Verfassungsrecht
Grundrechte
Ausgestaltung des Verhüllungsverbots durch den Bundesgesetzgeber, Bemerkungen zum Gesetzesentwurf des Bundesrats. Kaspar Ehrenzeller, Christina Müller, Benjamin Schindler, Jusletter vom 28.3.2022
Die Autoren untersuchen, ob die Zuständigkeit für die Ausgestaltung des Verhüllungsverbots beim Bund oder bei den Kantonen liegt und wo die Verbotsnorm innerhalb der Rechtsordnung angesiedelt werden sollte. Zudem werden Ausgestaltung und Umsetzung der Norm erörtert.
Wie ist das Verhüllungsverbot mit den Grundrechten zu vermitteln? Benedict Vischer, Jusletter 4.4.2022.
Im Lichte des bundesrätlichen Umsetzungsvorschlags gibt Benedict Vischer einen Überblick über die drohenden Grund- und Menschenrechtseingriffe. Er analysiert die einschlägige Rechtsprechung und kritisiert deren selektive Beachtung durch den Bundesrat. Der Autor thematisiert die Normkonflikte und argumentiert, dass mindestens den internationalen Menschenrechten Vorrang einzuräumen ist.
On 9/11 and three natures of a permanent state of emergency. Emre Turkut, Verfassungsblog.de vom 9.5.2022.
Laut dem Autor war in den vergangenen zwanzig Jahren ein Prozess hin zur Normalisierung eines permanenten Ausnahmezustands zu erleben, der Rechtsstaatlichkeitsmechanismen vorübergehend ausser Kraft setzte. Dieser Zustand schwäche Konstrukte der rechtlichen Kontrolle und Bindung von staatlichen Institutionen nachhaltig. Der gemeinsame Nenner sei in jedem Fall, dass die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit als zentraler Rechtfertigungsgrund angeführt werde, um die mit der Rechtsstaatlichkeit einhergehenden Grundrechte auszuhebeln.
Verwaltungsrecht
Allgemeines Verwaltungsrecht
Der Hausarrest im E-BWIS – Zwischen Prävention und Repression. Sina Staudinger, Carolina Bottani, Jusletter vom 11.4.2022
Der Beitrag widmet sich dem Hausarrest, wie er in Artikel 23o des BWIS-Entwurfs vorgesehen ist und der mit den weiteren Bestimmungen des Bundesgesetzes über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) Eingang in die Schweizer Rechtsordnung finden soll. Zuerst geben die Autorinnen einen Einblick in die politische Diskussion um das PMT. Dann erläutern sie anhand von Hausarrest die Schwierigkeit der Abgrenzung präventiver von repressiven Massnahmen, stellen zur Diskussion, ob es sich beim Hausarrest um eine Massnahme mit pönalem Charakter handeln könnte, und werfen die Frage auf, welche rechtlichen Folgen dies mit sich brächte.
Wer trägt die Verantwortung für die Qualität der Gesetze? Martin Lendi, SJZ 5/2022, S. 219 ff.
Der Autor weist die besondere Verantwortung für die Qualität der Rechtsetzung dem Gesetzgeber zu. Dabei spricht er zwar die Problematik des Gesetzgebungsprozesses an. Er vertieft sie jedoch nicht, namentlich wo die Gesetzgebung in Form von formulierten Initiativen erfolgt.
Beschwerdelegitimation: Zurück zur rügebezogenen Betrachtungsweise! Alain Griffel, ZBl 3/2022, S. 113 f.
Der Autor zitiert einleitend die «Neue Zürcher Zeitung» zu den Gründen der Stagnation der baulichen Verdichtung. «Seit die Gerichte die Vorschriften zum Lärmschutz strenger auslegen, kann jeder Nachbar ein missliebiges Wohnbauprojekt problemlos verhindern», argumentiert die Zeitung. Der Autor hält diesen Standpunkt für berechtigt und zeigt auf, wie es dazu kommen konnte. Seit Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) genügt für die Beschwerdelegitimation ein «besonderes Berührtsein in schutzwürdigen Interessen». In seiner Praxis leitete das Bundesgericht ab, dass ein Beschwerdeführer nur die Überprüfung eines Bauvorhabens im Lichte der Rechtssätze verlangen kann, die sich rechtlich oder tatsächlich auf seine Stellung auswirken». Von dieser Praxis sei das Gericht jedoch 2011 im Entscheid Beckenried abgerückt. Die Beschwerdelegitimation sei von den Beschwerdegründen entkoppelt worden. Dies führe zu einer Überdehnung der Legitimation und stelle einen Schritt Richtung Popularbeschwerde dar. Rückgängig machen könne dies nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch das Bundesgericht selbst.
Baurecht
Der «Erwerb anderer Rechte» im Sinne der Lex Koller: ein überstrapazierter Begriff? Niklaus Schoch, Baurecht 2/2022, S. 73 ff.
Die Lex Koller (also das Bewilligungsgesetz, BewG) erklärt den Erwerb dinglicher Rechte an Grundstücken durch Personen im Ausland für bewilligungspflichtig. Gleiches soll für den «Erwerb anderer Rechte» gelten, soweit diese dem Erwerber eine eigentümerähnliche Stellung verschaffen. Erst aus der Verordnung (BewV) wird deutlich, dass darunter auch der Abschluss rein obligatorischer Rechtsgeschäfte, namentlich von Miet-, Pacht- und Darlehensverträgen, zu verstehen ist. Die Frage, ob der Bundesrat damit seine Verordnungskompetenz überschritt, wird vom Autor verneint.
Umweltrecht
Rechtsprechung zum Umweltschutzgesetz 2016–2020. Corina Caluori, URP 1/2022, S. 1–127
Die Übersicht über die Rechtsprechung im Umweltschutzgesetz stellt eine Fortsetzung der früher publizierten fünfjährlichen Rechtsprechungsberichte zum Umweltschutzgesetz dar. Sie bietet eine systematische Darstellung der Entwicklung in den einzelnen Rechtsgebieten, wobei der Zugriff mit einem detaillierten Inhaltsverzeichnis erleichtert und mit zahlreichen weiteren Verweisen angereichert ist. Ein wichtiges Instrument für alle, die im Umweltrecht tätig sind.
Sozialversicherungsrecht
KVG und UVG
Das Anordnungsmodell in der psychologischen Psychotherapie. Gregori Werder, Jusletter 2.5.2022.
Im Juli wird das Delegationsmodell bei der Erbringung psychotherapeutischer Behandlungen im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung durch das Anordnungsmodell ersetzt. Der Autor kommentiert den rechtlichen Rahmen und ordnet das neue Modell ins System des schweizerischen Krankenversicherungsrechts ein.
Übriges Sozialversicherungsrecht
Über Uber-Urteile und immer neue Uber-Geschichten. Kurt Pärli, SZS 2/2022, S. 59.
Uber bietet Taxifahr- und Kurierdienste an. Bestellt wird über die elektronische Plattform von Uber – die Fahrer bleiben anonym und die Bezahlung geht an Uber. Fahrer, welche die Kundenerwartungen nicht in hohem Masse erfüllen, werden von Uber sanktioniert. Diese Merkmale sprächen eigentlich dafür, dass sie Angestellte sind. Der Uber-Konzern wehrt sich aber gegen diese Einschätzung – auch wenn in der Schweiz und weltweit diverse Arbeits-, Sozialversicherungs- und Verwaltungsgerichte schon zum selben Schluss gelangten. Der Autor gibt eine spannende Übersicht über einen Versuch von Sozialabbau im Spiegel der Rechtsprechung.
Strafrecht
Allgemeiner Teil
Straftaten von Klimaaktivisten gegen Grossbanken können nicht gerechtfertigt werden. Tommaso Caprara, Forum poenale 2/2022, S. 137 ff.
Mehrere Gerichte, darunter auch das Bundesgericht, haben sich mit der Frage befasst, ob Straftaten von Klimaaktivisten, die gegen Grossbanken gerichtet waren, durch einen rechtfertigenden Notstand im Sinne von Artikel 17 StGB gerechtfertigt werden könnten. Der Autor schliesst dies grundsätzlich aus. In Fällen, in denen die schädlichen Folgen des Klimawandels als «unmittelbare Gefahr» im Sinne der besagten Bestimmung qualifiziert werden können, seien Straftaten «ungeeignet und nicht erforderlich», um diese Gefahr abzuwenden. Die problematischen Folgen des Klimawandels könnten nicht durch die Straftaten, sondern nur durch eine «effiziente Klimapolitik und durch eine zielgerichtete wissenschaftliche Forschung wirksam bewältigt werden».
Die (un-)gefestigte Rechtsprechung zur Wahl der Strafart. Gian Ege, Martin Seelmann, AJP 4/2022, S. 342 ff.
Stein des Anstosses ist der Bundesgerichtsentscheid 147 IV 241. Darin äussert sich das Gericht zu den Kriterien und zum gerichtlichen Vorgehen bei der Wahl der Strafart. Dabei sei auch das Verschulden des Täters zu berücksichtigen. Zuerst wählt das Gericht die Art der Strafe und setzt danach das Strafmass fest. Die Autoren analysieren den Entscheid kritisch und zeigen auf, dass weder seine Herleitung noch die inhaltliche Begründung überzeugen. Das Bundesgericht weiche damit massgeblich von seiner bisherigen Rechtsprechung und von in der Literatur grundsätzlich vertretenen Auffassungen ab.
Privatrecht
Familienrecht
Gericht oder Kindesschutzbehörde: Zuständigkeit in Kinderbelangen. Franziska Mulle, AJP 4/2022, S. 307 ff.
Die Autorin beleuchtet mit einem Fallbeispiel die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Gericht für die Regelung von Kinderbelangen zuständig ist und wann die sachliche Zuständigkeit bei der Kindesschutzbehörde liegt.
Erbrecht
Fragen zur einredeweisen Geltendmachung der erbrechtlichen Herabsetzung und Ungültigkeit. Martin Eggel, Fabrizio Andrea Liechti, Successio 1/22, S. 5 ff.
Die Autoren thematisieren verschiedene Aspekte der Möglichkeit, die Ungültigkeit oder Herabsetzung einredeweise geltend zu machen. Mittels Fallbeispielen gehen sie vor allem den Fragen nach, ob blosser Mitbesitz für die Geltendmachung ausreichend ist und ob die Parteirollen im Prozess wirklich unerheblich sind.
Übriges Vertragsrecht
Das Übergangsrecht des revidierten VVG mit Fokus auf Vorschriften mit Auswirkungen auf Dritte. Barbara Klett,
Jelica Kuzmanovic, Have 1/2022, S. 26 ff.
Die intertemporale Bestimmung des revidierten VVG wirft auf den ersten Blick viele Fragen auf. Eine Auslegung im Lichte der Entstehungsgeschichte, nach dem Sinn und Zweck der Revision sowie der versicherungsvertragsrechtlichen Grundsätze zeige jedoch, dass der Wortlaut von Artikel 103a VGG eine Regel für das gesamte VVG aufstelle und für alle Bestimmungen anzuwenden sei. Ob die gewählte Lösung die richtige sei oder ob der Katalog von Artikel 103a VVG noch weitere Ausnahmen hätte vorsehen müssen, ist laut den Autorinnen eine gesetzespolitische Entscheidung und nicht auf dem Wege der Auslegung zu korrigieren.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Bank- und Börsenrecht
Vergütung der Rechenschaft über Retrozessionen. Martina Reber, SZW, S. 131 ff.
Die Autorin schreibt, dass die einseitige Erhebung zusätzlicher Gebühren für die Rechenschaft über Retrozessionen bei Vermögensverwaltungs-, Anlageberatungs- und Execution-only-Verträgen unzulässig ist. Auch das Aufsichtsrecht sehe mit Artikel 26 Absatz 2 Satz 3 Fidleg eine Offenlegungspflicht für die erhaltenen Retrozessionen vor. Diese Offenlegung ist nach Ansicht der Autorin für die Kunden kostenlos. Jedoch könnten sie diesen aufsichtsrechtlichen Anspruch nicht gerichtlich durchsetzen.
Ist Bitcoin eine Währung im Sinne von Artikel 147 IPRG? Eine Analyse anhand der salvadorianischen Gesetzgebung. Matthew Pydar, Corinne Zellweger-Gutknecht, Jusletter vom 9.5.2022.
2021 erhob El Salvador als erster Staat weltweit mit Bitcoin eine Kryptowährung zu einem gesetzlichen Zahlungsmittel. Der Beitrag stellt Überlegungen zu möglichen rechtlichen Implikationen dieser Reform im In- und Ausland an. Im Beitrag wird analysiert, wann es sich bei in Bitcoin denominierten Forderungen um einen internationalen Sachverhalt gemäss des Kollisionsrechts handelt, ob Bitcoin als Währung nach Artikel 147 IPRG klassifiziert werden kann und welche «lex monetae» auf den Bitcoin angewendet werden kann.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Die Kontosperre: Eine Auslegeordnung. Michael Daphinoff, Fortesa Berisha, SJZ 2/2022, S. 71 ff.
Die Kontosperre ist ein häufig genutztes und effizientes Mittel zur Sicherung von Vermögenswerten, obschon sie nicht explizit in der StPO erwähnt ist. Der Beitrag zeigt anhand der neueren Rechtsprechung auf, wie die damit verbundenen Nachteile korrigiert werden können und welche Möglichkeiten Betroffene haben, sich dagegen zu wehren.
Wenn in Lausanne die Vernunft regiert, wird’s kompliziert. Besprechung von BGE 147 I 372. Matthias Schwaibold, Forum poenale 2/2022, S. 149 ff.
Anlässlich der Klima-Aktionstage vom Juli 2019 umstellte eine Gruppe von Personen ein Bankgebäude in Basel, einige Leute veranstalteten später eine Sitzblockade. Die Betroffenen wurden festgenommen, es wurden Strafverfahren eröffnet und die Staatsanwaltschaft erliess den Befehl zur Erstellung eines DNA-Profils. Das Bundesgericht hiess im April 2021 die Beschwerde in Strafsachen eines Betroffenen gut. Nach einer umfassenden Würdigung zahlreicher Gesichtspunkte, insbesondere des grundsätzlich friedlichen Charakters der Demonstration sowie des Ausbleibens von Gewalt und (relevanten) Sachbeschädigungen, kommt das Gericht zum Schluss, dass die Massnahmen einen unverhältnismässigen und damit unzulässigen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung darstellten. Der Autor erachtet es als wichtig, dass das Bundesgericht die Teilnehmer solcher Demonstrationen vor der «Datensammelwut» der Strafverfolger schützt.
Völkerrecht
Menschenrechte
Putins Kreml will nicht mehr länger an die EMRK gebunden sein. Was bedeutet der Austritt Russlands? Ludwig Minelli, Mensch und Recht, Nr. 163, März 2022.
Eine ganze Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat der Kreml bislang nicht umgesetzt. Nun tritt Russland aus dem Europarat aus. Damit wird laut Autor die Lüge beendigt, wonach Russland «zur Gruppe zivilisierter Staaten mit menschenrechtlicher Verpflichtung» gehören will. Der Preis für die Beendigung dieser Staatslüge bestehe darin, dass sich Russland nicht mehr an das Verbot der Todesstrafe halten muss. Kurz: «Die gegenwärtig führende verbrecherische Clique Russlands ist mit grossen Marschschuhen unterwegs – zurück in die Steinzeit.»