Verfassungsrecht
Grundrechte
Weshalb die Bettelei den Schutz der Wirtschaftsfreiheit verdient – eine kritische Auseinandersetzung mit der Bundesgerichtspraxis. Lukas Schaub, ZBl 6/2022, S. 287 ff.
Das Bundesgericht schützt die Bettelei unter dem Grundrecht der persönlichen Freiheit nach Artikel 10 Absatz 2 Bundesverfassung (BV) – nicht aber durch die Meinungsäusserungsfreiheit nach Artikel 16 BV und durch die Wirtschaftsfreiheit nach Artikel 27 BV. Dem Autor zufolge überzeugt vor allem der Ausschluss aus dem Schutzbereich der Wirtschaftsfreiheit nicht. Entsprechende Kritik wurde in der Lehre wiederholt geäussert. Der Beitrag knüpft an diese an, entwickelt sie weiter und greift aktuelle Beispiele aus der Praxis auf: Zum Beispiel die Diskussion um die Bettelei in Basel-Stadt, in deren Kontext eine Beschwerde der Demokratischen Juristinnen und Juristen Basel beim Bundesgericht hängig ist. Oder den EGMR-Entscheid in Sachen Lacatus gegen die Schweiz vom 19. Januar, als der EGMR ein allgemeines Bettelverbot im Kanton Genf für unzulässig erklärte.
Maschinelle Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Nadja Braun Binder, Eliane Kunz, Liliane Obrecht, Sui generis vom 11.4.2022, S. 53 ff.
Die Autorinnen nehmen eine datenschutz- und grundrechtliche Würdigung der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum durch Private und durch staatliche Behörden vor und werfen einen Blick auf den Verordnungsentwurf der EU zur künstlichen Intelligenz. Sie plädieren für ein Moratorium der maschinellen Gesichtserkennung im öffentlichen Raum in der Schweiz.
Polizeiliches Bedrohungsmanagement im Rechtsstaat. Monika Simmler, AJP 5/2022, S. 448 ff.
Der Beitrag diskutiert die Herausforderungen des polizeilichen Bedrohungsmanagements aus rechtsstaatlicher Perspektive. Dabei stellt die Autorin fest, dass zwar viele Kantone zwar Rechtsgrundlagen erliessen, ein umfassender Rechtsrahmen aber nicht erkennbar sei. Dabei wäre ein solcher «dringend notwendig». Die Autorin versucht Ideen für die Zukunft aufzuzeigen, und präsentiert Leitplanken einer möglichen Regulierung.
Übriges Verfassungsrecht
Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik: Ein Überblick. Patricia Egli, Milena Holzgang, AJP 6/2022, S. 600 ff.
Die Neutralität der Schweiz ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine in aller Munde. Mit dem Begriff werden unterschiedliche politische wie auch juristische Konzeptionen verbunden. Der Beitrag bietet zur Orientierung einen Überblick über diese verschiedenen Konzeptionen und stellt die völkerrechtlichen Grundlagen der Neutralität sowie deren Anwendungsbereich vor.
Verwaltungsrecht
Umweltrecht
Zum 50-Jahre-Jubiläum des Umweltschutzartikels der Bundesverfassung. Ein kritischer Essay. Heribert Rausch; URP 2/2022, S. 129 ff.
Der Grandseigneur des schweizerischen Umweltrechts äussert sich kritisch und pointiert, aber immer ausgesprochen fachkundig und kompetent zu den Defiziten bei der Umsetzung des verfassungsrechtlichen Auftrags zum Schutz der Umwelt. Im äusserst lesenswerten Artikel, der mitunter witzig und ironisch daherkommt, wird das Versagen von Parlament und Bundesrat beim Kampf gegen den Lärm und die Luftverschmutzung, aber auch in der Raumplanung und beim Gewässerschutz dargestellt.
Übriges Verwaltungsrecht
Grundstückkäufe in der Schweiz durch Personen im Ausland. Philipp Eberhard, SJZ 9/2022, S. 431 ff.
Das Bundesgesetz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland ist seit Jahrzehnten Gegenstand von Reformbestrebungen, wobei zurzeit insbesondere Verschärfungen diskutiert werden. Der Autor legt neben einer Reihe von Präjudizien die aktuellen politischen Reformbestrebungen dar.
Empfehlen oder befehlen? Lehren aus der Pandemiebekämpfung. Georg Müller, ZBl 5/2022, S. 254 ff.
Im Zentrum des Beitrags steht die Frage, welche Mittel die Behörden anwenden sollen, um die Bevölkerung zu einem verantwortlichen Verhalten in der Pandemie zu veranlassen. Genügen Empfehlungen? Braucht es Gebote und Verbote, deren Missachtung bestraft wird? Der Autor kommt zum Schluss, dass die Massnahmen vermehrt evaluiert werden müssten, um deren Wirkungen besser beurteilen zu können. Allgemein plädiert er dafür, das Verhältnismässigkeitsprinzip öfter und differenzierter zur Anwendung zu bringen. Zentral seien das Vertrauen in die Behörden und die Bereitschaft der Bevölkerung, Anordnungen zu befolgen.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Tabellenlöhne im Sozialversicherungsrecht. Kaspar Gehring, Christian Haag, Have 2/2022, S. 141 ff.
Die beiden Autoren nehmen das erst kürzlich öffentlich beratene Urteil 8C_256/2021 des Bundesgerichts zum Anlass, um die umstrittene Praxis der Ermittlung des Invalideneinkommens anhand des Medianlohns der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) zu besprechen. Zudem stellen sie die verschiedenen Positionen innerhalb des Spruchkörpers dar und ordnen sie ein.
Bundesgericht, Urteil 8C_280/2021 vom 17. November 2021. Michael E. Meier, SZS 3/2022
Der Autor ordnet das jüngste Urteil des Bundesgerichts zum Thema der rechtlichen «Parallelüberprüfung» in die bisherige Rechtsprechung ein. Hinter dem abstrakt anmutenden Begriff verbirgt sich das Problem, dass die IV-Stelle oder das Gericht die ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit aus «rechtlicher Sicht» nicht gelten lässt. Eigentlich wäre davon auszugehen, dass Juristen medizinische Tatsachen – zumindest in der Regel – der ärztlichen Beurteilung überlassen. Die Auswertung der Rechtsprechung von 2018 bis Anfang 2022 zeigt aber, dass in den Urteilen, in denen eine Parallelüberprüfung thematisiert wurde, zu 50 Prozent das Abweichen von den medizinischen Feststellungen geschützt wurde.
Strafrecht
Allgemeiner Teil
Zwischen Vorwurf und Verständnis: Komplexitäten von Notwehrfällen im Strafrecht. Karen Schobloch, Recht 2/2022, S. 67 ff.
Die Artikel 15 und 16 StGB seien «dürre Notwehrregeln», schreibt die Autorin. Entsprechend gross seien die Schwierigkeiten, wenn es in der Praxis um die Aufarbeitung von Notwehrfällen gehe. Der Beitrag befasst sich mit den Grundwidersprüchen der Notwehr. Er thematisiert etwa den Umstand, dass Notwehrsituationen in Lehrbuchbeispielen übersichtlich sind, in der Praxis jedoch nicht: «Die dramatische Situation für einen Angegriffenen stellt sich ganz anders dar als für jemanden, der die Sachlage stundenlang in aller Ruhe aufgrund von Akten studieren kann.» Die Autorin plädiert dafür, dass Hinweise auf Notwehrsituationen und ihre Irrtümer ernst genommen werden und ohne Beweislastumkehr ermittelt werden sollen. Aktuell stehe der Mensch bei der Diskussion über die Angemessenheit von Notwehr zu wenig im Mittelpunkt – stattdessen herrsche eine «diffuse Erwartung an den Angegriffenen, das Recht und seine Ehre wiederherzustellen, dabei nicht über das hinauszugehen, was ein besonnener Dritter im Nachhinein erwägen würde» vor.
Privatrecht
Arbeitsrecht
Les contours actuels de la rupture conventionelle individuelle en France.
Maryam Golestanian, ARV 1/2022, S. 172 ff.
In Frankreich wurde der Aufhebungsvertrag gesetzlich verankert. Die Autorin erläutert die Vorteile des 2008 eingeführten Instituts. Mit einem klar geregelten Verfahren wird die einvernehmliche Auflösung des Arbeitsvertrags gefördert. Die Beziehungen zwischen den Parteien des Arbeitsvertrags sollen keinen beziehungsweise weniger Schaden nehmen. Der Blick in die Regelung des Nachbarlandes lohnt sich.
Übriges Vertragsrecht
Kündigungsrecht gemäss Artikel 35a VVG. Hardy Landolt, Have 2/2022, S. 124 ff.
Anfang Jahr wurde mit dem Inkrafttreten der VVG-Teilrevision ein ordentliches und ausserordentliches Kündigungsrecht eingeführt. Der Autor zeichnet die Entstehungsgeschichte der beiden Gesetzesnormen – Artikel 35a und 35b – nach, legt zudem ein Augenmerk auf die Kündigungsvoraussetzungen und setzt sich mit dem Übergangsrecht auseinander.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Verwertbarkeit von Spontanäusserungen und informellen Befragungen. Eveline Salzmann, Gabriela Mutti, Natalie Fritz, Forum poenale 3/2022, S. 199 ff.
In Strafverfahren sind grundsätzlich lediglich Aussagen gerichtsverwertbar, die den Protokollierungs- und Belehrungsvorschriften gemäss StPO genügen. Nicht dem Einvernahmebegriff und den strengen Voraussetzungen gemäss StPO unterliegen jedoch informelle polizeiliche Befragungen, zum Beispiel der Anwesenden an einem Tat- oder Unfallort. Der Beitrag befasst sich im Wesentlichen mit solchen Äusserungen von Personen, bevor die Rollenverteilung im Strafverfahren klar ist und die gesetzlichen Belehrungs- und Protokollierungsvorschriften greifen. Sind solche «unbelehrten» Äusserungen verwertbar? Und wenn ja, was sind die Voraussetzungen? Fazit: Auch Spontanäusserungen ausserhalb einer behördlichen Zwangssituation sind gerichtsverwertbar. Darüber hinaus sind sie es, wenn die beschuldigte Person nach erfolgter Rechtsmittelbelehrung und damit in Kenntnis der Verfahrensrechte weitere Aussagen oder schriftliche Eingaben aus freien Stücken tätigt. Auch Aussagen aus sogenannten informellen Befragungen sind verwertbar, solange noch kein konkreter Tatverdacht besteht und sie nicht in einer Zwangssituation erhoben werden. Gemäss den Autorinnen ist dies auch dann der Fall, wenn sie später in einer förmlichen Befragung nicht bestätigt werden oder die Aussage verweigert wird. Um die Rechte der Einvernommenen nicht zu unterlaufen und nicht spätere Verwertungsverbote zu riskieren, sind solche informellen Gespräche möglichst zu beschränken und im Zweifelsfall formelle Einvernahmen durchzuführen.
Die richterliche Fürsorgepflicht im Strafverfahren. Denise Weingart, Justice – Justiz – Giustizia, 1/2022
Die richterliche Fürsorgepflicht soll ein faires Verfahren für die betroffenen Personen gewährleisten, indem das Gericht helfend einschreitet, sofern Anzeichen der Verletzung des Fairnessgebots bestehen. Der Autor zeigt über verschiedenen Fallkonstellationen und Praxisbeispielen auf, wann dies der Fall ist und wie das Gericht reagieren kann.
Unabhängige Strafverteidigung als zwingender Baustein des Rechtsstaates. Stephan Bernard, Recht 2/2022, S. 115 ff.
Die rechtsstaatliche, strafprozessuale Wahrheitssuche sei kontradiktorisch angelegt – und die einseitige, unabhängige Strafverteidigung damit zwingende Akteurin und nicht Hindernis der Wahrheitssuche, konstatiert der Autor. Mit der Strafverteidigung institutionalisiere der Rechtsstaat die Kontrolle seiner selbst und ermögliche Macht- und Herrschaftskritik über den Einzelfall hinaus. Zentral für die Strafverteidigung sei ihre Unabhängigkeit. Dazu gehöre neben der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und der Unabhängigkeit der Verteidigung von der beschuldigten Person auch die Unabhängigkeit von Dritten. Mit Dritten meint der Autor unter anderem Medien und Berufskollegen. Er erwähnt den Fall «Rupperswil» als negatives Beispiel: Die Verteidigerin sei in diesem Fall medial, aber auch von Berufskollegen und dem Gericht (das unter anderem ihr Honorar ungewöhnlich stark kürzte) massiv diskreditiert worden. Ein derartiger Pranger könne dazu führen, dass in solchen Konstellationen künftig keine qualifizierte Verteidigung mehr gefunden wird. Dies stelle die rechtsstaatliche Qualität der Verteidigung grundsätzlich in Frage – womit immer auch am Fundament des Rechtsstaates selbst geritzt werde.
Zivilprozessrecht
Die Sicherung von Vergleichsvereinbarungen. Remo Wagner, Jusletter vom 30.5.2022
Der Autor befasst sich mit Vergleichsvereinbarungen, die in der Praxis oft zum Einsatz kommen und ein wichtiges Mittel zur Erledigung zivilrechtlicher Streitigkeiten darstellen. Dabei legt der Autor sein Hauptaugenmerk auf Sicherungsmöglichkeiten wie die Schaffung eines Vollstreckungstitels, die Anwendung von Bedingungen, Konventionalstrafen und Personal- oder Realsicherheiten.
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
Abtretung ist nicht gleich Abtretung – ein Vergleich von Art. 230a und 260 SchKG. Dominik Gasser, Daniel Pfäffli, BlSchK 2/2022, S. 45–53
Mit der Abtretung nach Artikel 260 SchKG erhält der Gläubiger das Recht, einen Anspruch der Konkursmasse geltend zu machen. Anders bei der Abtretung nach Artikel 230a SchKG: Nach Einstellung der konkursamtlichen Liquidation einer ausgeschlagenen Erbschaft mangels Aktiven werden die verbliebenen Vermögenswerte auf die Erben oder – wenn diese verzichten – auf die Gläubiger oder Dritte zu Eigentum übertragen. Die zwei Arten der Abtretung sind also «grundverschieden». Die Autoren erläutern in ihrem Beitrag die wesentlichen Unterschiede.
Übriges Verfahrensrecht
Querulatorisches Verhalten in der Übersicht im Zivil-, Straf- und Verwaltungsverfahren. Stefanie Schütz-Balmer, Justice – Justiz – Giustizia, 1/2022
Der Beitrag untersucht, wie Gerichte und Verwaltungsbehörden mit querulatorischen Persönlichkeiten im Zivil-, Straf- und Verwaltungsverfahren umgehen. Nach einer Definition des Begriffs Querulant untersucht die Autorin, in welcher Form sich querulatorisches Verhalten vor Gericht und Behörden zeigt, und erläutert schliesslich, welche prozessrechtlichen Möglichkeiten den Gerichten und Behörden in den verschiedenen Rechtsgebieten zur Verfügung stehen.
Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte
Restaurative Gerechtigkeit – Alternative zur strafenden Gerechtigkeit? Wolfgang Wohlers, AJP 5/2022, S. 459 ff.
Der Strafrechtsexeperte zeigt in seinem Beitrag auf, welche Elemente restaurativer Gerechtigkeit im geltenden Recht bereits vorhanden sind respektive diskutiert werden. Aufbauend auf dieser Analyse werden Fragen herausgearbeitet, über die man sich Klarheit verschaffen muss, wenn man Rechtsetzung auf rationaler Grundlage betreiben möchte.