Der Sage nach soll Galileo Galilei, der aufgrund eines Inquisitionsverfahrens seiner Lehre von der Erdbewegung 1633 abschwören musste, später gesagt haben: «Und sie bewegt sich doch!» Ob Galilei tatsächlich öffentlich auf seiner Theorie beharrte, wissen wir nicht. Bekannt ist hingegen, dass er erst 1992 durch den Vatikan rehabilitiert wurde.
Das Schicksal Galileo Galileis ist nur ein besonders extremes Beispiel dafür, dass sich einst als wahr und richtig geltende Dogmen, Regeln, Konzepte etc. in einem späteren Zeitpunkt als unhaltbar erweisen können. Modernere Beispiele hierfür sind etwa der von 1872 bis 1994 im deutschen Strafgesetzbuch in Kraft stehende sogenannte «Schwulenparagraph» 175 oder die sehr späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz, die auf Bundesebene erst im Jahre 1971 erfolgte.
Gemeinsam ist den obigen Beispielen, dass die sich später als Falschbeurteilungen herausstellenden Dogmen, Regeln, Konzepte etc. immer schon falsch waren. Die Erde hat sich schon immer gedreht. Und es war auch schon immer falsch, Homosexuelle und Frauen zu diskriminieren. Der Umstand, dass die Mehrheit einer Bevölkerung während zum Teil sehr langer Zeit von der Richtigkeit der betreffenden Dogmen überzeugt war, machte sie selbstverständlich nie richtig.
Was bedeutet Obiges für die aktuelle Coronapolitik, mit der auf die Pandemie reagiert wird?
Erstens ist zu bedenken, dass von den Staaten beschlossene Massnahmen nicht per se richtig sind, nur weil sie von einer Gesetzes- oder Regierungsbehörde stammen. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der die von den Staaten beschlossenen Coronamassnahmen kritiklos und ohne eigene Prüfung akzeptiert. Dieser Teil der Bevölkerung dürfte sich heute in der Mehrheit befinden. Wie aber die Coronapolitik in der historischen Rückschau beurteilt werden wird, ist davon unabhängig.
Zweitens darf von den Juristen erwartet werden, die aktuelle Entwicklung und die in unserem Land beschlossenen Coronamassnahmen aus rechtsstaatlicher Sicht genau und kritisch zu beobachten. Was wir seit rund eineinhalb Jahren erleben, gleicht einer Operation am offenen Herzen unseres Rechtsstaats. Was wir im Studium in Vorlesungen zur Staatslehre und zum Bundesstaatsrecht über Grund- und Freiheitsrechte gelernt haben, hat eine unerwartete Aktualität erhalten.
Wer wie ich in den 1990er-Jahren in der Schweiz Jus studierte, ging davon aus, dass die Integrität von Freiheitsrechten in der Schweiz quasi systemimmanent oder gottgegeben ist. Seit dieser Coronakrise wissen wir, dass es sich anders verhält. Dass es also auch in unserem Land Situationen geben kann, in denen über den Umfang und die Unantastbarkeit von verfassungsmässigen Freiheitsrechten plötzlich mit nicht erwarteter Intensität diskutiert wird.
Gute Juristen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich täglich darum bemühen, Fragestellungen rational, also fakten- und evidenzbasiert, zu beurteilen. Auf Prozessanwälte dürfte dies in besonders hohem Masse zutreffen, gehört es doch sozusagen zu ihrer déformation professionnelle, etwas grundsätzlich nur dann als erstellt zu betrachten, wenn es sich beweisen lässt. Hinzu kommt, dass sich die meisten Schweizer Prozessanwälte aufgrund ihres Berufs ständig mit neuen Sachverhalten auseinandersetzen müssen. Anwälte sind es also gewohnt und sind darin geübt, sich in neue Gebiete einzuarbeiten, einschliesslich wissenschaftlicher Gebiete. Gerade von forensisch tätigen Juristen kann also erwartet werden, dass sie sich mit dem Thema der Coronapandemie faktenbasiert auseinandersetzen.
Ein weiterer Aspekt: Juristen können sich in unserer Rechtsordnung gefahrlos Kritik auch an den obersten Autoritäten erlauben. Die Meinungsfreiheit ist in der Schweiz gewährleistet, und von ihr kann im Gegensatz zu anderen Ländern Gebrauch gemacht werden, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Gerade Prozessanwälte sollten – zumindest wenn sie selbständig tätig sind – über die nötige Unabhängigkeit verfügen, ihre Meinungsfreiheit auch zu nutzen, wenn sie Missstände in der Coronapolitik erkennen.
Vor obigem Hintergrund erachte ich es als die Aufgabe von Juristen – besonders von forensisch tätigen –, dafür einzustehen, dass gewisse verfassungsmässige Grundrechte in der Coronapolitik nicht zur Disposition stehen dürfen. Zu diesen Grundrechten gehören insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit, der Schutz des Privat- und Familienlebens sowie das Verhältnismässigkeitsgebot.
Wenn sich gewisse Politiker und Journalisten dazu hinreissen lassen, im Zusammenhang mit der Coronapandemie einem Impfzwang das Wort zu reden, sind sie an die überragende Bedeutung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit zu erinnern. Dies gilt unabhängig davon, dass es selbstverständlich vernünftig und zu unterstützen ist, dass sich alle, die dies wünschen, gegen Covid-19 impfen lassen können. Sei dies aufgrund einer persönlichen Risikoabwägung oder um dank des Coronazertifikats wieder umstandsloser reisen zu können, oder um sich im Sinne eines altruistischen Dienstes am Gemeinwesen gegen Covid-19 impfen zu lassen. Solche persönlichen Entscheidungen sind selbstverständlich zu respektieren. Und selbstverständlich sollen Ärzte, Behörden etc. über das Für und Wider von Covid-19-Impfungen informieren dürfen. In juristischer Hinsicht darf die rote Linie einer mit Zwang verabreichten Coronaimpfung in unserem Rechtsstaat jedoch nie überschritten werden, weil dies einem menschen- und verfassungsrechtlichen Tabubruch gleichkäme, der juristisch nicht zu rechtfertigen wäre und einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde.
In einem Rechtsstaat darf der Schutz des Privat- und Familienlebens nicht in einer nicht zu rechtfertigenden Weise in Mitleidenschaft gezogen werden. Dies ist mit der inzwischen aufgehobenen sogenannten Fünf-Personen-Regel jedoch leider geschehen. Es lässt sich mit dem verfassungsmässigen Schutz des Privat- und Familienlebens schlicht nicht in Einklang bringen, wenn es etwa einer vierköpfigen Familie unter welchem Titel auch immer verboten sein soll, die Grosseltern zu einem Mittag- oder Abendessen zu empfangen. Oder wenn es, um ein weiteres Beispiel zu geben, einer religiösen jüdischen Familie untersagt sein soll, gemeinsam den Sabbat zu feiern.
Juristen sollten auch für das Respektieren des zentralen verfassungsmässigen Verhältnismässigkeitsgebots einstehen, das in der aktuellen Pandemie zum Teil bereits unter die Räder geraten ist und auch in Zukunft wieder unter die Räder zu geraten droht. Ein Element des Verhältnismässigkeitsgebotes ist die Erforderlichkeit einer Massnahme, das gesetzliche und im öffentlichen Interesse liegende Ziel zu erreichen, hier den Gesundheitsschutz. Es liegt auf der Hand, dass die Politik in dieser Hinsicht auch in der Schweiz mit gewissen Massnahmen über das Ziel beziehungsweise das, was verfassungsmässig gerade noch als verhältnismässig qualifiziert werden konnte, hinausgeschossen hat. So war es etwa Eltern eine Zeitlang untersagt, ihren Kindern am Spielfeldrand bei einem Fussballspiel zuschauen zu dürfen, auch wenn die Eltern Abstand gehalten und sogar Masken getragen hätten. Dies ist nur ein Beispiel, über weitere liesse sich diskutieren, insbesondere die Ausdehnung der Zertifikatspflicht.
Von einigen Bürgern wird die Auffassung vertreten, man solle im hier diskutierten Zusammenhang pragmatisch und grosszügig sein. Nach dem Motto, wo gehobelt wird, fallen Späne. Diese Auffassung ist gefährlich und meiner Meinung nach abzulehnen – aus verschiedenen Gründen.
Ein Grund ist der Umstand, dass die verfassungsmässigen Grundrechte gerade auch in Stressphasen zu respektieren sind. Gerade dann, wenn der Staat aufgrund einer aussergewöhnlichen Situation besonders machtvoll auftritt und wohl auch auftreten muss, hat er sicherzustellen, dass die sich aus den Grundrechten ergebenden Schranken nicht überschritten werden. Grundrechte sind mit anderen Worten keine theoretischen Schönwetterkonstrukte, sondern haben sich besonders dann praktisch zu bewähren, wenn eine Gesellschaft und ein Staat unter Druck geraten.
Weitere Krisen werden in der Zukunft folgen, möglicherweise noch einschneidendere und schwerwiegendere, etwa wenn sich gewisse Prognosen betreffend Klimawandel bewahrheiten sollten. Der heutige Umgang des Staates mit den verfassungsmässigen Grundrechten ist auch mit Blick auf die Zukunft wichtig, um keine Präzedenzfälle zu schaffen, die sich unter zukünftigen schwierigen Umständen als Steilvorlagen für noch massivere Grundrechtseingriffe erweisen könnten.
Ein anderer Grund, der dagegen spricht, es mit der Verfassung in Zeiten von Corona nicht so genau zu nehmen: Die vorstehend diskutierten politischen Grenzüberschreitungen haben das Potenzial, das Vertrauen in die politischen Institutionen zu beschädigen. Ein solcher Vertrauensverlust ist hochproblematisch, fusst doch gerade eine freiheitliche demokratische Willensnation wie die Schweiz auf dem Vertrauen, das ihre Bürger ihren Institutionen entgegenbringen. Erodiert dieses Vertrauen, könnte dies die Stabilität des Fundaments beschädigen, auf das gerade unser Staat als Willensnation angewiesen ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Grundrechte stellen in einem demokratischen Staatswesen eine Art Minderheitenschutz dar. Von der Verfassung garantierte Grundrechte stellen sozusagen einen Sicherheitsmechanismus dar, der es verhindern soll, dass eine Minderheit durch eine demokratisch legitimierte Mehrheit in ihren Rechten in verpönter Weise beschnitten wird.
Die obigen Zusammenhänge sind vielen Bürgern nicht klar, was nicht weiter überraschen kann. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft fallen den verschiedenen Berufsgruppen unterschiedliche Aufgaben zu. Die Aufgabe der Juristen ist es nun aber, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und die Einhaltung der verfassungsmässigen Grundrechte anzumahnen, wenn diese in Situationen wie der aktuellen unter Druck geraten.