Der griechischstämmige Juraprofessor an der Universität Oxford, Pavlos Elefteriadis, hat in seinem Buch «Politics and Policy in Greece» die Krise in seiner Heimat so zusammengefasst: «Griechenland ist zwar seit 1974 eine konstitutionelle Demokratie, leidet aber genauso lange an der weitgehenden Unfähigkeit, die hohen Verfassungsprinzipien in die Praxis umzusetzen. Die Regierungen können die vom Parlament erlassenen Gesetze nur teilweise oder auch gar nicht implementieren; die Gerichte sind unfähig, Urteile innerhalb einer sinnvollen Zeitlimite auszusprechen; Ministerien weigern sich oft, unliebsame Urteile zu respektieren.» Dieser Zustand hat dazu geführt, dass auch die «Bürger staatliche Institutionen weder respektieren, noch ihnen vertrauen», urteilt Professor Elefteriadis ernüchtert.
Jeder zweite Grieche misstraut der Justiz
Wie eine Umfrage vom 25. Feb-ruar 2011 zeigt, vertrauen tatsächlich 93 Prozent der Bevölkerung den politischen Parteien und 73 Prozent dem Parlament nicht mehr. Jeder zweite Grieche ist davon überzeugt, dass die Justiz in seinem Land weniger blind ist, als sie sein sollte: dass sie nämlich in der Regel zugunsten der «Mächtigeren» urteile. Alle Umfragen in den letzten Monaten gelangen zu ähnlichen Resultaten. Das schwindende Vertrauen in die Institutionen ist allgegenwärtig - Tendenz steigend.
Ausländisches Geld führte zu Korruption und Filz
Die Ursachen der tiefen Krise macht Roy Panagiotopoulou, Professorin der Kommunikationswissenschaften an der Universität Athen, in der Ära der «Metapolitevsi» aus. Die Metapolitevsi setzte mit dem Fall der Obristenjunta 1974 ein und «war eine berauschende Ära von zunächst unbändiger politischer Kreativität». Die Griechen versuchten damals herauszufinden, «wie Demokratie auch in ihrem Land umgesetzt werden» könne, sagt sie. Innert kürzester Zeit wurden die Armee der zivilen Macht unterstellt, die kommunistische Partei legalisiert, die Meinungsfreiheit und freie Wahlen gewährleistet.
Im Jahr 1981 folgte auch die politische Wende. Die Wahl des Sozialistenchefs Andreas Papandreou erlaubte einer neuen gesellschaftlichen Schicht den Zugang zur Macht. Es handelte sich hauptsächlich um Mitglieder der Mittelschicht, die als vermeintliche «Linke» jahrzehntelang vom rechts-repressiven Staat ausgegrenzt worden waren, nun aber Schlüsselstellungen des Staates bekleiden und eine fundamentale Öffnung der Kultur bewirken konnten.
Mit dem Beitritt Griechenlands zur damaligen Europäischen Wirtschaftsunion im Jahr 1980 strömten schliesslich bis dahin unbekannte Mengen von Geld ins Land. Sie «ermöglichten erstmals den Ausbau eines Sozialstaats». Die Geldmenge aus Europa führte aber auch zu einer unkontrollierten Verbreitung von Korruption, Filz und Bestechung.
Ab 1981 wechselten sich die sozialistische «Pasok» und die konservative «Nea Dimokratia» an der Macht ab. Beide Parteien griffen dabei hemmungslos auf die Ressourcen des Staates zurück, um sich und ihren Anhängern materielle Vorteile zu verschaffen: Zum Beispiel indem sie Stellen des öffentlichen Sektors mit ihren Wählern besetzten oder ihnen günstige Kredite vergaben. Oder indem sie gegen fette Bestechungsgelder lukrative öffentliche Aufträge zuteilten. Die griechische «Parallelgesellschaft», welche sich auch in den kommenden Jahren ungestraft über Gesetze hinwegsetzen wird, trat in Erscheinung.
«Die Justiz ist der grosse Patient Griechenlands»
«Von der Euphorie der Demokratisierungs-Ära beflügelt, dachten wir zunächst nicht daran, Kontrollmechanismen einzubauen, um unseren jungen Rechts- und Sozialstaat vor Amtsmissbrauch, Korruption und sonstigen Übertretungen zu schützen», sagt Leandros Rakintzis, seit 2004 Generalinspektor für die öffentliche Verwaltung. Eine Folge der fehlenden Kontrolle war, dass «beispielsweise unzählige Beamte der Lokalverwaltung jahrzehntelang staatliche Finanzmittel in Millionenhöhe für ihre ganz persönlichen Zwecke abzweigen konnten, ohne je dafür belangt zu werden». Folge davon war auch, dass «heute 365 000 Personen vom Staat eine Invalidenrente erhalten, obwohl nur ein kleiner Bruchteil davon einen rechtlichen Anspruch darauf hätte».
Rakintzis hat die Aufgabe, Verschwendung, Korruption und Misswirtschaft im öffentlichen Sektor aufzuspüren. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2004 deckte er fast tausend Fälle von schwerem Amtsmissbrauch und Korruption im öffentlichen Sektor auf. Das Fazit von Leandros Rakintzis, der Jurist und zuletzt Verfassungsrichter im Areopag, dem höchsten Gericht des Landes war, hört sich an wie eine Anklage gegen seinen ehemaligen Berufsstand: «Der griechischen Justiz ist es nicht gelungen, Rechtsbruch innerhalb einer sinnvollen Zeitspanne zu bestrafen und damit Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Sie ist der grosse Patient Griechenlands.»
Ins Gefängnis kommt nur, wer kein Geld hat
Der Juraprofessor Xenophon Paparrigopoulos vergleicht die Gerichtsbarkeit mit einem «verfallenen Haus, in dem das Regenwasser durch Dutzende Löcher hineinfliesst». Griechische Gerichte seien völlig überfordert, sagt er. Bereits aus technischen Gründen: Jahr für Jahr gingen bei den Gerichten um die 300 000 neue Zivilklagen ein; bei den meisten handle es sich um Bagatellfälle. Es gehöre zur Eigenart der Griechen, «für jede kleine Streitigkeit eine Zivilklage einzuleiten». In «einer Unmenge von Klagen regelrecht am Ersticken», würden die Gerichte meist weder über genügend Personal noch über Computer oder Kopiergeräte verfügen. Die Folge davon sei, dass «Prozesse oft so lange verschleppt werden, bis auch schwerwiegende Straftaten verjährt sind. Und dies ist das erste grosse Problem der griechischen Justiz.»
Das zweite, aber nicht minder kleine Problem für Richter seien die völlig überfüllten Strafanstalten des Landes, sagt Paparrigopoulos. Griechenland habe in seinen Gefängnissen für 4500 Gefangene Platz, hätte aber bereits über 11 500 Inhaftierte. Aus reinem Sachzwang werde Straftätern mit einer Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren erlaubt, ihre Strafe mit Geld zu tilgen. So landen in der Regel nur jene im Gefängnis, die wirklich über kein Geld verfügen, nämlich Drogenabhängige, Bettler und Immigranten. Die Übrigen kommen frei.
Im Jahr 2006 brach einer der grössten politisch-wirtschaftlichen Skandale der Nachkriegszeit aus: Der deutsche Koloss Siemens hatte in Griechenland Politiker, Parteien und Behörden massiv bestochen, um während der Olympischen Spiele in Athen 2004 besonders lukrative Aufträge konkurrenzlos zu erhalten. Der damalige oberste Staatsanwalt Nikos Zagorianos verschleppte seine Ermittlungen indes so lange, bis eine lückenlose Aufklärung unmöglich und die Straftat für die Politiker verjährt war.
Zwar garantiert ein Gesetz betreffend der «Verantwortung von Ministern» aus dem Jahr 2001 Ministern und Parlamentariern Immunität vor Strafverfolgung, solange sie noch im Amt sind. «Die Staatsanwaltschaft hätte aber das Umfeld der Minister anklagen können und hat es dennoch nicht getan», empört sich Generalinspektor Rakintzis. Die meisten Richter wagten sich nicht an solch heikle Fälle, sagt Rechtsprofessor Paparrigopoulos. Denn sie würden kaum über die notwendige Erfahrung verfügen, um die hochkomplizierten wirtschaftspolitischen Korruptionsskandale unserer globalisierten Welt effektiv zu ahnden.
Steuerhinterziehung und Schmiergelder
Bis zur Verjährung der Straftaten verschleppte Prozesse, die Möglichkeit für Wohlhabende, Gefängnisstrafen mit Geld abzugelten, und Politiker, die nie belangt werden: Dieser Zustand heisst im Volksmund «Atimorissia» (Straflosigkeit). Die Atimorissia ermöglicht es der Parallelgesellschaft bis heute, ihren Partikularinteressen immer schamloser nachzugehen: Steuerhinterziehung gilt als ein Gentlemen-Delikt; Ärzte fordern unverhohlen ihr «Fakelaki» (Schmiergeld), um die für ihre Patienten notwendige Operation vorzunehmen, und der Steuerbeamte sein «Rusfeti» (Gefälligkeit) vom Steuerzahler, um eine positivere Einschätzung zu schreiben. Gewerkschaftler ignorieren Gerichtsurteile und streiken so lange, bis sie ihre Forderungen durchsetzen können.
Die Atimorissia wird von einem grossen Teil der Gesellschaft, insbesondere von der Jugend, als reine Willkür empfunden. «Seit Jahren beobachtet die griechische Jugend, wie sich alles in ihrem Land einfach um Korruption dreht», umschreibt der Schriftsteller Petros Markaris die Grundstimmung in der Bevölkerung. «Sie sehen zu, wie eine Clique von Politikern, von Staatsfunktionären und dazu noch ein Haufen Unternehmer, die sich um die Politiker scharen, direkt von der Korruption profitieren, ohne je zur Rechenschaft gezogen zu werden.»
Richter und Anwälte fordern Justizreform
Zorn macht sich breit, vor allem nachdem die Finanzkrise zur Kürzung von Löhnen und Renten geführt hat. «Das Parlament der Griechen soll endlich in Flammen aufgehen», skandierten demonstrierende Jugendliche diesen Winter. Die konservative Tageszeitung «Kathimerini» spricht bereits von einem «Zusammenbruch der griechischen Gerichtsbarkeit».
Xenophon Paparrigopoulos, der neben seiner Stelle als Juraprofessor auch in der Kanzlei Potamitis Vekris mitwirkt, mahnt dringlich zu einer umfassenden Justizreform. Die Intensität der Krise hätte erstmals nach dem Zusammenbruch der Obristenjunta 1974 auch die Juristen des Landes alarmiert. Unter dem Motto «Genug ist genug» ist eine neue Bewegung griechischer Richter dabei, Vorschläge zu einer Modernisierung der Gerichte auszuarbeiten.
Von der Dringlichkeit einer umfassenden Justizreform spricht auch Generalinspektor Rakintzis. «Die griechische Justiz hat keine Zeit zu verlieren», sagte er, die Reformen sollten «lieber gestern als morgen umgesetzt werden. Denn der Druck der Strasse ist enorm.» Fühlt er sich manchmal als einsamer Rufer in der Wüste? «Nein», antwortet er. «Dies schon deshalb nicht, weil der Rufer in der Wüste, Johannes der Täufer, unglaublich mager, ich hingegen ungewöhnlich vollleibig bin», sagt er mit Selbstironie.
Bei den meisten der fast tausend Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch, die er seit seinem Amtsantritt an die Staatanwaltschaft weitergeleitet hat, sei bisher noch kein Urteil ausgesprochen worden. Immerhin habe er aber erreicht, dass künftig Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch im öffentlichen Sektor von den Gerichten mit höchster Priorität behandelt würden.