Verfassungsrecht
Grundrechte
Unantastbar? Bemerkungen zum sogenannten Kerngehalt von Grundrechten oder Much Ado About Nothing (Christof Riedo / Marcel Alexander Niggli), AJP 2011, S. 762 ff.
Die Autoren qualifizieren das Konzept des sogenannten unantastbaren Kerngehalts von Grundrechten als logische Unmöglichkeit und fordern stattdessen, die Fragilität der Rechtsordnung einzugestehen und ihr mit juristischer und politischer Arbeit Sorge zu tragen. Anregender Beitrag.
Schuldispensation zwischen Religionsfreiheit und «bürgerlichen Pflichten» (Anne Kühler / Felix Hafner), AJP 2011, S. 913 ff.
Auf der Basis der nicht immer konstanten Bundesgerichtspraxis wird der verfassungsrechtliche Rahmen für die Beurteilung religiös bedingter Schuldispensationen analysiert und gewürdigt.
Politische Rechte
Intervention oder Teilnahme? Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Kommunikation im Vorfeld von Volksabstimmungen (Andrea Töndury), ZBl 2011, S. 341 ff.
Nach einer Darstellung der Entwicklung vom Interventionsverbot zum Teilnahmerecht in Lehre und Rechtsprechung erörtert die Autorin die Anforderungen an die staatliche Kommunikation, wobei sie vor allem das Fehlen gesetzlicher Regelungen moniert.
Verwaltungsrecht
Ausländer- und Asylrecht
Die Praxis des Ausschusses der Vereinten Nationen gegen die Folter in Individualmitteilungsverfahren zum Non-Refoulement-Prinzip (Fanny de Weck), ASYL 2011/2, S. 4 ff.
Sehr informative und klare Darstellung der Praxis des Uno-Ausschusses gegen die Folter mit Ausführungen zum Verfahren und zu den materiellen Kriterien bei der Prüfung der Beschwerden gegen Ausschaffungen bei Folterrisiko.
Le partage des responsabilités dans l'espace Dublin, entre confiance mutuelle et sécurité des demandeurs d'asile (Francesco Maiani / Constantin Hruschka), ASYL 2011/2, S. 12 ff.
Das Dublin-System, welches die Zuständigkeit für die Prüfung von Asylgesuchen festlegt, geht von der Vermutung funktionierender Asylsysteme in anderen Staaten und der Sicherheit der Asylsuchenden aus. In der Praxis hat sich diese Sicherheit als Fiktion erwiesen. Nun hat auch der EGMR sein Veto eingelegt und im Fall M.S.S. in einer Dublin-Rückschiebung nach Griechenland eine Verletzung von Art. 3 EMRK festgestellt.
Änderungen im Bereich der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht aufgrund der Übernahme der EG-Rückführungsrichtlinie durch die Schweiz (André Equey), AJP 201, S. 925 ff.
Guter Überblick über die Änderungen des Ausländer- und Asylgesetzes und der Weg- und Ausweisungsvollzugsverordnung, die mit der Übernahme des europäischen Gemeinschaftsrechts erforderlich waren und am 1. Januar 2011 in Kraft getreten sind.
Steuerrecht
Verjährung im Steuerrecht (Stefan Oesterhelt), ASA 79, S. 817 ff.
Interessante Zusammenfassung über ein - vor allem im Steuerrecht mit seinen absoluten und relativen Verjährungsfristen - kompliziertes Thema.
Illegal beschaffte Daten - eine Grundlage für Internationale Amts- und Strafrechtshilfe in Fiskalsachen? (Rudolf Wyss) AJP 2011, S. 731 ff.
Der Autor plädiert für eine Anpassung der Strafrechtshilfe an die Amtshilfe und eine Ergänzung des Rechtshilfegesetzes, wonach auf Rechtshilfegesuche nicht einzutreten ist, wenn sie auf Daten beruhen, die unter Verletzung des schweizerischen Rechts erlangt worden sind.
Übriges Verwaltungsrecht
Direkte und indirekte Vorbefassung im Vergabeverfahren (Christoph Jäger), Baurecht 2011, S. 4 ff.
Der Ausschlussgrund der Vorbefassung bewirkt im öffentlichen Beschaffungswesen eine vielfältige Rechtsunsicherheit. Gemäss der Darlegung des Autors liegt eine Vorbefassung vor, wenn sich ein Anbieter an der Beschaffungsvorbereitung beteiligt hat, dadurch einen projektbezogenen, kausalen Wettbewerbsvorteil erlangt hat und in derselben Beschaffung selbst eine Offerte eingereicht hat. In einem solchen Fall muss zusätzlich über die Zulässigkeit der Vorbefassung entschieden werden. Schliesslich gibt der Autor Hinweise auf die möglichen Rechtsfolgen einer unzulässigen Vorbefassung.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Schranken der Freigiebigkeit (Wolfgang Ernst / Thomas Gächter), SZS 55/2011, S. 139 ff.
Im Bereich der Ergänzungsleistungen wird ein Vermögens- oder Einkommensverzicht heute weit häufiger als früher sanktioniert. Im Privatrecht gibt es ebenfalls Restriktionen in Bezug auf den Verzicht auf das eigene Vermögen, sie gehen aber deutlich weniger weit. Interessanter Vergleich des öffentlichen und des privaten Rechts.
Koordination der Ergänzungsleistungen mit sonstigen Schadenausgleichs- und Bedarfsdeckungssystemen (Franz Schlauri), SZS 55/2011, S. 207 ff.
Ergänzungsleistungen (EL) sind ihrer Natur nach gesetzliche Koordinationsleistungen. Das Zusammenspiel EL mit anderen Leistungssystemen und die jeweiligen Koordinationsregeln werden in diesem Beitrag anschaulich dargestellt.
Privatrecht
Sachenrecht
Das rechtliche Schicksal von Überbauten (Alfred Koller), AJP 2011, S. 939 ff.
Der Autor befasst sich hauptsächlich mit Art. 674 Abs. 3 ZGB, wonach dem Überbauer unter gewissen Bedingungen das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden kann.
Obligationenrecht
Verbindlichkeit der fristlosen und ungerechtfertigten Kündigung von Dauerschuldverhältnissen (Michael Kull), SJZ 2011, S. 235 ff.
Nach heutiger Praxis wird die Frage einer ungerechtfertigten Kündigung je nach Dauerschuldverhältnis unterschiedlich beantwortet. Bei den gesetzlich normierten Dauerschuldverhältnissen - namentlich Auftrag oder Agenturvertrag - geht die Praxis von der Gültigkeit einer ungerechtfertigt erfolgten Kündigung aus. Der Autor zeigt auf, dass dies auch bei Vertriebsverträgen und anderen Dauerschuldverhältnissen gelten muss, die auf einem intakten Vertrauensverhältnis beruhen. Nur in Verhältnissen, in denen sich die Leistung der ungerechtfertigt gekündigten Partei in einer reinen Duldung erschöpft, kann das Vertragsverhältnis bis zur richterlichen Beurteilung fortbestehen.
Mietrecht
Ausgewählte Aspekte der Rohbaumiete (Gianni F. Zanetti), mp 2/2011, S. 89 ff.
Der Autor behandelt ausgewählte Aspekte der sogenannten Rohbaumiete, einer in der Praxis bei Geschäftsmieten häufig anzutreffenden Erscheinungsform. Dennoch muss sich die Gerichtspraxis eher selten mit den sich spezifisch stellenden Fragen auseinandersetzen, weshalb bislang viele Punkte ungeklärt geblieben sind. Der Artikel füllt diese Lücke, er analysiert die Rohbaumiete dogmatisch, gestützt darauf prüft er die Rechtsfolgen wie Unterhaltspflicht, Entschädigungsanspruch der Mieterschaft, Pflicht zur Wiederherstellung sowie den Kündigungsschutz und den Erstreckungsanspruch. Abschliessend folgen Empfehlungen an den Gesetzgeber.
Mietzinsgestaltung nach energetischen Verbesserungen (Beat Rohrer), MRA 2/2011, S. 41 ff.
Seit Oktober 2008 geben die modifizierten Art. 14 Abs. 2 und 3 der Verordnung über die Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen der Vermieterschaft das Recht, nach erfolgten Mehrleistungen oder umfassenden Überholungen Mietzinserhöhungen zu verlangen. Der Autor bespricht die Bestimmungen kritisch, insbesondere hinsichtlich der neuen Präzisierungen des Verordnungsgebers zu den «energetischen Verbesserungen» sowie der Definition von Mehrleistungen aus Vermietersicht.
Arbeitsvertragsrecht
Leistungslohn oder Gratifikation? (Christoph Senti) ARV 1/2011, S. 1 ff.
Bonuszahlungen können je nach Ausgestaltung Teil des vertraglichen Leistungslohns oder eine frei wählbare Gratifikation sein. Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale, aufgezeigt anhand eines Überblicks über die aktuelle Rechtsprechung.
Verzicht des Arbeitnehmers auf die nicht gemäss Art. 321c Abs. 3 OR wegbedungene Vergütung für bereits geleistete Überstunden (Catherine Reiter), AJP 2011, S. 946 ff.
Die Autorin kommt aufgrund ihrer Gesetzesauslegung zum Schluss, dass ein schriftlicher Verzicht des Arbeitnehmers entgegen der herrschenden Lehre und Praxis durchaus möglich ist.
Arbeitnehmerschutz bei M & A-Transaktionen und Sanierungen (Rainer Baisch), jusletter vom 20.6.2011
Darstellung der Voraussetzungen für den Übergang von Arbeitsverhältnissen bei Unternehmenstransaktionen und der möglichen Konsequenzen einer Verletzung der Arbeitnehmerrechte. Der Beitrag berücksichtigt die aktuelle Lehre und Rechtsprechung und zeigt mit einem Ausblick auf, in welche Richtung die Botschaft zur SchKG-Revision den Arbeitnehmerschutz bei Unternehmenssanierungen entwickeln will.
Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung zum sachlichen Kündigungsschutz
(Roger Rudolph), jusletter vom 20.6.2011
Überblick über die rechtlichen Grundlagen, Darstellung der aktuellen Entwicklung der Rechtsprechung.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Wettbewerbs- und Kartellrecht
EMRK, Wettbewerbsrecht und Verwaltungsstrafen (Luzius Wildhaber), jusletter vom 4.7.2011
Auf einem Gutachten aus dem Jahr 2010 beruhende Analyse der EMRK-Konformität des schweizerischen Kartellsanktionsverfahrens. Themen sind die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK, der Vorrang der EMRK vor innerstaatlichen Gesetzen und die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Wettbewerbskommission. Zudem werden die Heilung verletzter Rechtsstaatsgarantien sowie die hinreichende Bestimmtheit von Art. 7 KG und der Sanktionsdrohung in Art. 49a Abs. 1 KG geprüft.
Kritische Bemerkungen zum geplanten Bundeswettbewerbsgericht (Carl Baudenbacher), jusletter vom 11.7.2011
Pointierte Kritik am Projekt zur Schaffung eines Bundeswettbewerbsgerichts, das vom Autor als «unausgegoren» bezeichnet wird.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Öffentliches Verfahrens- und Prozessrecht
EMRK und wirtschaftsverwaltungsrechtliche Zwischenverfügungen (Kaspar Luginbühl), AJP 2011, S. 875 ff.
Der lesenswerte Beitrag untersucht die möglichen Auswirkungen des Urteils Micallef c. Malta auf die Schweizer Verwaltungsprozesspraxis. Mit diesem Urteil hat die Grosse Kammer des EGMR erstmals die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK auch in Verfahren um nicht abschliessende Entscheide für anwendbar erklärt.
Strafprozessrecht
Abgekürztes Verfahren und/oder Strafbefehl im Unternehmensstrafrecht? (Helena Kottmann) jusletter vom 28.3.2011
Der Beitrag untersucht, ob das abgekürzte Verfahren gemäss Schweizerischer StPO auf Unternehmensstrafrechtsfälle überhaupt anwendbar ist, wie die auf natürliche Personen zugeschnittene maximale Sanktion von fünf Jahren Freiheitsstrafe (Art. 358 Abs. 2 StPO) im Unternehmensstrafrecht zu interpretieren ist und wie im Unternehmensstrafrecht der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens von jenem des abgekürzten Verfahrens abzugrenzen ist.
Zivilprozessrecht
Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten
Lugano-Übereinkommens (Felix Dasser / Michael Frey), jusletter vom 11. April 2011
Der Beitrag zeigt, dass bei gewissen Konstellationen nach neuem Recht eine wesentlich erleichterte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus Verfahren möglich ist, die bereits seit längerem laufen. Das dem Lugano-Übereinkommen zugrunde liegende Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Justizsysteme kann bei Entscheidungen aus den neuen EU-Staaten schwierige Situationen bewirken, bei denen die Schweizer Vollstreckungsgerichte gefordert sein werden.
Private Zeugenbefragung durch den Anwalt im Zivilprozess (Peter Reichart / Peter Hafner), SJZ 2011, S. 201 ff.
Die Autoren erläutern die private Zeugenbefragung im Zivilprozess. Sie zeigen auf, dass sie zu den Grundsätzen der pflichtgemässen Anwaltsausübung gehört und nicht nur ausnahmsweise zuzulassen ist. Entgegen einem neueren Entscheid des Bundesgerichts hinsichtlich einer besonderen Konstellation in einem Strafverfahren sehen die Autoren die Schranken nicht in der abstrakten Gefahr einer Beeinflussung. Die Grenze bildet ihrer Ansicht nach vielmehr das Strafrecht. Sodann ist der Anwalt gehalten, geeignete Vorsichtsmassnahmen zu treffen, um jeden Anschein einer Zeugenbeeinflussung zu vermeiden.
Ab wann und unter welchen Voraussetzungen sind Vollstreckungsmassnahmen in das Vermögen des Schuldners möglich? (Jürg Roth) AJP 2011, S. 771 ff.
Der Beitrag zeigt die Voraussetzungen für Vollstreckungsmassnahmen für Geldleistungen, und zwar im Binnenverhältnis wie auch bei der Vollstreckung ausländischer Urteile inner- und ausserhalb des LugÜ-Raums. Ferner wird kurz die Rechtslage bei der vollstreckbaren öffentlichen Urkunde, bei gerichtlichen Vergleichen und bei Schiedssprüchen angesprochen.
Scheidungsunterhalt vor Bundesgericht zwischen Willkürüberprüfung und Annahmeverfahren (Heinz Hausheer), ZBJV 2011, S. 355 ff.
Das Bundesgericht versucht sich gemäss Hausheer der (vermeintlichen oder tatsächlichen?) materiellrechtlichen Prüfung von Beschwerden in Zivilsachen betreffend den nachehelichen Unterhalt durch prozessuale Stolpersteine - lies Rügeprinzip - zu erwehren. Der Autor missbilligt diese Praxis und empfiehlt der beschwerdeführenden Partei, dieser Tendenz durch besondere Sorgfalt in der Prozessführung vor kantonalen Sachgerichten zu begegnen. Er gibt in seinem engagierten und ausführlichen Artikel konkrete Tipps für die kantonalen Verfahren und eine Checkliste für das Verfahren vor Bundesgericht.
Europarecht
Demokratisierung der Europäischen Union (Roland Bieber), SZIER 2011, S. 99 ff.
Der Europäischen Union wird vielfach vorgeworfen, allzu bürgerfern zu sein und unter einem markanten Demokratiedefizit zu leiden. Der Lissaboner Vertrag gibt Gegensteuer: Er hat die Rolle sowohl der nationalen Parlamente als auch des Europäischen Parlaments aufgewertet und damit das Fundament für eine «Bürgerinitiative» gelegt.
Die EU und die Demokratie (Andreas Kellerhals), EuZ 2011, S. 26 ff.
Wie der vorstehende behandelt auch dieser Beitrag die Demokratiebemühungen der Europäischen Union. Zusätzlich zeigt er auf, welches die Auswirkungen eines EU-Beitritts der Schweiz für die schweizerische Demokratie sein könnten.
Der Bann ist gebrochen: Die ersten Ermächtigungen zur «verstärkten Zusammenarbeit» in der EU (Waldemar Hummer), EuZ 2011, S. 78 ff.
Erstmals hat die EU Gebrauch gemacht von der Möglichkeit der «verstärkten Zusammenarbeit» zwischen einzelnen Mitgliedsländern, die in einem bestimmten Bereich den anderen Staaten vorausgehen und die Integration unter sich verstärken. Der Autor stellt die Grundlagen der verstärkten Zusammenarbeit und die konkreten Fälle dar.
Der bilaterale Weg, Verbesserungsansätze und die Kantone - primär rechtlich-institutionelle Fragen (Thomas Pfisterer), ZBl 2011, S. 286 ff.
Der Beitrag befasst sich mit der Entwicklung der Europapolitik, ihrer verfassungsrechtlichen Einordnung und der Betroffenheit der Kantone und geht der Frage nach, ob der Förderalismus dadurch beeinträchtigt wird und welche rechtlich-institutionellen Verbesserungen möglich wären.