Verfassungsrecht
Grundrechte
Quid de la transparence sur la constitution d’un collège de juges pour le traitement d’une cause? Anny Mak, Asyl 3/2022, S. 15 f.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Grundsatzurteil die medial heiss diskutierte Frage der zufälligen Zusammensetzung der Richterkollegien am St. Galler Gericht untersucht. Die Autorin weist in ihrer Urteilsbesprechung auf positive Entwicklungen hin, wie die bevorstehende Untersuchung durch eine Expertin (Daniela Thurnherr) – aber auch auf bedenkliche Aspekte, wie die fehlende Überprüfung der unabhängigen Spruchkörperbildung in Einzelfällen.
Politische Rechte
Die Wahl ins Bundesgericht. Alexander Tichy, Justice – Justiz – Giustizia, 3/2022
In seinem Beitrag zur Wahl ans Bundesgericht nimmt der Autor das Thema der abgelehnten «Justizinitiative» auf. Er beleuchtet das gegenwärtige Wahlverfahren und schlägt mit Blick auf das Ausland verschiedene Reformen im Sinne der Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit vor.
Übriges Verfassungsrecht
Fehlentwicklungen des Verhältnismässigkeitsprinzips. Hansjörg Seiler, ZBl 8/2022, S. 397 f.
Im Zentrum des Beitrags des ehemaligen Bundesrichters steht die Kritik an der aktuellen Praxis des EGMR im Umgang mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip: Während nach der traditionellen Methodik der Rechtsanwendung gelte «wenn A erfüllt ist, tritt B ein», laute die Methodik des EGMR stattdessen: «Wenn A erfüllt ist, tritt B ein, sofern dies verhältnismässig ist.» Im Ergebnis führe diese Methodik zu einer «extremen Einzelfallfokussierung». Als Beispiel nennt der Autor eine Verjährungsregel – per se eine «harte Sache», die aber Rechtssicherheit schaffe. Eine solche Einzelfallfokussierung sei kein Gewinn an Rechtssicherheit, so Seiler – im Gegenteil.
Die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhangs als staatliche Aufgabe. Lorenz Engi, ZBl 8/2022, S. 399 ff.
Ausgehend von den Erfahrungen der Corona-Pandemie thematisiert der Beitrag das Empfinden einer gesellschaftlichen «Spaltung», die auch von der Politikwissenschaft festgestellt werde. Rechtlich sei das Thema «Zusammenhalt» mehrfach verankert: in der Bundesverfassung, in Bundesgesetzen und auf Ebene der Kantone. Inhaltlich bleibe die Zielsetzung meist unbestimmt.
Verwaltungsrecht
Baurecht
Grenzen der Sondernutzungsplanung: Vorbehalt der Anpassung der Grundordnung gemäss Art. 2 RPG. Jasmin Grossenbacher, Christoph Jäger, Baurecht 4/2022, S. 181 ff.
Raumwirksame Aufgaben sind in der planungsrechtlichen Entscheidfolge von Richtplan, Nutzungsplan und Baubewilligung auf der jeweils angemessenen Stufe zu lösen. Ein Sondernutzungsplan darf bis zu einem gewissen Grad vom Rahmennutzungsplan abweichen, den er konkretisiert. Der Beitrag arbeitet anhand der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Voraussetzungen und Grenzen zulässiger Abweichungen heraus.
Umweltrecht
Beiträge der Tagung vom 16. Juni 2022 «Lichtemissionen – Rechtliche Instrumente zur Verhinderung von unerwünschtem Licht in der Umwelt.» Tagungsheft URP 3/2022, S. 251 ff.
Schriftliche Fassungen der Referate zum Thema Lichtverschmutzung, deren Folgen für die Umwelt und eine rechtliche Einordnung. Es werden insbesondere Lösungsansätze bei der Planung, der Beurteilung, der Bewilligung oder dem Betrieb von Beleuchtungen aufgezeigt.
La taxation des émissions de CO2: catégorisation des taxes d’orientation et application du principe de l’égalité de Traitement. Thierry Bornick, Thierry Obrist, URP 2022/4, S. 357 ff.
Handelt es sich bei den CO2-Abgaben um besondere Arten von Steuern oder um Kausalabgaben – oder sind diese öffentlichen Abgaben so unterschiedlich, dass sie die Anerkennung einer dritten Kategorie rechtfertigen? Die Autoren erörtern diese Fragen detailliert. Sie kommen zum Schluss, dass CO2-Abgaben alle Arten von CO2-Emissionen erfassen und wo immer möglich die Steuerkraft der Abgabepflichtigen berücksichtigen müssen.
Übriges Verwaltungsrecht
Persönlichkeitsrechtliche Aspekte des Erstellens audiovisueller Aufnahmen von Polizeieinsätzen durch Privatpersonen im öffentlichen Raum. Benjamin Stückelberger, Sui generis vom 13.6.2022, S. 83 ff.
Grössere Polizeieinsätze in der Öffentlichkeit werden immer öfter durch Unbeteiligte mit ihren Smartphones gefilmt, was der Polizei oft gar nicht gefällt. Der Autor diskutiert die Zulässigkeit des Erstellens solcher Aufnahmen im öffentlichen Raum.
Sozialversicherungsrecht
KVG und UVG
Anspruch auf Kostenvergütung der Fortpflanzungsmedizin durch die Kranken- und Unfallversicherung – Status quo und Ausblick. Kurt Pärli, Daniel Mahrer, SZS 5/2022, S. 276 ff.
Krankenkassen übernehmen die Kosten einer In-vitro-Fertilisation mit anschliessendem Embryonentransfer nicht – mit der Begründung, die Erfolgsquote sei gering. Das Argument vernachlässigt aber, dass im Jahr 1987 zwar lediglich 10 Prozent der Behandlungen erfolgreich waren, heute aber schon 34 Prozent. Wie lange kann die Ablehnung noch aufrechterhalten werden? Neuen Schub erhält die Diskussion auch mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Ist es weiterhin angemessen, ihnen die Finanzierung fortpflanzungsmedizinischer Massnahmen zu verweigern? Das ist mit dem Recht auf Familienleben (Artikel 13 BV) und dem Diskriminierungsverbot wohl schwer zu vereinbaren. Der Beitrag wirft Fragen auf, die einer baldigen politischen oder gerichtlichen Klärung bedürfen.
Das Territorialitätsprinzip im KVG im Zeitalter der Digitalisierung. Tomas Poledna, Jusletter vom 28.8.2022
Der Autor zeigt, wie das Sozialversicherungsrecht im Zeitalter der Digitalisierung über die territorialen Grenzen hinaus gedacht werden kann. So seien reine Inlandkonstellationen heute viel weniger die Norm, und Diagnosen könnten beispielsweise mittels digitaler Dienstleistungen im Ausland erfolgen – oder Fachpersonen ihre Dienstleistungen per Zoom aus ihrem Homeoffice in der Provence erbringen.
Strafrecht
Allgemeiner Teil
Gewaltpornografie und moderne Sexualmoral. Anna Coninx, Nora Scheidegger, ZBJV 7/8/2022, S. 339 ff.
Anlass des Beitrags ist die Tatsache, dass die Gewaltpornografie gemäss Artikel 197 Absatz 4 StGB nach Meinung der Rechtskommission des Ständerates mit der laufenden Revision des Sexualstrafrechts aus dem Katalog der harten Pornografie gestrichen werden soll. Die Autorinnen werfen die Frage auf, ob es nicht widersprüchlich sei, wenn im Sexualstrafrecht sexuelle Übergriffe mit Verweis auf die Selbstbestimmung umfassender kriminalisiert werden und zugleich Gewaltpornografie entkriminalisiert werde. Ihre Antwort lautet Nein, was sie im Folgenden begründen.
Besonderer Teil
Strafverteidigung als «legale Begünstigung» – zum Anwendungsbereich des Artikels 305 StGB auf Aktivitäten der Verteidigung. Wolfgang Wohlers,
ZStrR 3/2022, S. 302 ff.
Der Straftatbestand der Begünstigung (Artikel 305 StGB) ist ein Allgemeindelikt, Täter kann also auch ein Strafverteidiger sein, so der Autor einleitend. Strafverteidigung, die sich an die Grenzen des Erlaubten hält, werde treffend als «legale Begünstigung» bezeichnet und könne als solche nicht strafbar sein. Wo aber verlaufen die Grenzen des Erlaubten, und welche Gesetze definieren diese? Dieser Frage geht der Beitrag nach und versucht, die Bereiche des legalen und des strafrechtlich relevanten Verteidigerhandelns näher zu bestimmen.
Privatrecht
Erbrecht
Die Beurkundung von Erbverträgen. Christian Brückner, Roland Pfäffli, Der Bernische Notar 2/2022, S. 405 ff.
Gute Auffrischung für Notare bezüglich der Formalien bei der Beurkundung von Erbverträgen.
Obligationenrecht
Die Anerkennung der Schlussabrechnung gemäss Artikel 154 Absatz 3 der SIA-Norm 118. Peter Gauch, Baurecht 3/2022, S. 137 ff.
In der fraglichen SIA-Norm geht es um die Schlussabrechnung des Unternehmers, die «mit dem Prüfungsbescheid der Bauleitung als beidseitig anerkannt» gilt. Der Autor analysiert diese Vertragsklausel und schafft damit ein besseres Verständnis ihrer Tragweite. Allerdings weicht er mit guter Begründung vom gängigen Verständnis ab.
Haftpflichtrecht
Solidarität im Schadenersatzrecht. Alfred Koller, AJP 8/2022, S. 831 ff.
Im Zentrum des Beitrags steht die solidarische Haftung von zwei oder mehreren Haftpflichtigen gegenüber Geschädigten. Zudem liefert der Autor einen Überblick über weitere Tatbestände von Solidarität. Konkret: Die solidarische Haftung eines Haftpflichtigen mit seinem Haftpflichtversicherer, zwischen einem Haftpflichtigen und dem Schadensversicherer des Geschädigten und mehrerer Haftpflichtiger gegenüber regressberechtigten Sozialversicherungsträgern.
Mietrecht
Die Auflösung von Mietzinsdepots in der Praxis. Eine materiellrechtliche sowie prozessrechtliche Auslegeordnung. Thomas Nagel, Michael Nagel, Jusletter vom 5.9.2022
Bei der Auflösung eines Mietzinsdepots können sich sowohl für Banken als auch für die Parteien des Mietverhältnisses komplexe Rechtsfragen stellen, auf die es in der Literatur und Rechtsprechung noch keine Antworten gibt. Die beiden Autoren erörtern ausgewählte Rechtsprobleme im Zusammenhang mit den Auflösungsgründen und schaffen Klarheit darüber, wie die Auflösung des Mietzinsdepots prozessual durchgesetzt werden kann.
Arbeitsrecht
Der Arbeitsausfall: Kann oder muss ausgefallene Arbeit nachgeholt werden? Marc Wohlwend, Sui generis vom 19.7.2022, S. 101 ff.
Der Autor ordnet die Arbeitsleistung und den Arbeitsausfall ein und wem dieser zuzuordnen ist. Im Beitrag zeigt er anhand der Natur, des Zwecks und der tatsächlichen Umstände bei einem Arbeitsausfall auf, dass die Arbeitsleistung heutzutage grundsätzlich nicht als Fixschuld verabredet ist. Die Arbeitgeber sind demzufolge gehalten, eine angemessene Nachfrist anzusetzen, damit die Angestellten die ausgefallene Arbeit nacharbeiten können.
Was ist ein Arbeitsvertrag? Abgrenzung des Einzelarbeitsverhältnisses von anderen Dienstleistungsverträgen in der Arbeitswelt 4.0. Frédéric Barth, Isabelle Wildhaber, ARV 2/2022, S. 127 ff.
Der Arbeitsvertrag schützt Angestellte vor wirtschaftlichen und sozialen Risiken. Wer über keinen verfügt, hat den deutlich schlechteren Stand. Ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, muss oft anhand einer Mehrzahl von Kriterien entschieden werden. Mit den Veränderungen in der Arbeitswelt ist ein Überdenken nötig. Bisherige Gesichtspunkte, die darauf abstellten, ob der Arbeitgeber einen Arbeitsplatz zuweist oder ob feste Zeiten einzuhalten sind, führen oft nicht mehr weiter.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Öffentliches Verfahrens- und Prozessrecht
Der nicht wiedergutzumachende Nachteil bei vorsorglichen Massnahmen. Irina Schulthess, Regula Aeschimann, Senta Cottinelli, AJP 9/22, S. 952
Das Bundesgericht trat auf eine Beschwerde von Jolanda Spiess-Hegglin gegen einen selbständig eröffneten Entscheid über vorsorgliche Massnahmen nicht ein, weil ihre Anwältin den nicht wiedergutzumachenden Nachteil nicht dargelegt habe. Die Autorinnen haben die Beschwerdeschrift analysiert und kommen zum Schluss, dass der nicht wiedergutzumachende Nachteil geradezu offenkundig war. Der Fall zeige, dass das Bundesgericht sehr hohe formale Anforderungen an Rechtsschriften stelle.
Zivilprozessrecht
Mündlich oder schriftlich? – Die Justitiabilität des Anspruchs auf mündliche Verhandlung im Zivilprozess unter dem Einfluss der EMRK. Florian Eichel, SJZ 12/2022, S. 583 ff.
Der Autor beleuchtet den Anspruch auf mündliche Verhandlung gemäss Artikel 6 EMRK, seine Konkretisierung durch die Judikatur des EGMR und die Auswirkungen auf das schweizerische Zivilprozessrecht. Dabei werden die verschiedenen Arten des Zivilprozesses untersucht, im Schwerpunkt das Summarverfahren und einige seiner Anwendungsfelder (Rechtsöffnung, klare Fälle, vorsorglicher Rechtsschutz) sowie die Geltendmachung des Anspruchs im Instanzenzug. Der Beitrag schliesst mit einem Ausblick auf die Rolle der absehbaren Digitalisierung des Zivilprozesses.
Der ZPO-Revisionsentwurf zum kollektiven Rechtsschutz. Matthis Peter, Urs Hoffmann-Nowotny, AJP 6/2022, S. 573 ff.
Vergangenen Dezember hat der Bundesrat einen Gesetzesentwurf zum Ausbau von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes in der ZPO veröffentlicht. Der Beitrag gibt einen Überblick über die Vorlage und stellt erste Überlegungen zu deren Einbettung in die allgemeine schweizerische Zivilprozessrechtslandschaft an.
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
Aktuelles aus Bern – Informationen aus dem Bundesamt für Justiz. Philipp Weber, BlSchK 4/2022, S. 165–172
Der Autor gibt einen Überblick über die wichtigsten Neuerungen im Betreibungs- und Konkursrecht (Bekämpfung missbräuchlicher Konkurse, Betreibung von Krankenkassenprämien), hängige Vernehmlassungen (zum Beispiel Sanierungsverfahren für natürliche Personen), Motionen (zum Beispiel Gebühren), Postulate (zum Beispiel Einbezug der Steuern bei der Berechnung des Existenzminimums) und parlamentarische Vorstösse.
Betreibungshandlungen in den Schonzeiten (Art. 56 SchKG) – Später gültig, anfechtbar oder nichtig? Dominik Balmer, BlSchK 4/2022, S. 172–179
Zur Schonung des Schuldners sind zu gewissen Zeiten keine Betreibungshandlungen (zum Beispiel Zustellung eines Zahlungsbefehls) erlaubt. Das Gesetz regelt aber nicht die Folgen, wenn trotzdem eine Betreibungshandlung erfolgt. Ist sie gültig, anfechtbar oder nichtig? Das Bundesgericht schwankt in seiner über 100-jährigen Rechtsprechung zwischen Nichtigkeit, Anfechtbarkeit und späterer Gültigkeit. Der Autor plädiert für Anfechtbarkeit.