellschaft?
Zapfl: Ich glaube nicht, dass die Diskussion über die Burka überflüssig ist. Für uns Frauen stellt sich die Frage, ob die Rechte für eine Kategorie von Bürgerinnen eingeschränkt werden sollen. Das ist meiner Meinung nach eine grundlegende Frage, auf die wir mit einem klaren Nein antworten sollten.
Auer: Es ist unerlässlich, immer wieder mit Nachdruck daran zu erinnern, dass wir, wie alle Staaten, bezüglich der Menschenrechte nicht mehr einseitig auf unsere Souveränität pochen können. Denn deren Inhalt wird, mit unseren eigenen Richtern, vom Strassburger Gerichtshof festgelegt. Dem muss sich auch das Volk fügen, denn die Einhaltung der Grundrechte kann nicht seiner Entscheidung überlassen werden.
Andreas Auer, 62, ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Zürich. Zudem ist er Direktor des Zentrums für Demokratie und des Centre for Research on Direct Democracy in Aarau.
Rosmarie Zapfl, 71, ist Präsidentin des Frauendachverbands Alliance F. Die Geschäftsfrau war bis 2006 Nationalrätin und Europarätin der CVP.