Michail Chodorkowski ist das bekannteste Opfer der russischen Justizwillkür. Der zweite Prozess gegen den einstigen Oligarchen wirft ein Licht auf ein altes Übel: Seit den Zaren stehen Ideologie und Beziehungen über dem Gesetz.
Rund drei Millionen Strafverfahren wegen Wirtschaftsdelikten werden in Russland jedes Jahr eröffnet. Zwei Drittel davon bleiben jedoch ungeklärt, nur in zehn Prozent der Fälle kommt es zu Gerichtsurteilen. Verhaftungen lassen sich bei den Rechtsschutzorganen gegen Bezahlung «bestellen». So werden missliebige Konkurrenten ausgeschaltet oder dazu «überredet», einen Teil ihres Unternehmens abzugeben.
Auch der Schweizer Fürsprecher Daniel Marti, der 1992 ursprünglich für Arthur Andersen nach Moskau kam, bestätigt: «Bevor es keine Toten gibt, wird die Staatsanwaltschaft nicht von sich aus aktiv. Man muss sie schon mit Geld motivieren.» Wer dabei in die Mühlen der russischen Strafjustiz gerät, hat kaum mehr Chancen auf ein gerechtes Urteil. Die Richter folgen mit militärischem Gehorsam praktisch immer der Anklage. Die Anzahl der Freisprüche liegt in Russland unter einem Prozent.
«Unternehmer nicht mehr länger traumatisieren»
Angesichts der wirtschaftlich schwierigen Zeiten hat der Kreml das Problem durchaus verstanden. Der neue Präsident Dmitri Medwedew warnte seine Beamten, die Unternehmer nicht länger «zu traumatisieren». Im April unterzeichnete er eine Gesetzesänderung, welche die Anordnung einer Untersuchungshaft nur noch in bestimmten Fällen zulässt. An Michail Chodorkowskis Schicksal wird dies jedoch nichts ändern. Es liegt in den Händen von Premierminister Wladimir Putin.
Dabei schien der Fall Chodorkowski vor fünf Jahren Geschichte zu sein. Der einst reichste Russe und sein ehemaliger Geschäftspartner Platon Lebedew wurden zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Ihr Erdölkonzern Jukos musste zuvor bereits seinen wichtigsten Förderbetrieb - Juganskneftegas - in einer Zwangsversteigerung verkaufen. Er ging an die staatliche Rosneft über, Jukos wurde später für bankrott erklärt.
Letzte Hoffnung Strassburg
Heute, ein halbes Jahrzehnt später, ist jedoch klar: Die Fälle Chodorkowski und Jukos sind keines wegs Geschichte. Die russische Staatsführung hat mit ihrem Vorgehen vielmehr Geister gerufen, die sie nun nicht mehr loswird. Ehe malige Jukos-Manager und -Aktionäre haben vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg und beim Ständigen Schiedshof in Den Haag Klagen gegen Russland eingereicht. Sie fordern jeweils Schadenersatz in der Höhe von rund 100 Milliarden Dollar. Auch Michail Chodorkowski und Lebedew s elbst reichten Beschwerden in Strassburg ein. Die Urteile stehen noch aus.
Gleichzeitig eröffnete die russische Staatsanwaltschaft gegen Chodorkowski und Lebedew bereits 2006 ein neues Ermittlungsverfahren. Seit März 2009 stehen die beiden in Moskau wieder vor Gericht. Lautete die Anklage im ersten Prozess auf Betrug und Steuerhinterziehung, wirft man den beiden nun Diebstahl und Geldwäscherei vor. Laut ihren Anwälten drohen den Angeklag -ten Gefängnisstrafen von bis zu 22 Jahren.
Wäre es bei dem ersten Verfahren geblieben, könnten Chodorkowski und Lebedew bereits wieder auf freiem Fuss sein. Sie haben die Hälfe ihrer achtjährigen Strafe abgesessen. Dies gibt ihnen bei guter Führung das Recht, um vorzeitige Haftentlassung zu ersuchen. Doch man stelle sich vor: Chodorkowski und sein Partner kämen frei, ohne ihre Schuld eingestanden zu haben. Gleichzeitig würden Strassburg und Den Haag das Vorgehen des russischen Staates im Fall Jukos verurteilen. Dies wäre für den Kreml und insbesondere für Premierminister Putin ein schwerer Gesichtsverlust - vor der internationalen Gemeinschaft, aber vermutlich auch vor dem eigenen Volk.
Zuerst der Kuhhandel, dann die Folter
Putin befindet sich in einer Zwickmühle, die ihn bisweilen zu fragwürdigen Rechtfertigungen nötigt. Bei einer Pressekonferenz in Paris verglich er Chodorkowski Ende November mit dem amerikanischen Mafia-Paten Al Capone. Wenige Tage später erinnerte der Premierminister im russischen Fernsehen an Alexej Pitschugin. Der frühere stellvertretende Sicherheitschef von Jukos soll mehrere Morde und Mordversuche organisiert haben. 2007 wurde er deshalb zu lebenslanger Haft verurteilt (mindestens 25 Jahre). «Es ist klar, dass er (Pitschugin) im Interesse und auf Anweisung seiner Arbeitgeber (Chodorkowski) gehandelt hat», behauptete Putin im vergangenen Dezember vor laufenden Kameras.
Beweise für Putins Vorwürfe gibt es jedoch nicht. Der Prozess gegen Pitschugin war äusserst zweifelhaft. Bei einigen Zeugen handelte es sich um bereits ver urteilte Straftäter, einer davon ein mehrfacher Mörder. Für eine Aussage gegen Pitschugin versprach man ihnen eine Hafterleichterung. Vor dem ersten Verhör spritzten die Ermittler Pitschugin zudem eine psychotrope Substanz. Danach verschlechterte sich seine Gesundheit, er verlor bis zu 30 Kilogramm Körpergewicht. Die Staatsanwälte hätten ihm wiederholt vorgeschlagen, gegen Chodorkowski und andere Jukos-Chefs auszusagen, erklärte Pitschugin. Im Gegenzug sei auch ihm Strafmilderung angeboten worden. Doch der ehemalige Geheimdienst-Offizier liess sich nicht darauf ein. Er sollte indessen bei weitem nicht der einzige ehemalige Jukos-Mitarbeiter bleiben, der in Untersuchungshaft physischen Misshandlungen ausgesetzt wurde.
Kreative Steuernbei 30 Prozent Inflation
Pitschugins Verhaftung erfolgte bereits im Juni 2003, also mehrere Monate vor Chodorkowskis Arrest. Womöglich wollte die Anklage Chodorkowski zunächst wegen der angeblichen Auftragsmorde vor Gericht stellen. Dies vermutet zumindest die Journalistin Vera Wassiljewa, die ein Buch über den Pitschugin-Prozess geschrieben hat. Weil Chodorkowskis stellvertretender Sicherheitschef sich aber zu keiner belastenden Aussage gegen seinen Arbeitgeber zwingen liess, konzentrierten sich die Staatsanwälte danach auf den Vorwurf der Steuerhinterziehung und andere Wirtschaftsdelikte.
In dieser Sache den Überblick zu behalten, ist kein Leichtes. «In den 1990er-Jahren war Russland eine Steuerhölle», sagt Fürsprecher Daniel Marti. Da waren zum einen die weitgehend aus der Sowjetzeit übernommenen Gesetze und zum anderen eine Inflation, die noch 1999 über 30 Prozent betrug. Die Unternehmen mussten ihre Steuern daher mit kreativen Mitteln «optimieren». Ansonsten hätten die Abgaben über 100 Prozent des Umsatzes betragen.
Wie andere russische Unternehmen wickelte auch Jukos sein Erdölgeschäft über Tochterfirmen ab, die in russischen Sonderwirtschaftszonen registriert waren. Diese Zonen lagen meist in depressiven Regionen. Mit Steuervorteilen wollte der Staat dort bewusst Investitionsanreize schaffen. Ein zweiter «Steuertrick» waren die sogenannten Transferpreise. Das Erdöl wird dabei von einer Tochterfirma in Russland an eine Tochterfirma im Ausland zu Preisen verkauft, die weit unter dem Weltmarktniveau liegen. 1999 setzten die russischen Erdölkonzerne über 90 Prozent ihrer Produktion zu Transferpreisen um.
Schleuderpreisfür Putins Freund
Bis zu Chodorkowskis Verhaftung im Oktober 2003 lagen jedoch keine Steuerbeschwerden gegen Jukos vor, dessen Bücher von Pricewaterhouse-Coopers geprüft wurden. Der mittlerweile grösste Erdölkonzern Russlands zahlte pro Jahr rund 5,3 Milliarden Dollar in die Staatskasse ein. Jukos war damit nach Gasprom der zweitgrösste Steuerzahler. Als Chodorkowski den einstigen Staatsbetrieb 1996 übernommen hatte, belief sich sein Schuldenberg auf 3 Milliarden Dollar, der Selbstkostenpreis für ein Barrel Öl lag bei 12 Dollar. Bis 2003 konnte Jukos diesen Wert auf 1,57 Dollar senken.
Im Dezember 2003 ordneten die Steuerbehörden eine Überprüfung der Jukos-Buchhaltung an. Am Ende stellten sie für die Jahre 2000 bis 2003 Nachforderungen von insgesamt 25 Milliarden Dollar. Die Versteuerung in den Sonderwirtschaftszonen wurde einzig im Falle Jukos für illegal erklärt, weil die dortigen Tochterfirmen ansonsten in der Region nicht wirtschaftlich tätig seien. Beim Grossteil der Forderungen handelte es sich allerdings um eine nachträglich verrechnete Mehrwertsteuer, die 2003 in ganz Russland 20 Prozent betrug. Die Erdöl-exporte waren in der relevanten Periode jedoch von der Mehrwertsteuer ausgeschlossen. Für Jukos galt diese Regelung nun aber plötzlich nicht mehr.
Chodorkowskis Unternehmen wäre jedoch trotzdem in der Lage gewesen, durch den Verkauf von Aktiva und bestehenden liquiden Mitteln die Steuerforderungen zu begleichen. Im April 2004 liess ein Gericht allerdings sämtliche Jukos-Konten einfrieren. Im Dezember desselben Jahres wurde Juganskneftegas zwangsversteigert. Der Betrieb förderte für Jukos 60 Prozent seiner Erdölproduktion.
Die einzige Bieterin war die zuvor völlig unbekannte Baikal Finance Group. Sie kaufte Juganskneftegas für lediglich 9,35 Milliarden Dollar. Die russische Steuerbehörde hatte das Unternehmen auf einen Wert von 18,5 Milliarden Dollar geschätzt. Wenige Tage später ging das Jukos-Juwel an den staatlichen Energiekonzern Rosneft über. Dessen Aufsichtsrat wird von Vizepremier Igor Setschin geführt, einem engen Freund von Wladimir Putin.
Als Wirtschaftsprozess geschminkte Polit-Intrige
Offensichtlich ging es dem Staat bei der Zwangsversteigerung nicht darum, fehlende Steuereinnahmen wettzumachen. Im Rückblick lässt sich der Fall Jukos deshalb relativ leicht erklären: Chodorkowski hatte eigene politische Vorstel-lungen und das notwendige Geld dazu, um etwas zu bewegen. Folglich entschloss sich Wladimir Putin, ihm die Geldmaschine Jukos zu entwenden und ein Exempel für die üb rigen Wirtschaftsführer zu statuieren.
Spätestens der nunmehr zweite Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew lässt keine Zweifel mehr an der politischen Motivation des Verfahrens zu. Die Anklage wirft den Jukos-Chefs vor, zwischen 1998 und 2003 sämtliches Erdöl der eigenen Jukos-Förderbetriebe gestohlen zu haben - 350 Millionen Tonnen. Die Diebessumme entspricht dabei der Differenz zwischen den Transferpreisen und den Weltmarktpreisen. Zum Beispiel verkaufte die Jukos-Tochter Tomskneft 2002 der Jukos-Tochter Ewoil das Erdöl für 1716 Rubel pro Tonne. Der Weltmarktpreis lag zu diesem Zeitpunkt allerdings bei 6130 Rubeln pro Tonne. Diese nicht nur von Jukos angewendete Praxis der internen Transferpreise bezeichnet die Anklage nun als Diebstahl an den eigenen Förderbetrieben. Die gesamte Deliktsumme beträgt rund 30 Milliarden Dollar.
Chodorkowski-Verfahren ermutigt korrupte Beamte
Der Fall Chodorkowski ist endgültig zum Sinnbild für die russische Justizwillkür geworden. Letztere ist ein schweres Erbe der Sowjet zeit. Ihre tiefen Wurzeln lassen sich, wenn überhaupt, nur über mehrere Generationen hinweg besei tigen. Doch in diesem Kampf hat sich die politische Führung die Hände nun selbst gebunden und der Korruption gar noch Vorschub geleistet. Bereits 2005 sagte der Soziologe Georgij Satarow: «Chodorkowskis Verhaftung und die ideologische Grundlage seines Falles haben die Beamten als Signal aufgefasst.»