plädoyer: Barbara Reifler, Sie haben eben Ihre neue Stelle als Leiterin des Amtes für Justizvollzug in St. Gallen angetreten. Werden Sie in Ihrem Kanton auf eine Abschaffung der Gefängnisse hinwirken, wie es Thomas Galli vorschlägt?
Barbara Reifler: Ich kann mit vielen Ideen von Herrn Galli etwas anfangen, finde aber seine Analyse des Gefängnisalltags etwas düster und glaube nicht, dass sie so auf die Schweiz zutrifft. In den letzten Jahren gab es hier viele positive Entwicklungen: Es wurde in die Ausbildung des Personals investiert. Die Kompetenzen, die Polizisten und das Vollzugspersonal heute mitbringen müssen, sind ganz andere als vor zwanzig oder dreissig Jahren. Und mit dem risikoorientierten Sanktionsvollzug schuf man ein Instrument, mit dem man Täter und Rückfallrisiko besser einschätzen kann. Dabei arbeiten die verschiedenen Akteure im Strafvollzug zusammen: Psychologen, Vollzugspersonal und auch der Inhaftierte.
plädoyer: In der Schweiz kamen gemäss der letzten Erhebung 73 Gefängnisinsassen auf 100 000 Einwohner. Die Zahlen in Deutschland sind vergleichbar. Ist diese Anzahl vertretbar oder besteht Handlungsbedarf?
Thomas Galli: Es besteht Handlungsbedarf. Wir haben in der Schweiz und in Deutschland im internationalen Vergleich zwar in der Tat ein sehr tiefes Niveau erreicht, was die Inhaftierungsquoten betrifft. In den USA und in Russland sind die Quoten fast zehnmal so hoch. Aber das ist kein Grund, sich auf die Schultern zu klopfen und zu sagen: «Jetzt ist alles gut.» Wir sollten uns vielmehr fragen: «Wie könnte es noch besser werden?»
plädoyer: Die Strafe der Zukunft soll Ihrer Meinung nach stärker auf offene Vollzugsformen und gemeinnützige Arbeit und kaum mehr auf klassische Gefängnisstrafen setzen. Ein solches Modell sei gerechter, finanziell und sozial nachhaltiger und auch sicherer. Argumentieren Sie da nicht etwas gar idealistisch?
Galli: Die Strafe der Zukunft, wie ich sie skizziere, spiegelt natürlich ein Stück weit eine Idealvorstellung. Und es trifft wohl zu, dass sie zahlreiche neue Schwierigkeiten und Herausforderungen nach sich ziehen würde, die man nur schwer antizipieren kann. Mir geht es in erster Linie darum, unser Strafsystem zu reflektieren und zu hinterfragen: Wie kommen wir dem Ziel, das wir mit Strafen eigentlich erreichen wollen, näher? Da geht es gerade auch um die Stärkung der Opferrechte, was ja immer wieder gefordert wird. Diese kommen in unserem System nämlich tatsächlich zu kurz. Es sind die Interessen des Staats, die im Zentrum stehen.
plädoyer: Thomas Galli schlägt vor, dass beim Entscheid über die konkrete Sanktion die Opfer mitentscheiden können sollen. Was halten Sie als ehemalige Staatsanwältin davon, Frau Reifler?
Reifler: Ich war zwölf Jahre lang als Jugendanwältin tätig. Im Jugendstrafrecht gibt es die Möglichkeit, Geschädigte einzubeziehen. Ein Beschuldigter kann den Schaden zugunsten des Geschädigten wiedergutmachen und der Staat von einer Bestrafung Umgang nehmen. Das ist sinnvoll. Eine stärkere Opferbeteiligung im Erwachsenenstrafrecht – vor Schranken oder im Strafbefehlsverfahren – sehe ich aber kritisch. Es nimmt den Opfern ja auch ein Stück weit die Last, wenn sie nicht über die Sanktion für den Täter mitentscheiden müssen.
Galli: Eine Pflicht zum Mitentscheiden wäre sicher falsch. Ich spreche von einer Möglichkeit. Studien zeigen, dass die Interessen der Opfer von Straftaten sehr unterschiedlich sind: Manche wollen mit einem Fall nichts mehr zu tun haben, andere wollen sich in einem Verfahren stärker beteiligen. Letzteren sollte man dann auch entsprechende Möglichkeiten einräumen.
plädoyer: Hauptsanktionsarten sind heute Geld- und Freiheitsstrafen. Elektronische Überwachung im offenen Vollzug oder gemeinnützige Arbeit sind eher selten. Befürworten Sie diese alternativen Sanktionen?
Reifler: Im Jugendstrafrecht ist gemeinnützige Arbeit beziehungsweise persönliche Leistung die Hauptsanktion. Das funktioniert, und die Auswirkungen sind positiv. Der administrative Aufwand ist jedoch beachtlich. Es braucht eine Koordination mit den privaten Arbeitgebern. Zudem ist ein hohes Funktionsniveau der Betroffenen erforderlich: Sie müssen pünktlich und ausgerüstet zur Arbeit erscheinen und bereit sein, diese zu leisten. Nicht alle Erwachsenen im Vollzug sind dazu in der Lage oder willens.
Galli: Ich kann aus Erfahrung bestätigen, dass es eine Reihe von Insassen gibt, bei denen dieses Funktionsniveau tatsächlich nicht vorhanden ist. Eine Mehrheit wäre aber durchaus in der Lage, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Für sie wäre eine solche Lösung sinnvoller – gerade vor dem Hintergrund, dass die meisten Gefängnisinsassen ohnehin nur kurze Freiheitsstrafen verbüssen und schon bald wieder in Freiheit funktionieren müssen.
plädoyer: Offiziell sollen Freiheitsstrafen die Gefangenen resozialisieren. Eine Mär?
Galli: Ja. In den Anstalten sind zwar sehr viele engagierte Leute tätig, die mit den Insassen in der Regel das Beste erreichen wollen. Aber ihr Einfluss ist beschränkt, etwa wenn über zentrale Aspekte wie vorzeitige Entlassungen oder Lockerungen zu entscheiden ist. Und die Rahmenbedingungen im Gefängnis wirken nicht resozialisierend: Die Subkultur unter den Insassen, die sich im Gefängnis herausbildet; die Absonderung vom realen Leben; die stigmatisierende Wirkung, die eine Gefängnisstrafe auf dem Arbeitsmarkt haben kann. Und der wohl negativste Effekt: Eingesperrt zu sein ist für die meisten Menschen eine Demütigung, eine Kränkung. Es fördert bei den Betroffenen Frustration, Aggression und eine Oppositionshaltung gegenüber der Gesellschaft. Also eben nicht die Reintegration, die man mit einer Gefängnisstrafe ja auch erreichen will.
Reifler: Dem stimme ich in vielerlei Hinsicht zu. In der Schweiz hat man aber erkannt, wie wichtig Übergänge und Zwischenschritte für die Resozialisierung der Insassen sind. Deshalb gibt es offene Vollzugseinrichtungen, wie etwa die Strafanstalt Saxerriet im sanktgallischen Salez. Da wird mit Betrieben kooperiert, in welchen die Insassen arbeiten, es gibt Arbeits- und Wohnexternate und Öffnungen werden erprobt. Die Bedeutung der Wiedereingliederung wird heute viel stärker betont als früher. Dass jemand komplett in die Freiheit entlassen wird, ohne dass es zuvor eine stufenweise Öffnung gegeben hat – das sollte bei uns nicht mehr vorkommen.
Galli: In Deutschland ist es eher der Regelfall, dass Inhaftierte ohne vorgängig verfügte Lockerungen in die Freiheit entlassen werden.
Reifler: Ein grosses Problem ist sicher die Stigmatisierung. Diese beginnt schon bei der Berichterstattung über Straftaten, wenn Medien Beschuldigte als Unmenschen darstellen. Diese gleichen Bilder hat man dann auch von entlassenen Straftätern. Im Vollzug wollen wir aber gerade das Gegenteil einer solchen Dämonisierung erreichen: Wir wollen Straftäter nicht ausgrenzen, sondern möglichst in der Mitte der Gesellschaft halten. Es gilt, mit den betroffenen Menschen soziales Verhalten zu erlernen, das sie in ihrem bisherigen Leben nicht mitbekommen haben. Dafür braucht es den Vollzug.
plädoyer: Der Druck von Medien und Teilen der Öffentlichkeit auf die Strafjustiz und den -vollzug ist gross. Das führt dazu, dass man Straftätern im Zweifel auch im Vollzug eher mit Härte begegnet. Was kann man als leitender Vollzugsbeamter gegen die Angst vor dem Pranger tun?
Galli: Ich habe es als Anstaltsleiter selbst erfahren: Aus Angst vor dem öffentlichen Pranger gibt man einem Insassen im Zweifelsfall auch dann keinen Ausgang, wenn dies durchaus sinnvoll sein könnte. Das sind menschliche Verhaltensmuster, die sich nur dann ändern können, wenn bei einer Mehrheit der Bevölkerung ein Umdenken stattfindet. Dies wiederum bedingt, dass man die Leute mitnimmt. Nach meinen Erfahrungen ist das durchaus möglich, aber es erfordert viel Überzeugungsarbeit. Stelle ich an Lesungen oder Diskussionsveranstaltungen plakative Forderungen wie «Gefängnisse abschaffen» in den Raum, kriegen die Zuhörer erst mal einen Schock. Führe ich aber aus, welche Täter wirklich in unseren Gefängnissen sitzen, wie kurz sie dort sind und was im Vollzug eigentlich geschieht, dann scheint eine deutliche Mehrheit bereit zu sein, neue Wege zu gehen. Das Bild, das in den Massenmedien oder auf Internetplattformen gezeichnet wird, wonach es nicht genug harte Strafen geben kann, ist eher Ausdruck eines oberflächlichen Strafimpulses oder von Frustration.
Reifler: Ich war mir vor Antritt meiner Stelle im Justizvollzug bewusst: Mit dieser Tätigkeit erntet man keine Blumensträusse, sondern eher Negativschlagzeilen. Dennoch erscheint mir die Arbeit im Vollzug als wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Ich glaube, dass man der Öffentlichkeit viel stärker den eigentlichen Auftrag des Vollzugs erklären, ihnen die positiven Geschichten erzählen und Einblick in positive Entwicklungen geben sollte. Aber das ist halt nicht so interessant, es gibt keine reisserischen Schlagzeilen her.
plädoyer: Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung will einen harten Umgang mit Schwerstkriminellen, wie nicht zuletzt die angenommene Verwahrungsinitiative gezeigt hat. Sie, Thomas Galli, fordern im Umgang mit solchen Straftätern einen Kurswechsel: Schwerstkriminelle sollen in geschlossenen, dorfartigen Einrichtungen untergebracht werden. Mit mehr Freiheiten, aber viel weniger Therapien und geringeren Aussichten auf Entlassung. Wie begründen Sie das?
Galli: Wenn man ernsthaft über eine Reformierung des Strafsystems sprechen will, muss man eine Antwort auf die Frage haben, was mit gemeingefährlichen Tätern geschehen soll. In Deutschland sagt das Verfassungsgericht, dass ein lebenslängliches Wegsperren nur dann möglich ist, wenn der Betroffene die Chance erhält, mittels Besserung über eine individuelle Therapie doch noch zurück in die Freiheit zu finden. Also wird mit hohem Aufwand über Jahrzehnte hinweg therapiert, obwohl dies viele der Betroffenen selbst gar nicht wollen. Das halte ich für wenig sinnvoll. Sinnvoller wäre es, diesen Tätern klarzumachen, dass sie bis ins hohe Alter kaum eine Chance auf Entlassung haben. Dazu gehört dann aber auch, dass man ihnen ein im Vergleich zur heutigen Situation menschenwürdigeres Leben ermöglicht.
Reifler: Man kann sich fragen, wie notwendig es ist, dass sich Schwerstkriminelle mit geringer Aussicht auf Entlassung ständig mit sich und ihren Taten auseinandersetzen müssen. Anderseits kann es sinnvoll sein, dass ein Langzeitverwahrter mit anderen Menschen in Kontakt kommt als nur mit seinem Anwalt. Ein Therapeut hat schliesslich einen anderen Zugang zu ihm und irgendeine Form von Interaktion und Teilhabe am Leben muss man ihm ja auch ermöglichen.
plädoyer: Wie hoch ist im Umgang mit Schwerstkriminellen das Vergeltungsbedürfnis von Betroffenen und Gesellschaft zu gewichten?
Reifler: Als Gesellschaft leben wir nach bestimmten Mustern, und diese zu verändern, braucht Zeit. Das zeigt sich ja auch im Privaten, zum Beispiel bei der Kindererziehung: Will man strafen? Und wenn ja, wie? Da gehen die Meinungen auseinander. Im Kleinen zeigt sich hier, was auch für das Strafsystem gilt: Der Weg zu einer Gesellschaft, die ohne Strafen auskommt, ist weit. Aber es gibt durchaus Entwicklungen in diese Richtung: Man weiss mittlerweile zum Beispiel, dass man suchtkranke oder psychisch kranke Eltern früh unterstützen muss. Das kann in der Stillberatung beginnen und setzt sich in der Schulsozialarbeit und einer professionalisierten Kindesschutzbehörde fort – das sind alles Instrumente der Früherkennung und wichtige Puzzleteile, die Fehlentwicklungen verhindern können.
Galli: Das Vergeltungsbedürfnis sitzt tief in den Menschen drin – und das ist nicht nur schlecht: Wenn ein Mensch einen anderen niederschlägt, erkennen Dritte Unrecht, das sie sanktioniert sehen wollen. Das ist richtig und sozial wichtig. Dennoch sollte eine Gesellschaft, die sich weiterentwickelt, dieses Strafbedürfnis ein Stück weit reflektieren: Übel muss nicht mit demselben Übel vergolten werden. Und Gerechtigkeit kann man auch dadurch schaffen, dass man sich stärker um die Opfer kümmert.
plädoyer: Die Coronapandemie hat sich auch auf den Alltag in den Gefängnissen ausgewirkt. Kürzere Freiheitsstrafen wurden aufgeschoben, Insassen aus epidemiologischen Gründen entlassen. Zeigt das, dass eine Zukunft ohne Gefängnisse möglich ist?
Reifler: Die Erfahrungen mit dem Coronavirus haben uns in mehreren Bereichen vor Augen geführt, dass andere Wege möglich sind. Im Strafvollzug könnte zum Beispiel die Videotelefonie neue Möglichkeiten eröffnen, etwa wenn Kinder involviert sind. Über den Bildschirm lässt sich mehr Nähe aufbauen als in Telefongesprächen, die neben Besuchen bislang die gängige Kommunikationsform von Insassen mit der Aussenwelt waren. Was die ausgesetzten Freiheitsstrafen angeht: Man muss nach der Pandemie auswerten, wie sich dies effektiv auf die Betroffenen und auf die Gesellschaft ausgewirkt hat.
Galli: Auch ich sehe die Pandemie als Chance zur Weiterentwicklung. Dass viele kürzere Freiheitsstrafen nicht angetreten wurden, hat offenbar funktioniert. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass es deshalb zu einer schlimmen Straftat gekommen wäre. Leider begreifen dies die Justizministerien der deutschen Bundesländer zu wenig als Chance – eine wissenschaftliche Begleitung oder Auswertung findet kaum statt. Zumindest im Umgang mit der Kommunikation von Insassen mit der Aussenwelt erhoffe ich mir aber ein Umdenken. Sogar Bayern, das strengste Bundesland im Umgang mit Inhaftierten, ermöglichte es den Insassen während der Pandemie, zu telefonieren und manchmal gar zu skypen. Ich hoffe, dass das so bleibt und ein Stück weit sinnbildlich für die Diskussion im Strafvollzug steht: Dass man sich nämlich fragt, was etwas nützt und was nicht, und dass man sich entsprechend weiterentwickelt.
Barbara Reifler, 44, trat im Mai die Stelle als Leiterin des Amtes für Justizvollzug im Kanton St. Gallen an. Zuvor arbeitete sie als Polizistin, Staatsanwältin und Jugendanwältin.
Thomas Galli, 47, arbeitete in Deutschland rund 15 Jahre im Strafvollzug, er leitete die Justizvollzugsanstalten Zeithain und Torgau. Heute ist er als Rechtsanwalt in Augsburg tätig.
Offener Vollzug, elektronische Überwachung und gemeinnützige Arbeit
In seinem Buch «Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen» spricht sich der frühere Anstaltsleiter und heutige Rechtsanwalt Thomas Galli für eine Generalüberholung des Strafsystems aus. Seine Argumentation: Von Gefängnissen und ihrem Nutzen hätte die Öffentlichkeit falsche Vorstellungen. Die meisten Insassen seien keine Schwerkriminellen, sondern hätten mittelschwere Straftaten begangen, oft im Betäubungsmittelbereich. Sie würden durch den Haftalltag nicht resozialisiert, sondern im Gegenteil zermürbt und schlecht auf das Leben in Freiheit vorbereitet. Das erhöhe das Rückfallrisiko.
Galli bezweifelt weiter die abschreckende Wirkung von Gefängnisstrafen. Die „Strafe der Zukunft“ soll dem Autor zufolge stärker auf offene Vollzugsformen, elektronische Überwachung und gemeinnützige Arbeit setzen.
Ausserdem soll Opfern von Straftaten die Möglichkeit eingeräumt werden, sich stärker am Verfahren zu beteiligen und gar über die Art und Weise der Sanktion mitzuentscheiden. Für die schwersten Fälle schlägt Galli abgeschlossene Gefängnisinseln oder Haftdörfer vor, wo sich die Straftäter relativ frei bewegen und im Vergleich zu ihrer heutigen Situation ein menschenwürdigeres Leben führen können. Dafür sollen sie weniger therapiert und kaum mehr vorzeitig entlassen werden.