Der Bundesrat will bei der Frage, ob ein Mensch seine Organe spenden will, die erweiterte Widerspruchslösung einführen. So der Inhalt seiner Botschaft zur Revision des Transplantationsgesetzes an das Parlament. Das würde bedeuten: Wer zu Lebzeiten seinen Willen nicht festgehalten hat, gilt als Spender. Heute gilt mit der Zustimmungslösung von Artikel 8 des Transplantationsgesetzes das Umgekehrte: Einer verstorbenen Person dürfen Organe, Zellen oder Gewebe nur entnommen werden, wenn sie oder ihre Angehörigen das Einverständnis dazu gab.
Ethikkommission lehnt Widerspruchslösung ab
Mit der neuen Regelung strebt die Landesregierung eine 180-Grad Kehrtwende vom aktuellen Zustand an. Der Zürcher Rechtsprofessor Thomas Gächter nennt es denn auch eine «Weichenstellung an einem heiklen Punkt». Die Nationale Ethikkommission lehnt diese Widerspruchslösung ab. Sie argumentiert in einer Stellungnahme, dass ein autonomer Entscheid eines Menschen nur dann vorliege, «wenn er das Ergebnis einer auf ausreichenden Informationen basierenden, nach einer gewissen Zeit der Reflexion und des Austauschs gereiften, persönlichen Überlegung einer urteilsfähigen Person ist». Ein Einwilligungsmodell, das diese Einzelelemente fördere, sichere den Wert der Autonomie demnach am besten.
Die Kommission hält fest, die Widerspruchslösung bedeute im Vergleich zur Zustimmungslösung insbesondere einen «geringeren Schutz des körperbezogenen Selbstbestimmungsrechts». Auch die Zürcher Philosophin und Juristin Birgit Christensen, die sich wiederholt mit Fragen in diesem rechtlich-ethischen Grenzbereich beschäftigt hat, übt Kritik: Mit der Widerspruchsregelung werde der im Medizinrecht wichtige Grundsatz der aufgeklärten Zustimmung verletzt und die Freiwilligkeit der Organentnahme faktisch aufgehoben.
Wie ist der bundesrätliche Paradigmenwechsel zu erklären? Anfang 2019 reichte die Organisation «Junior Chamber International Riviera» die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» ein. Ihre Absicht: in der Schweiz die Widerspruchslösung einzuführen. Die Organisation beschreibt sich selbst als «politisch und konfessionell unabhängig». Die Mitglieder: «Junge und mutige Unternehmer sowie offene und aktive Führungskräfte der Region Vevey und Montreux».
Im September gleichen Jahres reagierte der Bundesrat mit einem indirekten Gegenvorschlag, der ebenfalls auf die Widerspruchslösung setzt, aber anders als die Initiative damit erweitert wird, dass ein Widerspruch auch durch die Angehörigen der verstorbenen Person vorgebracht werden kann. Die Regierung erhofft sich, mit dieser Systemänderung, wie sie schreibt, vor allem die Anzahl potenzieller Spender zu erhöhen.
Professoren widersprechen dem Bundesrat
Die Widerspruchslösung geht von der Annahme aus, dass die Menschen grundsätzlich einer Organspende positiv gegenüberstehen, implizit auch dann, wenn es konkret um ihre eigenen Organe geht. Der Bundesrat argumentiert mit verschiedenen Umfragen, die aufzeigen würden, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Organspende grundsätzlich positiv gegenüberstehe. Thomas Gächter gibt dazu zu bedenken, dass das «aktive Fragen, ob ein Mensch seine Organe spenden möchte, nicht das Gleiche ist, wie grundsätzlich Organspenden zu befürworten».
Der Bundesrat führt für seinen Gegenvorschlag weiter an, in der Schweiz würden viele Menschen auf ein rettendes Organ warten. Die Organspendezahlen hätten zwar mit dem Aktionsplan «Mehr Organe für Transplantationen» des Bundes seit 2013 schrittweise erhöht werden können. Sie seien aber im europäischen Vergleich noch immer tief. Basierend auf der neueren wissenschaftlichen Literatur sei davon auszugehen, «dass die Spenderate mit einem Wechsel zur Widerspruchslösung steigen würde».
Diese Argumentation ist für Thomas Gächter aus rechtlicher wie aus politischer Sicht «gefährlich»: «Vergleichszahlen beweisen: Die Zahl der Transplantationen korreliert nicht zwingend mit dem Zustimmungs- oder Widerspruchsmodell. Massgeblich sind vielmehr kulturelle Faktoren, die Abgeltung des Mehraufwands für die Institution, welche die Explantation mit allen flankierenden Arbeiten übernehmen muss, sowie die Präsenz des Themas in der Gesellschaft.» Gächter befürchtet, das entsprechende Argument des Bundesrats könnte zur Annahme verleiten, dass die Bevölkerung mit einem Systemwechsel im Interesse vermehrter Transplantationen gewissermassen «überlistet» wird und Angehörige gesellschaftlicher Gruppen, die vermutungsweise wenig Zugang zum gesellschaftlichen Diskurs haben, «als lebende Organbanken missbraucht werden».
Einfluss auf die Zahl der Spenden offen
Die Ethikkommission bekräftigt, dass aus einer möglichen Korrelation zwischen Widerspruchsregelung und höheren Raten von Organspenden «keinesfalls ein Kausalzusammenhang abgeleitet werden» könne, und stützt sich dabei auf eine international angelegte Analyse der Spendezahlen in 35 Ländern (Adam Arshad, Benjamin Anderson und Adnan Sharif, 2019). Ein Blick darauf verrät, dass bei den Raten zur postmortalen Spende zwischen Ländern mit Widerspruchsregelung und Zustimmungsregelung kein signifikanter Unterschied besteht: Grossbritannien zum Beispiel weist eine hohe Spenderate auf, obwohl dort die erweiterte Zustimmungslösung gilt. Länder wie Polen oder Luxemburg verzeichnen trotz Widerspruchslösung eine tiefere Rate.
Bernhard Rütsche, Professor an der Universität Luzern und Mitglied der Ethikkommission, räumt ein, dass hinsichtlich Wirksamkeit empirische Unsicherheiten bestünden. «Allerdings gibt es nachvollziehbare Gründe und auch Erfahrungswerte mit Blick auf andere Länder, wonach zwischen der Widerspruchslösung und einer erhöhten Verfügbarkeit von Organen ein relevanter Zusammenhang besteht», sagt er. Die Widerspruchslösung wolle die Verfügbarkeit von Organen steigern «und damit mehr Menschenleben retten».
Das Bundesamt für Gesundheit veröffentlichte kürzlich eine Studie zum Einfluss von Modellen der Einwilligung, Spenderegistern und Angehörigenentscheid auf die Organspende, die zu folgenden Schlussfolgerungen kommt: Nach wie vor fehle eine klare Evidenz für eine direkte kausale Wirkung des Modells der Einwilligung (Zustimmungs- oder Widerspruchslösung) auf die Spenderate.
Manipulation der Bevölkerung
Für den Gesundheitsrechtsspezialisten Christoph A. Zenger, Professor an der Universität Bern, ermöglicht die Widerspruchslösung «die Ausbeutung von Zwangslagen, Abhängigkeiten, Unerfahrenheit, Unwissen, Unfähigkeit und Schwäche im Urteilsvermögen vieler Personen». Diese würden zu «Organlieferanten, ohne davon zu wissen oder sich wehren zu können». Ob diese «Instrumentalisierung eines grossen Teils der Bevölkerung» einer direkten Absicht von Initianten und Bundesrat entspringe oder von diesen als Folge billigend in Kauf genommen werde, sei unerheblich.
Auch die übrige Bevölkerung soll laut dem Professor «manipuliert werden»: Die Widerspruchslösung sei nichts anders als eine Form jener verniedlichend «Stupsen» genannten Manipulation, deren sich auch Google oder Facebook bedienen würden. «Es ist unbestritten, dass es Menschen viel mehr Aufwand kostet, sich aktiv gegen eine von aussen vorgegebene Entscheidung zur Wehr zu setzen, als diese hinzunehmen und geschehen zu lassen.» Von einer aufgeklärten Einwilligung, die verfassungsrechtlich mit der persönlichen Freiheit gewährleistet sei, könne keine Rede sein.
Zenger kritisiert weiter die fehlenden Minimalfristen «für die Suche nach einem dokumentierten Widerspruch und nach Angehörigen». Der Bundesrat delegiere die Regelung auf die Stufe des Verordnungsrechts. «So kann er in Eigenregie abändern und die Fristen ohne demokratische Kontrolle immer weiter verkürzen, wenn er es für richtig hält. Darüber, wie gründlich die Abklärungen sein sollen, steht nichts in diesem Gegenvorschlag.»
Der Gegenvorschlag sehe nur eine Änderung des Transplantationsgesetzes vor. Damit wolle der Bundesrat eine Änderung der Verfassung vermeiden. Für eine Verfassungsänderung gemäss Initiative wären ein obligatorisches Referendum und eine Mehrheit von Bevölkerung und Kantonen nötig. «Daran würde die Initiative aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern», glaubt Zenger.
“Im Interesse der Vorsorge- und Vorschriftenmedizin”
«Was hat denn eine Mehrheit des Bundesrates also veranlasst, die grundrechtlich gewährleistete persönliche Freiheit und die demokratischen Rechte derart beiseitezuschieben?», fragt sich Zenger. Einen Nutzen für die Organempfänger schliesst er aus. Die Widerspruchslösung werde nicht zu mehr Organen führen. Zenger kennt die oben zitierten Studien ebenfalls. Er glaubt vielmehr, dass damit der industrialisierten Vorhersage-, Vorsorge- und Vorschriftenmedizin der Weg gebahnt werden solle. Mit dem Zweck, «damit ihren viel umfassenderen neopaternalistischen Verfügungsanspruch über die Bevölkerung unter Berufung auf ein Präjudiz vorantreiben zu können». Bernhard Rütsche, Mitglied der Ethikkommission, hält diese Schussfolgerung seines Professorenkollegen für «polemisch».