Am 1. Januar 2007 trat das 2002 revidierte Sanktionenrecht, das 2006 nachgebessert worden war, in Kraft. Im Wissen um die sozialpolitische Bedeutung dieser überfälligen Strafrechtsreform beschloss der Bundesrat am 3. September 2008, die Revision wissenschaftlich zu evaluieren. Erste statistische Ergebnisse zu den Rückfällen im Jahre 2010 belegten die Effizienz der neuen Sanktionen. Eine umfassende, datengestützte Evaluation respektive Sanktionsfolgenabschätzung der Revisionen ist hingegen bisher ausgeblieben. Dieser Aufsatz versucht deshalb, eine erste statistikgestützte Beurteilung der Revision 2007 und einen Ausblick auf die zu erwartenden Veränderungen ab 2018 (siehe Unten) vorzunehmen.
Die 2007 in Kraft gesetzte, seit langem vorbereitete und später nachgebesserte Revision des Sanktionenrechts hatte zum Ziel, kurze Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten zurückzudrängen. Diese psychologisch schädliche, sozial stigmatisierende, teure und austauschbare Sanktionsform wurde bis 2006 in 94 Prozent der Fälle bei bedingten Freiheitsstrafen und in 84 Prozent bei unbedingten Freiheitsstrafen ausgesprochen.
Kaum war die Revision umgesetzt, wurde sie von einzelnen konservativen Staatsanwälten, mehrheitlich aus der französischen Schweiz, stark in Frage gestellt; obwohl seit gut hundert Jahren von Strafrechtlern und Vertretern des Strafvollzugs kritisiert, verteidigten diese Westschweizer Staatsanwälte die kurze Freiheitsstrafe, bestanden auf ihrer vermeintlichen Abschreckungswirkung und verlangten ihre Wiedereinführung mit dem Verweis auf ein allgemeines Unverständnis von Tätern und Opfern gegenüber der Geldstrafe; deren Meinung wurde von populistisch agierenden Medien unkritisch und massiv verbreitet und von Parlamentariern verstärkt.
Anfang 2009 gab die damalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf den Auftrag für eine Revision des eben erst in Kraft gesetzten Sanktionenrechts. Sie verlangte die Vorbereitung einer Botschaft zur Wiedereinführung der kurzen Freiheitsstrafe, unbedacht des erwähnten, kurz zuvor ergangenen Evaluationsentscheids des Bundesrats vom 3. September 2008. Die veranlasste wissenschaftliche Evaluation sollte innerhalb von fünf Jahren detaillierte Auskünfte über die Wirksamkeit des neuen Sanktionensystems geben. Nach weiterer Kritik des neuen Rechts in verschiedenen Gremien (Sondersession Nationalrat Juni 2009; Begleitgruppe zur Revision des Bundesamtes für Justiz 2008–2010) wurde eine Rückkehr ins alte System vorbereitet.
Zur Freude aufgeschlossener Kräfte konnte jedoch diese Kehrtwende in der Kommissionsarbeit und in der parlamentarischen Debatte weitgehend abgewendet werden. Insbesondere konnte die Priorisierung der Geldstrafe im Sanktionensystem bewahrt werden. Mit der Verhinderung der Rückkehr ins alte System der Freiheitsstrafe kann das erste Ziel des Bundesrats, die Modernisierung des Sanktionenrechts aus dem Jahre 1998, für die weitere Zukunft gesichert werden. Das Fehlen neuerer wissenschaftlicher Evaluationen und der Mangel an evidenzbasierten Gesamteinschätzungen machen es vor dem Wechsel 2018 dringend nötig, mittels der gegenwärtig zugänglichen Daten des Bundesamtes für Statistik eine erste Einschätzung der Sanktionspraxis seit der Revision anzubieten und in einzelnen Fällen einen Blick auf die Bedeutung der verabschiedeten Änderungen zu werfen.
Zuerst wird die Sanktionspraxis für die Zeit 1997 bis 20171 analysiert. Genauer untersucht werden Umfang, Struktur und Entwicklung der ausgesprochenen Sanktionen, dann speziell die geografische und straftatenbedingte Verteilung der Anordnung von Freiheitsstrafen und die kantonal massiv unterschiedliche Häufigkeit der Anwendung von kurzen Freiheitsstrafen (französische Schweiz versus Rest der Schweiz). Ein kurzer Exkurs ist der angerechneten Untersuchungshaft im Verhältnis zur Aussprache von Freiheitsstrafen gewidmet, die ebenfalls erstaunliche Häufigkeiten zeigt. Die Analyse der Revision wäre nicht vollständig, ohne einen Blick auf die Veränderungen von Massnahmenaussprache und -vollzug zu werfen. Schliesslich wird der Effizienz der Geldstrafe und der Freiheitsstrafe (Rückfallquoten) eine eigene Betrachtung gewidmet. Ein kurzer Abschnitt geht auf die Entwicklung des Vollzugs von Freiheitsstrafen ein.
Die Schlussfolgerungen formulieren Empfehlungen für die Veröffentlichung von zusätzlichen Daten und für ein Monitoring der Sanktionspraxis im föderalistischen Staat.
1. Sanktionspraxis 1997 bis 2017
1.1 Parteiproporz und Strafbefehlsverfahren
Wer die Sanktionspraxis in der Schweiz beurteilt, muss vorgängig zwei Bedingungen für die Aussprache von Sanktionen berücksichtigen: erstens der für die Schweiz typische «politische Charakter der Bestellung von Richterinnen und Richtern». 2
Die Tatsache, dass die Richter in der Schweiz von den Parlamenten nach Parteienproporz gewählt und regelmässig bestätigt werden und dass auch die Präsidien der Einzelgerichte respektive die Zusammensetzung der Kammern nach dem Prinzip des Parteienproporzes bestimmt werden, bedeutet, dass davon ausgegangen werden kann, dass die Entscheide in der Sanktionspraxis breit abgestützt sind. Daraus lässt sich folgern, dass exemplarische oder populistisch beeinflusste Urteile vermulich eher selten gefällt werden oder mindestens in einer zweiten Kammer oder dann endgültig vom Bundesgericht gekippt werden. Es genügt, in dieser Beziehung die Aussprache der lebenslänglichen Verwahrung in Betracht zu ziehen.
Zweitens hat die Einführung des Strafbefehls gemäss der schweizerischen Strafprozessordnung ab 2011 dazu geführt, dass nahezu die gesamte Praxis der Sanktionsaussprache an die Staatsanwaltschaften übertragen wurde. Sie wurde auch grundlegend verändert, weshalb eher von einer «Sanktionenproduktion» gesprochen werden müsste. Entstanden ist eine informatikgestützte, industrielle Strafbefehlsjustiz, wurden doch 91 Prozent sämtlicher 109 112 Verurteilungen per Strafbefehl erledigt. Bei der Beurteilung der Entwicklung der Sanktionshäufigkeit müssen diese Bedingungen mitgedacht werden, sind sie doch Ausdruck einer Rationalisierung der Sanktionspraxis auf der unteren Ebene einerseits und einer konsensualen richterlichen Beurteilung schwerer Straftaten andererseits.
In den folgenden Betrachtungen wird jeweils das Wichtigste zur Wirkung der Sanktionenreform 2007 dargestellt. Zudem werden die möglichen Wirkungen der kommenden Änderungen des Sanktionenrechts ab 1. Januar 2018 angesprochen.3
1.2 Von der Busse zur Geldstrafe
Ziel der Revision des Sanktionenrechts war es, die alles dominierende kurze, bedingte und unbedingte Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten – allenfalls bis zu einem Jahr – zu reduzieren. Der Anteil der Freiheitsstrafen im Jahre 2006 betrug 62 Prozent und derjenige der Bussen 38 Prozent; die Freiheitsstrafen verteilten sich zu 75 Prozent auf bedingte und zu 25 Prozent auf unbedingte. Bei den bedingten Freiheitsstrafen machten die kurzen 94 Prozent aus, bei den unbedingten waren es 79 Prozent.
Dass in der Schweiz vor allem Bagatelldelinquenz abgeurteilt wird, zeigt sich daran, dass in 82 Prozent der Fälle eine bedingte Geldstrafe ausgesprochen wurde, in 17 Prozent eine unbedingte und in einem Prozent eine teilbedingte.
Die eben angeführten Ergebnisse zeigen, dass die neuen Strafen zu einer tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderung in der Sanktionsaussprache geführt haben. Ab dem ersten Jahr ihrer Einführung wurde in knapp 85 Prozent der Verurteilungen eine Geldstrafe ausgefällt. Dieser Wert ist seither stabil geblieben. Der Anteil der ebenfalls neuen gemeinnützigen Arbeit lag in den ersten Jahren bei 4 Prozent bis 5 Prozent, fiel aber in den Folgejahren auf 2 Prozent ab. Lag der mediane Bussenbetrag bis 2006 bei 700 Franken, stieg die Höhe der Geldstrafen nach der Revision um rund 200 bis 300 Franken an, wobei eine höhere Anzahl bedingter Geldstrafen als zuvor bei bedingter Freiheitsstrafe in Verbindung mit einer Busse ausgesprochen wurde. Das Bundesamt für Statistik sprach 2009 von einer Verschärfung der Sanktionspraxis bei einer symbolisch sanfteren Bestrafung.4
Die Revision 2018 bewahrt die Vorrangstellung der Geldstrafe von 3 bis 180 Tagessätzen in bedingter und unbedingter Form. Was die vorgesehene Abschaffung der bedingten Geldstrafe von 180 bis 360 Tagessätzen anbelangt, so betrifft sie jährlich 0,5 Prozent aller mit einer Geldstrafe sanktionierten Personen oder im zehnjährigen Durchschnitt jährlich 333 Personen.
Aufgehoben wird zudem die teilbedingte Geldstrafe, die im zehnjährigen Durchschnitt 1150 Personen betraf. Diese Sanktionierten, die sicherlich alle sozialen und strafrechtlichen Garantien für das Ausfällen einer Geldstrafe mitbrachten, werden ab 2018 notwendigerweise mit einer bedingten Freiheitsstrafe bestraft werden – ein Pyrrhussieg der Revisionisten, denn genau dieser Kategorie von Bürgern konnte eine vom Charakter her strengere Freiheitsstrafe, meist in der bedingten Form ausgesprochen, erspart bleiben, da sie sich weder aus Abschreckungs- noch Vergeltungsgründen aufdrängte.
1.3 Das lange Leben der kurzen Freiheitsstrafe
Es kann nicht genug daran erinnert werden, dass in der Schweiz bis 2006 absolute Bagatelldelinquenz mit bedingten Freiheitsstrafen geahndet wurde. Die Hälfte dieser Strafen hatte eine Dauer von 20 Tagen und weniger (Medianwert 20 Tage).
Auch bei den unbedingten Freiheitsstrafen herrschten die kurzen vor: In 30 Prozent waren sie kürzer als einen Monat, in weiteren 54 Prozent dauerten sie zwischen einem und sechs Monaten. Der Medianwert lag hier mit 40 Tagen doppelt so hoch wie bei den bedingten Strafen, allerdings kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier letztlich immer noch um Bagatellfälle handelte – anderenfalls müsste man den urteilenden Behörden Fahrlässigkeit in der Urteilsausfällung nachsagen.
Es ist festzuhalten, dass seit 1984 jährlich jeweils etwas mehr als 10 000 unbedingte Freiheitsstrafen verhängt wurden, deren Anzahl zum Jahr der Annahme der StGB-Revision hin allerdings auf 14 000 Fälle anstieg – wie wenn es den Strafverfolgungsbehörden nach den Parlamentsarbeiten darum gegangen wäre, den etwas verspäteten Beweis zu erbringen, dass die kurze Freiheitsstrafe weiterhin nötig sei. Dabei kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die urteilenden Behörden wussten, dass von den 14 000 unbedingten Freiheitsstrafen mehr als 5000 als gemeinnützige Arbeit oder unter elektronischer Überwachung vollzogen wurden.
Umso erstaunlicher war denn auch die nachträgliche, ab Mitte 2007 lancierte Kampagne gegen die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe. Trotz dieses lauten Widerstands konservativer Staatsanwälte veränderte die Revision des Sanktionenrechts auch den Bereich der unbedingten Freiheitsstrafe unmittelbar und massiv. Die Zahl der unbedingten Freiheitsstrafen ging 2007 um 60 Prozent zurück. In der Folge stiegen die Fallzahlen bis 2013 allerdings wieder an – stark beschränkt auf die französische Schweiz und, wie noch zu zeigen sein wird, hier wiederum auf die Kantone Genf und Waadt –, um gesamtschweizerisch in den letzten drei Jahren wiederum abzufallen.
Wurden zwischen 1997 und 2006 im jährlichen Durchschnitt 9200 kurze Freiheitsstrafen ausgesprochen, so waren es zwischen 2007 und 2017 jeweils 6000 Fälle. Diese effektive Verdrängung der kurzen Freiheitsstrafe hatte positive Auswirkungen auf die Rückfallraten, wie weiter unten dargestellt wird.5
Allerdings sind rund die Hälfte aller zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilten Personen Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz. Sie sollen nach der Revision, wie bereits im jetzigen Recht, grossmehrheitlich zu einer kurzen unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt werden, da davon ausgegangen wird, dass «eine Geldstrafe voraussichtlich nicht vollzogen werden kann» (nArt. 41 StGB). Die zurückhaltende Wiedereinführung der kurzen Freiheitsstrafe von drei Tagen bis sechs Monaten dürfte wegen den extrem stabilen Verhältnissen in Straftatenstruktur, Verurteiltengruppen und Sanktionsaussprache kaum zu Veränderungen in der Sanktionshäufigkeit führen.
1.4 Rückgang der langen Strafen
Die Revision des Sanktionenrechts führte 2007 als neuen Sanktionsmodus die teilbedingte Freiheitsstrafe für mittellange Strafen von ein bis drei Jahren ein, der von Beginn an positive Aufnahme fand. So wurden gleich im Jahr 2007 nahezu die Hälfte der ein- bis dreijährigen Strafen teilbedingt ausgesprochen; seit 2013 sind es sogar mehr teilbedingte als unbedingte, wobei die Gesamtzahl wie die gewichtete Anzahl einen leicht steigenden Trend aufwies.
Die mediane Strafdauer weist den konstanten Wert von zweieinhalb Jahren (genauer: 912 Tage) auf. Das bedeutet, dass diese Sanktionsform am häufigsten in den oberen Zeitsegmenten angewandt wird. Allerdings geht aus den verfügbaren Daten nicht hervor, welches der effektiv zu vollziehende Teil ist. Ausgehend von der wohl realistischen Annahme, dass der Verurteilte «zur Vergeltung» wie «zur Resozialisierung» nur die Hälfte der Strafe oder weniger abzusitzen hat, zeigt sich hier ein Trend zu zurückhaltenderer Anwendung der mittellangen Freiheitsstrafe.
Die steigenden Zahlen bei der teilbedingten Freiheitsstrafe bedeuten damit einen Rückgang von effektiv zu vollziehender Strafzeit. Da diese Strafe vermutlich den wenig rückfallgefährdeten Tätern zugestanden wird, kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit derjenigen, die eine mittelschwere Straftat begangen haben, gute Voraussetzungen für ihre Wiedereingliederung mitbringen.
Die Strafen von ein bis drei Jahren, von drei bis fünf Jahren und von über fünf Jahren zeigen positiv einzuschätzende Entwicklungen. Seit dem Höhepunkt mit 2200 Verurteilungen in diesen drei Dauerkategorien im Jahre 1993 sind die Zahlen kontinuierlich zurückgegangen und liegen heute bei 1200 Fällen.
Alle drei Segmente zeigen entweder einen deutlichen Abwärtstrend oder hohe Stabilität; zieht man den Anstieg der Bevölkerung in Betracht, so sind die Verurteilungen wegen schweren Fällen von 26 pro 100 000 Personen der Wohnbevölkerung in den 1980er-Jahren auf durchschnittlich 16 pro 100 000 in den Jahren seit 2007 gefallen. Da die Revision diesen Bereich allerdings nur sehr indirekt betraf, werde ich nicht weiter auf diese Fälle eingehen.6
1.5 Verteilung der Freiheitsstrafen nach Gesetzen
Bis 2006 wiesen 85 Prozent der Freiheitsstrafen eine Dauer von weniger als sechs Monaten auf; seit 2007 sind es, bei gesunkenen Fallzahlen, 75 Prozent.
Betrachtet man nun die Verteilung der Fallzahlen nach den Gesetzen, so fällt auf, dass ein Anstieg nur gerade in einem Bereich stattfand: beim Ausländergesetz. Bei den Verurteilungen nach Strafgesetzbuch und noch mehr bei den SVG-Verurteilungen sind die Zahlen dagegen stark rückläufig, so zum Beispiel bei Diebstahldelikten, wo bis zum Jahr 2006 in 98 Prozent der Fälle eine Freiheitsstrafe ausgefällt wurde, während dies heute «nur» noch in 58 Prozent der Fall ist. Bei den Verurteilungen nach Betäubungsmittelgesetz sind die absoluten Zahlen stabil.
Bei den Verurteilungen nach dem AuG fand eine Verfünffachung statt. Dieser Anstieg zeigt nichts anderes, als dass Ausländerinnen und Ausländer in raueren Zeiten mit einer stärkeren strafrechtlichen Verfolgung zu rechnen haben.
1.6 Westschweiz: Hohes Vertrauen in Freiheitsstrafen
Obwohl die Kritik an der Effizienz der kurzen Freiheitsstrafe seit 100 Jahren geführt wird,7 obwohl in zahlreichen Studien die Austauschbarkeit von Sanktionen im unteren Sanktionsbereich immer wieder belegt wird,8 zeigt die Verteilung der Sanktionen nach Kantonen, dass die französische Schweiz der Wirksamheit der kurzen Freiheitsstrafe weiterhin das höchste Vertrauen entgegenbringt. Diese Kantone umfassten über die letzten zwanzig Jahre rund 25 Prozent der Wohnbevölkerung. Ihr Anteil an den ausgesprochenen Freiheitsstrafen lag allerdings bereits 1997 bei 32 Prozent. Anschliessend stieg er konsequent an; seit bald vier Jahren liegt er bei rund 54 Prozent. Drei Kantone schwingen dabei obenaus: die Waadt, der Kanton Genf und Neuenburg. Die Sanktionspraxis der ersten beiden steht, wie gleich gezeigt werden soll, in einem paradoxen Verhältnis zur angerechneten Untersuchungshaft.
1.7 Untersuchungshaft und kurze Freiheitsstrafe
Das Bundesamt für Statistik (BFS) publiziert keine Angaben zur Anordnung von Untersuchungshaft. Deshalb muss hier von der im Urteil angerechneten Untersuchungshaft ausgegangen werden, die im Zusammenhang mit der anschliessend ausgesprochenen Freiheitsstrafe zu sehen ist. «Die beschuldigte Person bleibt in Freiheit», so der Grundsatz in Art. 212 StPO. Abs. 3 präzisiert: «Untersuchungs- und Sicherheitshaft dürfen nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe.»
Zwischen 1997 und 2013 stieg die Anzahl der Fälle mit angerechneter Untersuchungshaft von 10 000 auf 22 000 an, um anschliessend wieder auf 20 000 zu sinken. Gleichzeitig nahm der Anteil der bis zweitägigen U-Haft als Folge der Einführung der neuen schweizerischen Strafprozessordnung von rund 30 Prozent auf 75 Prozent zu. Auch hier muss davon ausgegangen werden, dass der grösste Teil der angehaltenen Personen absolute Bagatelldelikte begangen haben, ansonsten den Strafverfolgungsbehörden «Kuscheljustiz» vorgeworfen werden müsste. Nachdem sich die Strafverfolger aber dermassen für die Freiheitsstrafe einsetzen, kann dieser Vorwurf jedoch nicht zutreffen. Während die U-Haft bei Schweizern um rund 25 Prozent zurückging, blieb die Häufigkeit von U-Haft bei Ausländern mit Wohnsitz in der Schweiz nahezu stabil. Dagegen stieg die U-Haft bei Ausländern ohne Schweizer Wohnsitz von 6000 auf 12 000 Fälle an.
Problematisch ist, dass fast die Hälfte derjenigen, welche die dramatische Erfahrung einer U-Haft machen mussten, anschliessend nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurden. Diese Problematik bedarf einer kritischen Evaluation durch Anwälte, die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) oder durch eine andere unabhängige Institution.
Hinweisen möchte ich an dieser Stelle auf einen Sonderfall. Er illustriert, dass Sanktionspolitik Ausdruck von Kriminalpolitik ist: Während der Kanton Genf seit Jahren eine Abschreckungspolitik mit Hilfe der Untersuchungshaft führt, wird im Kanton Waadt vor allem mit der Sanktionspolitik versucht, abschreckend zu wirken. Dies zeigt sich deutlich bei der überproportionalen Anwendung der U-Haft (5663 Fälle) im Kanton Genf. Dort wird ein Viertel aller angerechneten U-Haften der Schweiz angeordnet, obwohl der Bevölkerungsanteil von Genf nur bei 5 Prozent liegt. Derweil weist der Kanton Waadt «nur» gerade 1373 angerechnete U-Haften aus, obwohl sein Bevölkerungsanteil 10 Prozent ausmacht.
Hinzu kommt: In Genf wird die Mehrheit der in U-Haft gesetzten Personen mit einer nicht freiheitsentziehenden Strafe sanktioniert. Im Kanton Waadt ist es gerade umgekehrt. Dort werden mehr als doppelt so viele Menschen mit einer unbedingten Freiheitsstrafe sanktioniert, wie vorgängig in U-Haft sassen.
Beide Formen repressiver Kriminalpolitik stehen meiner Meinung nach im Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der schweizerischen Strafprozessordnung und des Strafgesetzbuchs. Ein umfassenderer Vergleich – etwa des Kantons Genf mit Kantonen wie St. Gallen oder dem Tessin oder des Kantons Waadt mit Bern oder dem Aargau – würde belegen, dass Kriminalpolitik je nach Kanton höchst unterschiedlich definiert wird und weniger von den tatsächlichen Verhältnissen und Kriminalitätsraten als von der Haltung der Behörden abhängt.
2. Massnahmen
Die Revision des Sanktionenrechts zielte auf eine – problematische – Verschärfung der Massnahmen ab. Während es im alten Recht keine Dauerbestimmungen für die Durchführung der stationären therapeutischen Massnahmen gab, führt die Revision dazu, dass die mit dieser Massnahme verbundene Freiheitsstrafe wohl höchstens fünf Jahre betragen soll, dass sie aber um jeweils weitere fünf Jahre verlängert werden kann, wenn eine negative Prognose für eine Entlassung gestellt wird. Andererseits wurden die Hürden für die Entlassung aus einer stationären Massnahme, insbesondere aus der Verwahrung, angehoben. Letztere wurden dann durch die Annahme der Volksinitiative für eine echt «lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» 2004 nochmals verschärft.
In der Praxis führte die Revision zum Verschwinden der Verwahrung als Sanktion. Neu wurden jährlich nahezu 100, in einzelnen Jahren über 100 stationäre therapeutische Massnahmen ausgesprochen, obwohl Experten darauf aufmerksam machten, dass gar nicht so viele Vollzugsplätze vorhanden waren. In kürzester Zeit stieg der Bestand von rund 500 Insassen in stationärer therapeutischer Massnahme auf über 800 an, während nur gerade 450 Plätze für die Durchführung von stationären Massnahmen zur Verfügung standen. Zudem mussten weitere Personen in Institutionen platziert werden, die von der Statistik des BFS gar nicht erfasst werden.9
Die Verlängerung der initialen Dauer der Platzierung macht sich insofern bemerkbar, als die durchschnittliche Dauer des Aufenthaltes im Massnahmenvollzug von 700 Tagen auf 1627 Tage anstieg, das heisst von knapp zwei Jahren auf über vier Jahre.
Erfreulich ist, dass sich die Zahl der Entlassungen und die Neueintritte in den letzten Jahren die Waage halten. Damit allerdings die übersetzte Nachfrage nach Vollzugsplätzen abgebaut werden kann, müsste eine grössere Anzahl von Personen entlassen und anderweitig betreut werden. Ansonsten führt der Weg in die Sackgasse, müssen doch Personen, denen in vertretbarer Zeit kein Therapieplatz angeboten werden kann, gemäss Bundesgerichtsentscheid entlassen werden.
Die aktuelle Situation im Massnahmenrecht birgt die Gefahr, dass sich ein problematisches Präventivstrafrecht entwickelt. Die heutige Kritik verschiedener Instanzen an der übermässigen Verhängung von Massnahmen, die gar nicht vollzogen werden können, zeugt davon, dass das Handeln der Justiz vereinzelt – wenn auch noch zaghaft – beobachtet wird und in rationale Bahnen gelenkt werden soll.
3. Fazit der Revision
Mit der Einführung der Geldstrafe, insbesondere in ihrer bedingten Form, hat die Schweiz nicht nur das Sanktionensystem, sondern – gemessen an den ausgesprochenen Sanktionen – auch die Sanktionspraxis mit Erfolg modernisiert, war doch die Abkehr von der kurzen Freiheitsstrafe – insbesondere der bedingten – bereits im ersten Jahr der neu in Kraft gesetzten Sanktionsformen massiv.
Der kurzzeitige Anstieg der verhängten kurzen Freiheitsstrafe in den letzten Jahren beschränkt sich bisher auf die französische Schweiz, wo sich konservative Vorstellungen von Sanktionseffizienz und repressiver Kriminalpolitik länger halten.
Die massenhafte Anwendung der Geldstrafe kann in dreifacher Weise interpretiert werden: Zuerst steht sie in einem kohärenten Proportionalitätszusammenhang mit der Mehrheit der in der Schweiz abgeurteilten Straftaten, also der häufigen Bagatelldelinquenz;10 dann entspricht sie dem heutigen Stand einer monetär geprägten Gesellschaftsentwicklung und eines zunehmend zivilisierteren Umgangs mit Straftätern und drittens steht sie in einem positiven Verhältnis zum Erfolg, gemessen an der Rückfallrate, wie gleich zu zeigen sein wird. Dies bedeutet nicht, dass keine Kritik geäussert werden müsste. Dabei stechen vier Hauptpunkte heraus: Die Zahl kurzer Freiheitsstrafen ist weiterhin unnötig hoch. Die Verweigerung neuerer Sanktions- und Vollzugsformen für Ausländer, insbesondere diejenigen ohne Wohnsitz, ist unangebracht. Die Anordnung von Untersuchungshaft und Abdeckung der U-Haft mit Freiheitsstrafe ist unangemessen. Und schliesslich ist auch die Anordnung von Massnahmen unverhältnismässig.
4. Wirkungen der Geldstrafe
Wer den Evaluationsbericht zur Revision 2002/2006 von 201211 liest, stellt fest, wie stark falsche und uninformierte Vorstellungen über Rückfallquoten und -gründe die Stellungnahmen beeinflussten. Damals ging rund die Hälfte der Befragten davon aus, dass die Rückfallquoten nach einer Einführung der Geldstrafe in die Höhe schnellen. Heute ist klar: Diese Folgen traten nicht ein. Im Gegenteil, dank der bedingten Geldstrafe sind weniger Täter rückfällig geworden.
Bei weitgehend stabiler Struktur verurteilter Personen und abgeurteilter Straftaten nahm die Rückfallrate in der Zeit des Anstiegs der Freiheitsstrafen (2003 – 2006) zu. Seit Einführung von Geldstrafe und gemeinnütziger Arbeit aber sinken die Rückfallraten Jahr für Jahr, und zwar für alle Rückfallkategorien: nach Vorverurteilungen, nach Typ des Rückfalldeliktes und nach Schweregrad des Rückfalldeliktes.
Noch bedeutungsvoller: Unter dem neuen Regime sind auch bei Personen, die aus dem Vollzug entlassen werden, die Wiederverurteilungs- und die Wiedereinweisungsquote gesunken. Die Wiederverurteilungsquote ging bei den Entlassenen leicht von 51 Prozent im Jahre 1988 auf 45 Prozent in den letzten Jahren zurück. Die Wiedereinweisungsquote sank derweil markant von nahezu 40 Prozent im Jahre 1988 auf 15 Prozent.
Bereits im 19. Jahrhundert zeigte sich, dass die Rückfallrate nach Einführung der bedingten Entlassung sank. Nach Einführung der bedingten Freiheitsstrafe ging sie nochmals zurück. Der aktuelle Rückgang der Rückfallrate folgt insofern der Logik der weiteren Zurückdrängung der unbedingten Freiheitsstrafe. Dass diese Entwicklung nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick auf die USA. Dort liegen die Rückfallraten bei 60 Prozent,12 also gleich hoch wie zu Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz, als noch 80 Prozent der Verurteilten mit einer unbedingten Freiheitsstrafe, 1 Prozent mit einer bedingten und 19 Prozent mit Bussen bestraft wurden.13
5. Veränderungen in der Vollzugspraxis
In seiner Botschaft ging der Bundesrat davon aus, dass sich mit der Zurückdrängung kurzer Freiheitsstrafen Gefängnisplätze einsparen lassen. Damals berücksichtigte man jedoch – trotz eines bereits gestiegenen Druckes auf Justiz, Vollzug und Politik – zu wenig, dass die revidierten Bestimmungen der therapeutischen stationären Massnahmen zu einem Anstieg der Zahl an Insassen führen könnte und damit die positiven Wirkungen des reduzierten Gebrauchs der Freiheitsstrafe zunichte machen würden. Für einen vollständigen Überblick muss hier der Berichtszeitpunkt etwas vorgezogen werden, nämlich auf 1984.
In den 1980er- und 1990er-Jahren dominierten die extrem kurzen Freiheitsstrafen die Zahl der Einweisungen. Das ist mittlerweile anders. Um 1990 wurde bei 10 000 Einweisungen ein Bestand von 3500 Insassen gezählt. Dadurch, dass die sehr kurzen Strafen ab Mitte der 1990er-Jahre in Form der gemeinnützigen Arbeit vollzogen werden, gehen die Fallzahlen seither stark zurück und stabilisieren sich ab 2008 bei rund 4250 Einweisungen. Das lässt vermuten, dass in letzter Zeit viele kurze, unbedingte Freiheitsstrafen bereits verbüsste Untersuchungshaft abdecken. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass rund 800 Einweisungen für teilweise bedingte Strafen stattfinden, die zwar als mittellang erfasst werden, im Vollzug aber entlastend auf den Bestand an Insassen wirken.
Dabei ist, der Revisionslogik entsprechend, die effektive Vollzugsdauer um das Doppelte gestiegen. Das geht nicht auf eine Verlängerung der Strafdauer zurück, sondern auf die Tatsache, dass nur noch Personen mit längeren Strafen eingewiesen werden. Zu beobachten ist weiter eine sich öffnende Schere zwischen der Gesamtzahl von Personen im Vollzug und der Zahl an Personen, die eine Freiheitsstrafe absitzen. Es kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier vor allem um Ersatzfreiheitsstrafen für nicht bezahlte Geldstrafen handelt, deren Zahl sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt hat, sowie um Bussenabverdiener, die laut BFS um ein Vielfaches zugenommen haben. Es ist anzunehmen, dass hier die Grenzen fliessend sind und Verbüsser von Ersatzfreiheitsstrafen als Bussenabverdiener verzeichnet werden und umgekehrt.
Schliesslich ist beim Gesamtbestand im Vollzug auch der Bestand von Personen im Massnahmenvollzug mitgezählt, der, wie gleich zu beschreiben sein wird, gerade in den Einrichtungen des Freiheitsentzugs stark zugenommen hat. Es ist zu betonen, dass die kürzlich gestiegene Tendenz der Verhängung von kurzen Freiheitsstrafen nur kurzfristig zu zusätzlichen Einweisungen führte und in den letzten zwei Jahren zurückging, was sich auch im Bestand bemerkbar machte. Neben den 3000 Personen, die für den Vollzug einer Freiheitsstrafe einsitzen, muss mit einem Bestand von 600 Personen im Massnahmenvollzug gerechnet werden. Hinzu kommen 400 Personen, bei denen Ersatzfreiheitsstrafen vollzogen werden oder die Bussen abverdienen, was einen Gesamtbestand von 4000 Personen im Vollzug ergibt.
Aus diesen Zahlen wird ersichtlich, dass nicht nur weniger Freiheitsstrafen ausgesprochen wurden, sondern auch – mit Schwankungen – die Zahl der Einweisungen zurückging. Während der Bestand im Bereich des Vollzugs von Freiheitsstrafen über die letzten zwanzig Jahre grundsätzlich stabil geblieben ist, macht sich die Praxis bei der Verhängung von Massnahmen und vor allem bei deren Durchführung im Anstieg des Bestands an Insassen bemerkbar; aus den Zahlen nicht gänzlich zu ergründen ist die Frage, ob die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen und das Bussenabverdienen tatsächlich zugenommen haben gegenüber der Praxis der Widerrufe von bedingten Freiheitsstrafen in der Zeit vor der Revision.14 Was den Vollzug des unbedingten Teils von teilbedingten Freiheitsstrafen anbelangt, so kann leider zurzeit mangels Daten nichts ausgesagt werden – es wäre zu wünschen, dass dazu detailliertere Angaben publiziert würden.
Allerdings muss hier nochmals in Erinnerung gerufen werden, dass von den 9460 aus dem Vollzug entlassenen Personen nur gerade 2183 eine Strafe von mehr als sechs Monaten abgesessen hatten. 7278 wurden nach der Verbüssung einer Freiheitsstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe oder einer Bussenumwandlung von sechs Monaten und weniger bereits wieder entlassen, 4037 sogar nach einem Monat und weniger – ein teurer Vollzug von Strafen für letztlich kleine Verschulden.
5. Schlussfolgerungen
Die vom Bundesrat Anfang der 1980er-Jahre eingeleitete Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches hatte zum Ziel, das Sanktionenrecht zu modernisieren, die Zahl unnötiger kurzer Freiheitsstrafen zu senken und das Massnahmenrecht zu verschärfen. Die am 1. Januar 2007 in Kraft gesetzte Revision setzte diese Ziele in hohem Masse um. Die bedingten Freiheitsstrafen nahmen stark ab. Bei den Unbedingten fiel der Rückgang etwas weniger ausgeprägt aus, zudem war nach fünf Jahren wieder ein leichter Anstieg zu beobachten.
Während sich die Geldstrafe durchsetzte, insbesondere in der bedingten Form, wurde die gemeinnützige Arbeit kaum mehr genutzt. Dagegen schoss die Reform des Massnahmenrechts über das Ziel hinaus, insofern die Bedingungen der Anordnung stationärer therapeutischer Massnahmen tief angesetzt wurden und ein Trend zur Psychiatrisierung von Straftätern bereits vor der Revision des StGB einsetzte. Es sind heute mehr Personen in eine Massnahme eingewiesen als adäquate Plätze zur Verfügung stehen. Die Beobachtung zeigt zudem starke regionale Unterschiede in der Anwendung der Freiheitsstrafe, vor allem jener von kurzer Dauer, schwergewichtig in der Westschweiz bei Ausländern ohne Wohnsitz in der Schweiz.
Die neueste Revision des Sanktionenrechts, die am 1. Januar 2018 in Kraft gesetzt wird, hat minimale Änderungen gebracht, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Sanktionspraxis kaum Veränderungen erfahren wird. Die massiv angewandte bedingte Geldstrafe wird weiterhin in hohem Masse vorherrschen und damit ein Sanktionenregime fortgeführt, das nicht nur der heutigen, monetär dominierten Gesellschaft, sondern einem zunehmend zivilisierteren Umgang mit Straftätern entspricht.
Die angesprochenen Probleme übermässiger Anwendung kurzer Freiheitsstrafen, die allzu häufige Anordnung undurchführbarer Massnahmen, die unsinnige Anwendung von Untersuchungshaft und andere Fehlentwicklungen rufen nach einer Dauerbeobachtung der Sanktionspraxis in den Kantonen. Neben einer Sanktionsfolgenabschätzung, die bei Revisionsprojekten prospektiv anzulegen wäre, ginge es insbesondere um die retrospektive Untersuchung der Sanktionspraxis hinsichtlich ihrer Effizienz und Wirksamkeit sowie die Aufdeckung ungleicher, tendenziell diskriminierender Sanktionsanwendungen in einem Land, das davon ausgeht, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind.
Revisionen von 2007 bis 2018: Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück
Die Anfang der 1980er-Jahre eingeleitete, 2002 verabschiedete und 2007 in Kraft gesetzte Revision führte die Geldstrafe für leichtere und mittelschwere Vergehen ein. Gleichzeitig sollten Verschärfungen des Massnahmenrechts die Sicherheit der Gesellschaft stärken.
Die Revision weitete die Sanktions- und Vollzugsformen aus: von zwei respektive drei (Bussen und Freiheitsstrafe bedingt oder unbedingt) auf vier respektive zehn Formen (Geldstrafe, gemeinnützige Arbeit, Freiheitsstrafe, alle in bedingter, unbedingter und teilbedingter Form, neben der Busse für Übertretungen). Die wohl grösste Innovation bestand in der Einführung des Tagessatzsystems und der bedingten Geldstrafe. Die Geldstrafe beträgt höchstens 360 Tagessätze, gemeinnützige Arbeit höchstens 180 Tagessätze. Freiheitsstrafen konnten für 6 Monate bis 20 Jahre ausgesprochen werden.
Die «Revision der Revision» des Sanktionenrechts wurde 2010 vorbereitet. Es ging darum, weitgehend zum alten System der Freiheitsstrafe in bedingter und unbedingter Form zurückzukehren, wobei die unbedingte Geldstrafe bis 180 Tagessätze im Strafensystem blieb. Im April 2012 wurde die Botschaft zur erneuten Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs vom Bundesrat und im Juni 2015 die Änderungen des Sanktionenrechts von den eidgenössischen Räten verabschiedet. Dazwischen lagen historisch wichtige Verhandlungen zur Beibehaltung der Errungenschaften aus dem Sanktionenrecht von 2007. Die Änderungen treten am 1. Januar 2018 in Kraft.
Wie bisher behält die Geldstrafe den Vorrang vor der Freiheitsstrafe und ist weiterhin in bedingter Form zugelassen. Um den Täter von der Begehung weiterer Taten abzuhalten, sind neu aber auch kurze Freiheitsstrafen möglich. Diese können auch bedingt ausgesprochen werden. Sie müssen näher begründet werden. Die Geldstrafe beträgt neu maximal 180 Tagessätze. Die gemeinnützige Arbeit wird erneut in eine Vollzugsform von unbedingten Freiheitsstrafen umgewandelt. Zudem wird die Vollzugsform des Electronic Monitoring gesetzlich verankert, wobei sowohl unbedingte Freiheitsstrafen vollzogen werden können wie ein Teil einer längeren Strafe.
Strafrechtsreformen und Zivilisationsprozess
In der Schweiz wurden in regelmässigen Abständen Reformen des Strafgesetzes durchgeführt, die nicht anders als im Zusammenhang mit dem Postulat eines sich durchsetzenden Zivilisationsprozesses (Norbert Elias) gesehen werden können. Dazu drei Beispiele:
Das Peinliche Gesetzbuch der Helvetischen Republik, verabschiedet im Jahre 1799, schaffte die Körperstrafe ab. Bald darauf wurde sie allerdings – aufgrund von Kritik an der damaligen «Kuscheljustiz» – von verschiedenen Kantonen wieder eingeführt. Vom Bund bekämpft, wurde sie schliesslich im Rahmen der Revision der Bundesverfassung 1872 endgültig abgeschafft.
Die kaum mehr angewandte Todesstrafe versuchten fortschrittliche politische Kräfte in die Geschichte zu verbannen. In der Revision der Bundesverfassung von 1872 wurde die Todesstrafe denn auch abgeschafft. Als Antwort auf Petitionen zu ihrer Wiedereinführung wurde den Kantonen 1878 schliesslich erlaubt, die Todesstrafe tatsächlich wieder zuzulassen. Das taten in der Folge neun Kantone. 1937 wurde die aber kaum mehr genutzte Sanktionsform mit der Verabschiedung des schweizerischen Strafgesetzbuches beziehungsweise 1942 mit dessen Inkraftsetzung endgültig abgeschafft.
Die Freiheitsstrafe durchlebte seit ihrer Verallgemeinerung als Sanktionsform verschiedenste Definitionen und Formen. Als kurze Freiheitsstrafe bis sechs Monate respektive bis zu einem Jahr wurde sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts einer eingehenden Kritik unterzogen. Mit der Einführung des bedingten Vollzugs von Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten – dann bis zu einem Jahr und heute bis zu zwei Jahren – verlor die Freiheitsstrafe erstmals an Bedeutung. Durch die Einführung der Geldstrafe wurde sie im Jahr 2007 in noch umfangreicherem Ausmass ersetzt. Ausgehend vom Beispiel der Körperstrafe und der Todesstrafe ist anzunehmen, dass sich die geplante Rückkehr zur kurzen Freiheitsstrafe in der Praxis nicht durchsetzt. Es sieht alles danach aus, dass die institutionelle Anwendung von Gewalt im Strafrecht dem Zivilisationsprozess untergeordnet ist und sich die zivilisierteren Formen des Strafens trotz vorübergehenden Rückfällen in überholte Vorgehensweisen, durchsetzen werden.
Daniel Fink
Lehrbeauftragter für Kriminalstatistik und Kriminalpolitik an der Universität Luzern sowie für historische Kriminalstatistik und Kriminologie in Lausanne
Für eine detailliertere Auseinandersetzung mit dem Thema:
Daniel Fink, «Und das Volk hat immer recht», in: Marianne Heer et al. (Hrsg.), Toujours agité, jamais abattu, Festschrift für Hans Wiprächtiger, Basel 2011
Daniel Fink, La prison en Suisse. Un état des lieux, Presses polytechniques et universitaires romandes (PPUR), Lausanne 2017.
Die Daten zur Sanktionspraxis 2017 werden im späten Frühjahr 2018 veröffentlicht. Der Kohärenz dieses Beitrages wegen und der prospektiven Methode zuliebe berichtet dieser Beitrag jedoch über Entwicklungen bis 2017. Dabei wird davon ausgegangen, dass der 2013 einsetzende Trend des Rückgangs der Gesamtzahl der Strafurteile weiter anhält und die Anzahl der Veruteilungen leicht abnehmen wird. Ansonsten werden die Anteile als konstant angenommen. Im Sommer 2018 wird die Beurteilung möglich sein, ob sich meine Annahmen als richtig erwiesen haben.
Walter Kälin, «Justiz», in: Ulrich Klöti (Hrsg.), Handbuch der Schweizer Politik, Zürich 1999.
Ich verwende in dieser Darstellung jeweils das Datum der Inkraftsetzung der Revisionen, d.h. 2007 und 2018, als Bezugspunkte.
Siehe die Pressemitteilung «Verurteilungen von Erwachsenen und Jugendstrafurteile: Bedingte Geldstrafe mit Busse als häufigste Sanktion» des Bundesamtes für Statistik vom 30.10.2009, unter www.bfs.admin.ch/bfsstatic/dam/assets/31654/master abrufbar.
Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, ob die durchschnittliche Strafdauer im unteren Sanktionsbereich angestiegen ist, wie dies Martin Killias und André Kuhn immer wieder vorgebracht haben. Durch den massiven Rückgang der ganz kurzen Freiheitsstrafen stieg der Median logischerweise von 40 auf 90 Tage an, das Niveau,
auf dem er seit der Revision verharrt. Die These kann höchstwahrscheinlich verworfen werden. Der statistische Beweis kann mit dem bisher publizierten Datenmaterial des BFS allerdings nicht erbracht werden.
Wie bei kommunizierenden Gefässen könnte es sein, dass mittellange Strafen mit stationären therapeutischen Massnahmen verbunden werden, was unter den heutigen Bedingungen einen Anstieg der Vollzugsdauer zur Folge hätte. Aber dies ist eine komplexe, noch zu untersuchende Frage. Es ist bedauerlich, dass der kürzlich durchgeführten Studie der Universität Bern zu den stationären Behandlungen von psychisch gestörten Straftätern zuhanden der NKVF keine Auswertung der beim Bundesamt für Statistik vorhandenen Daten zugrunde gelegt wurde (siehe #prison-info 1/2017). Nur dies hätte erlaubt, zu zeigen, inwiefern eine Praxisänderung in Massnahmenaussprache wie im Massnahmenvollzug zu belegen ist.
Die Statuten der Internationalen kriminalistischen Gesellschaft, gegründet 1889, enthielten folgenden Artikel: «7) Die Vereinigung hält jedoch den Ersatz der kurzzeitigen Freiheitsstrafe durch andere Strafmittel von gleicher Wirksamkeit für möglich und wünschenswert», in: Urs Germann, Kampf dem Verbrechen, Zürich 2014, S. 65.
Siehe neben vielen anderen Beiträgen zur Schweiz: Renate Storz, Strafrechtliche Verurteilung und Rückfallraten, BFS, Bern 1997, und Steve Vaucher, Strassenverkehrsdelinquenz und Rückfall, BFS, Neuenburg 2000. Für eine Gesamtübersicht: Franz Streng, «Die Wirksamkeit strafrechtlicher Sanktionen – Zur Tragfähigkeit der Austauschbarkeitsthese», in: Friedrich Lösel / Doris Bender / Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, Mönchengladbach 2007.
Siehe die Erhebungen von Benjamin F. Brägger, «Massnahmenvollzug an psychisch kranken Straftätern in der Schweiz:
Eine kritische Auslegeordnung», in: SZK 2/2014, S. 36 ff.
Zu fragen wäre hier, ob in Zukunft nicht auf die Aburteilung dieser Bagatelldelinquenz weitgehend verzichtet werden könnte, wie dies in Deutschland der Fall ist.
Evaluation der Wirksamkeit des revidierten Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches – Schlussbericht vom 30. März 2012, erstellt im Auftrag des Bundesamtes für Justiz, unter www.bj.admin.ch/dam/data/bj/sicherheit/gesetzgebung/sanktionensystem/ber-bj-evaluation-at-stgb-d.pdf abrufbar.
Matthew R. Durose / Alexia D. Cooper / Howard N. Snyder, Recidivism of Prisoners Released in 30 States in 2005: Patterns from 2005 to 2010, Washington, Special Report, Bureau of Justice Statistics, April 2014, unter www.bjs.gov/content/pub/pdf/rprts05p0510.pdf abrufbar.
Siehe für eine Gesamtstudie dieses Statistikgebietes in der Schweiz: Daniel Fink / Steve Ducommun-Vaucher, «Statistical Recidivism Analyses in Switzerland», in: Hans-Jörg Albrecht / Jörg-Martin Jehle (Hrgs.), National Reconviction Statistics and Studies in Europe, Göttingen 2014.
Aus Erfahrungswerten weiss man, dass in den Zeiten der Freiheitsstrafe rund fünf bis acht Prozent der bedingten Freiheitsstrafen widerrufen wurden, was bei jährlichen durchschnittlich 39 000 dieser Strafen (2000–2006) rund 3000 Fälle ausmachte.