Oberrichter Pierre Martin wird als letzter Präsident des Geschworenengerichts Zürich in die Geschichte eingehen. Er bedauert den Verlust einer Spezialinstanz für Kapitalverbrechen sehr.
Es ist ihm also knapp nicht vergönnt, 160 Jahre alt zu werden. Wenige Monate vor seinem stolzen Jubiläum wird das Geschworenengericht Zürich am 1. Januar 2011 abgeschafft. Versuche dazu gab es allerdings schon einige, die Instanz war nie unumstritten, doch den Todesstoss versetzt ihr nun ausgerechnet die erste eidgenössische Strafprozessordnung. Sie schreibt unter anderem sämtlichen Gerichten für alle am Prozess beteiligten Richter Aktenkenntnis vor - und verunmöglicht mit solchen Vorgaben ein Spezialgericht, an dem neun Laien zusammen mit drei Berufsrichtern Recht sprechen; die Laien ohne Aktenkenntnis.
Der 60-jährige Oberrichter Pierre Martin wird als letzter Präsident des Geschworenengerichts Zürich in die Geschichte eingehen. Er muss nun nicht nur die anstehenden Prozesse für dieses Jahr terminieren und vorbereiten («wir sind schon fast ausgebucht»), sondern parallel dazu die Schliessung des Betriebes vorantreiben. Der Strafrichter versteht nicht, warum sich kaum jemand wenigstens für die Schaffung eines Kriminalgerichts als Ersatz für das Geschworenengericht starkgemacht hat: «Das hätte sich der Kanton Zürich wirklich leisten können.»
Der Regierungsrat hatte einen entsprechenden Vorschlag sogar in die Vernehmlassung geschickt. Der fand aber keine Gnade. Nur die Staatsanwaltschaft und der Geschworenengerichtspräsident warfen Argumente für ein neues Spezialgericht in die Waagschale - und blieben ungehört. Über Möglichkeiten zur Beibehaltung des Geschworenengerichts war schon gar nicht erst diskutiert worden. Bessere Karten hatte da das Handelsgericht, das dank Ausnahmeregeln auch mit den neuen Prozessordnungen des Bundes beibehalten werden kann. «Offenbar hatte das Handelsgericht die bessere Lobby», mutmasst Pierre Martin.
So werden ab Januar 2011 die zwölf Zürcher Bezirksgerichte erstinstanzlich für sämtliche Straffälle zuständig sein. Martin traut ihnen durchaus zu, Schwerstkriminalität zu beurteilen: «Es geht nicht um fehlende inhaltliche Kompetenz, sondern um das aufwendige Prozedere, vor allem bei ungeständigen Tätern und wenn man das Unmittelbarkeitsprinzip nur ein wenig in den Prozess einbauen will, wie es von der eidgenössischen Strafprozessordnung eigentlich vorgesehen ist.»
Bereits heute wäre es den Zürcher Gerichten erlaubt, Beweise direkt in der Hauptverhandlung abzunehmen, also beispielsweise Zeugen oder Experten im Saal zu befragen. Dies aber, so Martin, finde leider allzu selten statt. «Dabei ist es doch wichtig, dass man sieht, wie jemand antwortet, ob die Person glaubwürdig wirkt oder nicht.»
Dieser Auffassung pflichtet ein Geschworener bei, der erst kürzlich seinen ersten Einsatz als Richter hatte - und seither überzeugt und beeindruckt von dieser Prozessform ist: «Es wird ein derart grosser Aufwand dafür betrieben, um uns von Schuld oder Unschuld zu überzeugen, dass am Schluss ein Urteil zustande kommt, hinter dem neun Laien und drei Berufsrichter stehen können.» Einen solchen Aufwand mit den entsprechenden Mehrkosten, so der Geschworene, müsse sich ein demokratisches Staatswesen leisten -der Gerechtigkeit zuliebe.
Über den Gerichtspräsidenten weiss dieser Laienrichter, der namentlich nicht genannt werden möchte, nur Gutes zu berichten: Martin habe den Prozess aufmerksam und zugleich behutsam ge leitet, die Geschworenen ernst genommen und sie nicht beeinflusst: «Doch die Gefahr einer Manipulation durch einen autoritären, weniger zurückhaltenden Präsidenten ist wohl gross.»
Dieser Gefahr ist sich Pierre Martin durchaus bewusst, und es ist ihm wichtig, korrekt vorzu gehen, seine Meinung nie in den Vordergrund zu stellen, auch nicht während der geheimen Urteilsberatung am ovalen Tisch. Die Feststellung des Sachverhalts und die Beweiswürdigung, sagt Martin, fielen den Laienrichtern nicht schwer, die ja tagelang oder gar wochenlang den Prozessbeteiligten, den Zeugen und Experten zugehört und Notizen gemacht hatten.
Anspruchsvoller sei es hingegen, sie so weit zu instruieren, dass sie über die rechtliche Würdigung und über das Strafmass entscheiden könnten. Martin operiert vor allem mit vergleichbaren Fällen. Was ihm während der zwölf Jahre am Geschworenengericht aufgefallen ist: «Die Laien ringen sich nur schwer zu einem Schuldspruch durch. Ist dieser aber einmal gefällt, schlagen sie eher härtere Strafen vor als die Berufsrichter. Bei der Genugtuung hingegen sind sie wiederum knausriger.»
Vor Beginn des Prozesses klärt der Gerichtspräsident die neun Geschworenen jeweils über die Regeln auf, die inner- und ausserhalb des Saals gelten. Dazu gehört etwa, dass man verpflichtet ist, stets pünktlich zu erscheinen und den Saal nicht zu verlassen, auch nicht für einen Toilettengang. Solche Bedürfnisse müssen dem Präsidenten per Zettel mitgeteilt werden, damit er die Verhandlung kurz unterbrechen kann. Und die Laienrichter dürfen sich zwar an der Kaffeemaschine bedienen, aber keine Geburtstagskuchen wegessen, die von Obergerichts-Mitarbeitenden für die Arbeitskolleginnen und -kollegen hingestellt wurden. Ein Mittagessen en groupe während der Session ist erwünscht, jedoch nicht obligatorisch, und muss von jedem Geschworenen selbst bezahlt werden; mit dem Taggeld von 500 Franken.
Doch wird nun das Gericht per 1. Januar 2011 einfach sang- und klanglos zugemacht? «Nein», sagt Pierre Martin. Bis Ende dieses Jahres finden noch Prozesse statt, und wegen allfälliger Rückweisungen wird das Geschworenengericht vermutlich noch bis Mitte kommenden Jahres reduziert tätig sein. Diese Übergangsfrist nutzt der Präsident, um den 160. Geburtstag des Gerichts doch noch gebührend feiern zu können.
SP-Mitglied Pierre Martin wird übrigens auch nach Mitte 2011 nicht auf der Strasse stehen. Er beabsichtigt, der III. Strafkammer des Obergerichts beizutreten. «Als ich 1995 zum Oberrichter gewählt wurde», sagt der 60-Jährige, der in Zürich studiert, kurze Zeit in der Advokatur gearbeitet und eine Dissertation zum Bau- und Planungsrecht verfasst hatte, «hätte ich nie gedacht, dass ich mich dereinst als Strafrechtler pensionieren lassen werde. Und schon gar nicht, dass ich das Geschworenengericht zu Grabe tragen muss. Das Erstere bedaure ich nicht - das Ende des Geschworenengerichts hingegen sehr.»