Verfassungsrecht
Grundrechte
Die Reichweite ausländerrechtlicher Mitwirkungspflichten am Beispiel der Passbeschaffung (Andreas Dietz), EuGRZ 2011, S. 365
Eine bei den Behörden teilweise nicht hinterfragte, gesetzlich auch in der Schweiz verbriefte Pflicht auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand. Interessante Argumentationsfiguren für alle im Ausländer- und Strafrecht Tätigen.
Der Rechtsstaat und die EMRK im Fall der Kunden der UBS AG (Rainer Schweizer), AJP 2011, S. 1007 ff.
Der Autor kritisiert den UBS-Staatsvertrag und seine Anwendung durch das Bundesverwaltungsgericht. Das Abkommen qualifiziert er als Beweis dafür, dass das Rechtsstaatsprinzip in der Schweiz unterentwickelt sei, wobei er als Hauptursache hierfür die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet. Lesenswert!
Übriges Verfassungsrecht
Verfassungsgerichtsbarkeit (diverse Autorinnen und Autoren),jusletter vom 12.9.2011
In der Schwerpunktausgabe des jusletters wird das Thema Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, wobei namentlich auch die beiden aktuellen parlamentarischen Initiativen erörtert werden.
Duales Regierungsmodell und Volkswahl des Bundesrates: Ein neues Reformkonzept (Andreas Auer), ZBl 2011, S. 397 ff.
Interessanter Diskussionsbeitrag des Zürcher Professors, der unter anderem eine Verkleinerung des Bundesrats auf drei vom Volk gewählte Mitglieder unter gleichzeitiger Vergrösserung der aus Staatssekretären bestehenden Regierung beinhaltet.
Zur Regierungsreformdiskussion (Giovanni Biaggini), ZBl 2011, S. 417 ff.
Der Kurzbeitrag betrachtet einzelne Argumente der Reformdiskussion aus staatsrechtlicher Sicht, wobei der Autor zum Schluss kommt, dass es auf Regierungsebene «mehr Köpfe» braucht, wobei jedoch bei Festhalten am Kollegialsystem die Zahl der Bundesratsmitglieder nicht erhöht werden sollte. Viele Gründe sprächen sodann gegen eine Volkswahl der Regierung.
Verwaltungsrecht
Allgemeines Verwaltungsrecht
100 Jahre Verwaltungsrecht in der Schweiz (Benjamin Schindler), ZSR 2011 II, S. 331 ff.
In seinem Referat zum Juristentag 2011 vermittelt der Verfasser einen umfassenden Überblick über die Ursprünge der Verwaltung und des Verwaltungsrechts in der Schweiz sowie die Entwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft. Daran schliessen sich eine Standortbestimmung und ein Ausblick in Thesenfom an. Eher für wissenschaftlich und rechtshistorisch Interessierte.
Übriges Verwaltungsrecht
Über die Rechtfertigung von Persönlichkeitsverletzungen (Marc Frédéric Schäfer und Elsa Dordi), medialex 3/2011, S. 142ff.
Das Logistep-Urteil des Bundesgerichts (BGE 136 II 508) dürfte weitreichende praktische Folgen haben, gelangt es doch zur Feststellung, dass das Sammeln von IP-Adressen Persönlichkeitsrechte verletzt. Der Beitrag setzt sich kritisch mit den Argumenten der gerichtlichen Instanzen auseinander und würdigt die vorgenommenen Interessensabwägungen zwischen Datenschutz einerseits und Urheberrechts- sowie informationellem Selbstbestimmungsrecht anderseits. Dabei nimmt das Bundesgericht wichtige Unterscheidungen zum individuellen Persönlichkeitsschutz vor.
Bundesgesetz gegen die Schwarzarbeit - erste Erfahrungen in der Praxis (Andreas Vögeli),
AJP 2011, S. 1183 ff.
Der Kurzbeitrag untersucht drei relevante Bereiche: Die (fehlende gesetzliche) Definition von Schwarzarbeit, der Umfang der Kontrollbefugnisse der Vollzugsbehörden und die interbehördliche Zusammenarbeit und Koordination. Auf dieser Basis macht er Vorschläge zu punktuellen Anpassungen des Bundesgesetzes.
Privatrecht
Einleitungsartikel und Personenrecht
Der Lebensbeginn aus juristischer Sicht - unter besonderer Berücksichtigung der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs (Andrea Büchler / Marco Frei), jusletter vom 29.8.2011
Der Beitrag untersucht, wann das Leben im juristischen Sinne beginnt beziehungsweise ab welchem Zeitpunkt seiner Entwicklung dem Menschen ein subjektives Lebensrecht zusteht. Nach einem historischen Rückblick werden verschiedene Positionen in Philosophie, Rechtslehre und Gerichtspraxis dargestellt. Die Verfasser plädieren für die extrauterine Lebensfähigkeit als entscheidende Zäsur für den subjektiv-rechtlichen Lebensschutz, was Konsequenzen auf die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs hätte.
Familienrecht
Besuchsrecht und häusliche Gewalt. Zivilrechtliche Aspekte des persönlichen Verkehrs nach Auflösung einer von häuslicher Gewalt geprägten Beziehung (Andrea Büchler / Margot Michel), FamPra 3/2011, S. 525 ff.
Der Beitrag ist Pflichtlektüre für im Familienrecht tätige Fachpersonen. Er analysiert die verschiedenen rechtlichen Möglichkeiten einer kindesgerechten Besuchsrechtsregelung in Fällen von Gewaltausübung gegen einen Elternteil. Sicherzustellen ist die geistig-seelische Sicherheit des Kindes und der Schutz vor weiteren Traumatisierungen; am Vorrang des Kontakterhaltes kann nicht unbedingt festgehalten werden.
Die Organisation des Kindes- und Erwachsenenschutzes nach neuem Erwachsenenschutzrecht (Patrick Fassbind), FamPra 3/2011, S. 553 ff.
Am 1. Januar 2013 tritt das neue Erwachsenenschutzrecht in Kraft. Für die Kantone ist die Organisation der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eine grosse Herausforderung. Ziel dieses Beitrags ist es, ein Modell der im Zentrum des neuen Rechts stehenden KESB zu entwickeln, wobei die Erfahrungen aus dem Vorreiterkanton Glarus in das Modell einfliessen.
«Scheidung ist wie ein Erdbeben» - wenn Kinder über die Scheidung ihrer Eltern reden (Max Peter), FamPra 3/2011, S. 633 ff.
Der Beitrag richtet den Fokus darauf, wie Kinder eine Scheidung erleben. Der Autor arbeitet als freischaffender Familienmediator und plädiert engagiert dafür, Kinder nicht einfach anzuhören, sondern mit ihnen zu reden und interessiert zuzuhören, um zu erfahren, wie es ihnen wirklich geht und was sie von den Erwachsenen brauchen. Anhand ausgesuchter Sequenzen aus der Arbeit mit Gruppen von betroffenen Kindern werden verschiedene Belastungsfaktoren beschrieben und Interventionsansätze vorgestellt.
Die Praxis der Kindesanhörung in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Frage einer Be- oder Entlastung der Kinder - Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Untersuchung (Michael Karle), FamPra 3/2011, S. 651 ff.
Seit Januar 2011 ist die Kindesanhörung in der Schweiz nicht mehr auf Scheidungsverfahren beschränkt. Der Beitrag stellt die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe der Universität Tübingen vor. Untersucht wurden die konkrete Praxis von Anhörungen aus Sicht der Richter und Richterinnen und anderer Scheidungsprofessionen sowie die konkrete Situation der Kinder vor, während und nach einem längeren Zeitraum der Anhörung, auch unter Berücksichtigung allfälliger Auswirkungen auf die familiären Beziehungen.
Zur Berechnung des Vorsorgeunterhalts (Daniel Summermatter), FamPra 3/2011, S. 665 ff.
Der Autor setzt sich als Gerichtspräsident mit der vom Bundesgericht im Entscheid 135 III 158 ff. entwickelten Methode zur Berechnung des Vorsorgeunterhalts auseinander. Die darauf gestützten komplexen Berechnungen liefern keine zuverlässigen Angaben über das dereinstige Alterseinkommen der Unterhaltsberechtigten. Im Beitrag wird bei günstigen finanziellen Verhältnissen und langer Ehedauer stattdessen eine Schätzung des Unterhaltsbedarfs im Alter empfohlen, unter Berücksichtigung des angemessenen Lebensstandards und der Eigenversorgungsquote.
Übersicht zur Rechtsprechung im Kindes- und Vormundschaftsrecht (Philippe Meier / Thomas Häberli), ZKE 2011, S. 312 ff.
Der übliche, für Praktikerinnen und Praktiker sehr nützliche Überblick über die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts.
Obligationenrecht
100 Jahre Schweizerisches Obligationenrecht (Heinrich Honsell), ZSR 2011 II 5 ff.
In seiner abwechslungsreichen Tour d'horizon befasst sich der Autor nach allgemeinen einführenden Ausführungen unter anderem mit dem Konsumentenschutz, der Wiederkehr des Strafgedankens im Privatrecht, römischen Elementen und historischen Irrtümern, aber auch der richterlichen Rechtsfortbildung.
Arbeitsvertragsrecht
Kündigungsschutz im Wandel - quo vadis? (Sara Licci / Kurt Pärli) jusletter vom 20.6.2011
Darlegung der Hintergründe und Inhalte der vom Bundesrat Ende 2010 in die Vernehmlassung geschickten Vorschläge für eine Revision des Kündigungsrechts. Im Zentrum der Änderungsvorschläge steht die Erhöhung des Sanktionsrahmens bei missbräuchlicher Kündigung auf zwölf Monatslöhne. Die beabsichtigten Änderungen werden kritisch beleuchtet und es werden Ergänzungs- oder Anpassungsvorschläge präsentiert.
Whistleblowing - Eine Anleitung (Thomas Kälin / Kerstin Kirchhoff), jusletter vom 20.6.2011
Mit einer OR-Revision soll die grundsätzliche Zulässigkeit einer nach Treu und Glauben erfolgten Meldung zu dessen Beseitigung oder Sanktionierung gesetzlich verankern und klarstellen, dass eine darauf basierende Kündigung als missbräuchlich zu gelten hat. Der Beitrag erläutert die mögliche künftige Regelung und zeigt auf, wie Arbeitgebende das Risiko von externem Whistleblowing minimieren können.
Interne Untersuchungen des Arbeitgebers: Konsequenzen und Schranken (Thomas Geiser), AJP 2011, S. 1047 ff.
Angesichts zunehmender Überwachung von Arbeitnehmenden erläutert der Autor die rechtlichen Grundlagen und die Grenzen, die sie setzen. Besonderes Gewicht legt er dabei auf Fragen des konkreten Vorgehens (Eröffnung und Abschluss des Verfahrens, Verhaltenskontrollen, Überwachung von E-Mail und Telefon).
Bemessung der Entschädigung der Wartezeiten bei echter Arbeit auf Abruf (Fred Henneberger / Stefan Rieder), AJP 2011, S. 1057 ff.
Nach Auffassung der Autoren besteht bezüglich der Entschädigung der Wartezeiten eine für Arbeitgeber riskante Rechtsunsicherheit. Sie schlagen deshalb ein eigenes Berechnungsmodell vor.
Die Zulässigkeit und die Rechtsfolgen einer Kündigung bei einem Verstoss gegen
Kündigungsbeschränkungen (Agnes Dormann), AJP 2011, S. 1069 ff.
Interessanter Beitrag zu einem in der Praxis bisher eher selten behandelten Problem. Die Autorin differenziert hinsichtlich der Rechtsfolgen zwischen formellen und sachlichen Kündigungsvoraussetzungen.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Bank- und Börsenrecht
«Das schweizerische Bankprivatrecht 2010-2011 / Le droit bancaire privé suisse 2011-2011»
(Susan Emmenegger und Luc Thévenoz unter Mitarbeit von Hans Claas Bernhardt und Samantha Meregalli Do Duc), SZW 2011, Nr. 4, S. 372 ff.
Die Autoren geben, auf Deutsch und Französisch, einen kompetenten Überblick über das schweizerische Bankprivatrecht der vergangenen zwei Jahre. Die Zusammenfassung erfolgt im Stil einer Chronik und gibt Entscheide des Bundesgerichts, kantonale Entscheide und Veröffentlichungen der Bankenkommission wieder. Die Zusammenfassungen sind thematisch gegliedert. Teilweise finden sich sehr interessante Entscheidungen. Empfehlenswert für alle Praktiker des Bankrechts.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Öffentliches Verfahrens- und Prozessrecht
Das Recht auf Akteneinsicht im Verwaltungs- und Verwaltungsjustizverfahren (Marc Häusler / Reto Ferrari-Visca), jusletter vom 8.8.2011
Das Recht auf Einsicht in Verfahrensakten ist als Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör von jeder Verwaltungs- und Verwaltungsjustizbehörde zu beachten. Die Autoren zeigen anhand des Beispiels des Kantons Bern die wichtigsten Aspekte dieses Anspruchs und dessen Einschränkungen auf und erläutern auch die Abgrenzung zum Einsichtsrecht nach dem kantonalen Datenschutzgesetz und Informationsgesetz.
Strafprozessrecht
Die neue schweizerische StPO: Formalisierung und Effizienz - bleibt die materielle Wahrheit auf der Strecke? (Andreas J. Keller) ZStrR 2011, S. 229 ff.
Der Präsident des Bundesstrafgerichts kommt in seiner interessanten Analyse zum Schluss, dass die StPO dem Aspekt der forensischen zulasten der materiellen Wahrheit doch grösseres Gewicht gibt. Ferner seien einzelne zur Effiziensteigerung erdachte Regelungen zwiespältig. In einer Gesamtschau qualifiziert er das neue Gesetz aber als «gar nicht so schlecht».
Bewertung von DANN-Untersuchungsergebnissen aus der Sicht von Gerichten und Sachverständigen: Wie viel von unserer Wahrnehmung können wir «für wahr nehmen»? (Alex Biedermann / Joëlle Vuille) ZStrR 2011, S. 278 ff.
Der nicht immer einfach zu verstehende, aber vor allem auch für Strafverteidiger lesenswerte Beitrag kritisiert und relativiert die vom deutschen Bundesgerichtshof der DNA-Analyse zugestandene hohe Beweiskraft. DNA-Untersuchungsergebnisse seien nuanciert zu berücksichtigen und kategorische Feststellungen zu vermeiden.
Das Verhältnis zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare (Simon Roth), ZStrR 2011, S. 296 ff.
Der Autor analysiert die EGMR-Praxis, die er als unklar, widersprüchlich und von Pragmatismus geprägt qualifiziert. Für die Zukunft geht er davon aus, dass der EGMR ausserhalb von Bagatelldelikten die Verwertung von Beweismitteln, die unter verwaltungsrechtlichem Mitwirkungszwang erhoben wurden, als EMRK-widrig ansehen wird.
Heimliche Einvernahmen (Gunhild Godenzi), ZStrR 2011, S. 322 ff.
Die herrschende Lehre und das Obergericht Zürich legen Art. 146 Abs. 1 StPO so aus, dass mehrere beschuldigte Personen nicht nur nacheinander (im selben Raum) einzuvernehmen sind, sondern unter Ausschluss der anderen. Die Autorin kritisiert dies als unvereinbar mit den Teilnahmerechten gemäss Art. 147 StPO.
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
Die einvernehmlich private Schuldenbereinigung gemäss Art. 333 ff. SchKG (Markus Hoby), BlSchK 3/2011, S. 89 ff.
Der Autor erklärt das Schuldenbereinigungsverfahren, das sich - entgegen einer weit verbreiteten Meinung - in der Praxis durchgesetzt hat.
Vorgeschlagene Änderungen zum Sanierungsrecht (Franco Lorandi), BlSchK 3, S. 95 ff.
Der Beitrag setzt sich kritisch mit den vorgeschlagenen Änderungen im Konkurs- und Nachlassrecht auseinander, die im Herbst im Nationalrat diskutiert werden.
Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte
Ist der Leichnam eine Sache? (Susan Maurer / Daniel Kersting) jusletter vom 29.8.2011
Die zunehmende Nutzung des menschlichen Leichnams erzwingt eine Grundlagenreflexion auf dessen Rechtsnatur und auf die Frage, ob der Leichnam als Sache gelten soll. Im Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Philosophie werden die Probleme einer sachenrechtlichen Qualifizierung unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Kommerzialisierungsbestrebungen erörtert. Schliesslich wird eine Lösung vorgeschlagen, die beansprucht, die personale Perspektive auf den Leichnam angemessen in die rechtliche Subsumption zu integrieren.