Die ehemalige stellvertretende Direktorin des Bundesamts für Justiz Ruth Reusser und der St. Galler Professor für Privat- und Handelsrecht Thomas Geiser schreiben in der Zeitschrift des bernischen Juristenvereins (ZBJV, 10/2012) Klartext: Es stelle sich die Frage, ob der Gesetzgeber einem erwachsenen Menschen verbieten dürfe, seinen Aufenthaltsort innerhalb der Schweiz oder ins Ausland zu verlegen. Genau dazu führt jedoch der Artikel 301a Absatz 2 ZGB des Entwurfs für das neue Scheidungsrecht, wenn sich geschiedene Elternteile nicht über einen Umzug einigen können. Der neue Artikel sei ein eigentliches Umzugsverbot. «Der Artikel ist hochgradig widersprüchlich und nicht praktikabel. Er stärkt die Position der Väter nicht, sondern schwächt sie ab,» schreibt das Autorenpaar.
Der Gesetzesentwurf sieht vor: Wer ins Ausland zieht oder durch den Umzug die elterliche Sorge erheblich erschwert, darf dies künftig nur mit Zustimmung des anderen Elternteils tun (Artikel 301a Absatz 2 ZGB des Entwurfs). Dies soll nicht nur dann gelten, wenn der Elternteil zügeln will, der das Kind hauptsächlich betreut. Auch der andere Elternteil darf nur umziehen, wenn dies die elterliche Sorge nicht erheblich erschwert. Es gelte zu verhindern, so die Botschaft des Bundesrates zur elterlichen Sorge vom 16. November 2011, dass das Kind und der andere Elternteil vor ein fait accompli gestellt werden.
Können sich die Eltern nicht einigen, sollen Gericht oder Kindesschutzbehörde laut der Botschaft im Interesse des Kindeswohls entscheiden. Ein Wegzug könne allenfalls unter Neuregelung der Betreuung und des persönlichen Verkehrs erlaubt werden. Denkbar sei, dass die Behörde den Wegzug verbiete und für diesen Fall eine Um- oder Fremdplatzierung des Kindes anordne. Beim Wegzug ins Ausland wäre gemäss Bundesrat immer eine Zustimmung erforderlich. Dies führe dazu, dass eine ausländische Jurisdiktion gelte. Entsprechend schwieriger gestalte sich die spätere Durchsetzung der in der Schweiz getroffenen Regelung.
Keine Sanktionen vorgesehen
Reusser und Geiser halten fest, «dass die vorgeschlagene Norm keine Sanktion vorsieht, wenn ein Elternteil seinen Aufenthaltsort oder jenen des Kindes entgegen Artikel 301a Absatz 2 des Entwurfs verlegt». Der Gesetzgeber wäre deshalb gut beraten, es bei der bisherigen Regelung bewenden zu lassen. Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltsortes eines Elternteils kann gemäss geltendem Recht ein Grund sein, die elterliche Sorge dem wegziehenden Elternteil zu entziehen, Kindesschutzmassnahmen (Artikel 307 ff. ZGB) anzuordnen und den persönlichen Verkehr sowie die Unterhaltspflicht neu zu regeln. Mehr liege nicht drin, so Reusser und Geiser. Im Zeitalter des weltweiten Telefonierens zu vertretbaren Preisen sowie des Internets sei die gemeinsame elterliche Sorge auch über weitere Distanzen denkbar.
Der Zürcher Strafrechtsprofessor und SP-Nationalrat Daniel Jositsch fand am 25. September 2012 in der Debatte deutliche Worte: «Artikel 301a sieht vor, dass die persönliche Freiheit eingeschränkt wird - Punkt und Ende!» In der Praxis sei der Artikel nicht durchsetzbar. Der Dumme sei jener Elternteil, der einen geplanten Umzug mit dem Ex-Partner berede. Der schlaue Elternteil ziehe einfach um. Justizministerin Simonetta Sommaruga überraschte mit der Aussage, es sei in keiner Art und Weise das Ziel der Bestimmung, einem Elternteil den Umzug verbieten zu lassen. Inhalt der Vorlage sei, dass die Betreuungsvereinbarung neu angeschaut werden müsse. Trotz diesen Widersprüchen folgten die Parlamentarier dem Bundesrat und stimmten der Gesetzesänderung zu. Das Geschäft geht nun zur Beratung in den Ständerat, wird dort aber kaum Gehör finden.
Eltern werden ohne nachzufragen umziehen
Ohne Sanktionen bleibe ein solcher Artikel ein Papiertiger, sagt Urs Bertschinger, Rechtsanwalt im Buchs SG. Es würde ihn nicht wundern, wenn Klienten eigenmächtig und ohne vorgängige Zustimmung agieren würden. Sein Basler Kollege Peter Liatowitsch fügt an: «Der Artikel kann dazu führen, dass sich der eheliche Disput endlos fortsetzen lässt.» In der Praxis könne das Fortkommen jenes Elternteils erschwert werden, der die ganze Erziehungsarbeit leiste. «Höchst problematisch ist zudem, selbst dann die Zustimmung vorauszusetzen, wenn das Kind in der Obhut der Mutter ist und der Vater aus beruflichen oder persönlichen Gründen seinen Wohnort wechseln will oder muss.»
Mit dem neuen Artikel würde der Gesetzgeber die jüngste Tendenz in der Rechtsprechung umkehren. In einem Eheschutzfall hat das Bundesgericht entschieden (BGE 136 III 353), der Inhaber der alleinigen Obhut dürfe, unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs, ohne gerichtliche Bewilligung auch ins Ausland wegziehen. Eine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls sei bei kleinen Kindern selten gegeben. Auch bei älteren Kindern sei insbesondere die blosse Einschulung am neuen Ort für sich genommen kein Hinderungsgrund. Dies würde sonst bedeuten, dass Familien mit eingeschulten Kindern nicht mehr ihren Wohnort wechseln dürften. Dies gelte sinngemäss auch für das Besuchsrecht. Wenn weiterhin ein persönlicher Verkehr möglich bleibe und der Wegzug auf sachlichen Gründen beruhe, könne nicht verlangt werden, dass der Obhutsberechtigte in der Nähe des anderen Elternteils wohnen bleiben muss. Einer grösseren Distanz sei mit einer angepassten Regelung des persönlichen Umgangs Rechnung zu tragen.
Einvernehmen kann nicht erzwungen werden
Jüngst hat ein Basler Einzelrichter bei gemeinsamem Sorgerecht den Wegzug einer Mutter mit Kindern nach Kuala Lumpur gestützt. Er zitierte wörtlich den einschlägigen Bundesgerichtsentscheid.
Die Zürcher Anwältin Rebekka Riesselmann kritisiert, diese Rechtsprechung höhle das Sorgerecht aus. «Mit einem Umzug in einen entlegenen Landesteil oder gar ins Ausland wird die gemeinsame elterliche Sorge faktisch vereitelt.» Dennoch stellt sie die Frage, wie weit der Gesetzgeber gehen soll, um den Anspruch auf persönlichen Verkehr durchzusetzen. «Das Einvernehmen der Eltern ist im Sorgerecht im Interesse des Kindeswohls unabdingbar.» Der Staat könne es nicht mit Zwang herbeiführen. Riesselmann sieht deshalb mit dem neuen Artikel die Gefahr neuer, durch alle Instanzen geführter Rechtsstreitigkeiten. Dies gefährde das Kindeswohl.
Reusser und Geiser schlagen deshalb vor, dass Artikel 301a Absatz 2 des Entwurfs auf jene Fälle beschränkt wird, in denen einem Elternteil das Obhutsrecht entzogen wurde. Es müsse zudem klargestellt werden, dass es sich um den Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsorts handelt und nicht bloss um einen Ferienaufenthalt. Die Bestimmung müsse den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes regeln und nicht den Aufenthaltsort der Eltern erfassen.