plädoyer: Hans Wiprächtiger, weshalb verhängen Sie als Richter Strafen?
Hans Wiprächtiger: Weil ich das Strafgesetzbuch anwende und davon überzeugt bin, dass ich damit eine wichtige Funktion in unserem Rechtsstaat erfülle.
plädoyer: Luzi Stamm, Sie waren fünf Jahre Bezirksrichter. Warum haben Sie Strafen verhängt?
Luzi Stamm: Weil dies im Gesetz so vorgeschrieben ist. Die Hauptgründe der Strafen sind Abschreckung und Sühne.
Wiprächtiger: Da bin ich nicht einverstanden: Studien beweisen, dass die Abschreckung nicht mit der Höhe der Strafen zusammenhängt. Die Strafe dient vor allem der positiven Generalprävention: Die Bevölkerung soll sehen, dass der Staat Regelbrüche ahndet. Ich pflichte Ihnen aber bei, dass die Strafe eine Ausgleichsfunktion hat. Sie befriedigt das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Wie hoch die Strafe sein muss, um diesen Ausgleich zu bewirken, ist eine andere Frage.
plädoyer: Die Schweiz hat im internationalen Vergleich eine tiefe Kriminalitätsrate. Das heutige schweizerische Sanktionensystem ist offenbar erfolgreich. Sehen Sie das auch so?
Stamm: Nein, gar nicht. 2007 haben wir die kurzen Freiheitsstrafen abgeschafft und Geldstrafen eingeführt. Das ist ein Misserfolg.
plädoyer: Gibt es Belege dafür?
Stamm: Die bisherigen konkreten Erfahrungen und gesunder Menschenverstand.
Wiprächtiger: In den vier Jahren seit seiner Einführung hat sich das neue Sanktionensystem bewährt, die Kriminalität hat sogar abgenommen: Gemäss der eben erschienenen Polizeistatistik 2010 des Bundesamtes für Statistik sind die Straftaten um 5 Prozent zurückgegangen. Ein ähnliches Bild zeigen auch neueste kantonale Statistiken. Die Delinquenz ist nur im Bereich des Strassenverkehrsgesetzes gestiegen.
plädoyer: Haben Sie dafür eine Erklärung?
Wiprächtiger: Dies hängt wohl mit der gestiegenen Zahl der Autofahrerinnen und Autofahrer zusammen. Aber gerade das Strassenverkehrsgesetz ist ein im Vergleich zu unseren Nachbarländern hartes Gesetz. Die steigende Zahl der Verurteilungen im Strassenverkehr beweist, dass härtere Gesetze und Strafen nicht zu einem Rückgang der Verurteilungen führen.
Stamm: Beim Strassenverkehr haben wir meines Erachtens nicht mehr Delikte, sondern mehr Kontrollen.
plädoyer: Hans Wiprächtiger, Sie plädieren also dafür, das neue Sanktionensystem beizubehalten?
Wiprächtiger: Die Zahlen sprechen für sich. Abgesehen davon ist das neue Gesetz erst vier Jahre alt. Eine Revision ohne zwingende Gründe ist zu früh und würde nach so kurzer Zeit zu Rechtsunsicherheit führen.
plädoyer: Luzi Stamm, Sie wollen dem neuen Sanktionensystem keine Chance geben. Sie kritisieren die bedingten Geldstrafen und die Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafen.
Stamm: Ja. Wir müssen unbedingt die kurzen Freiheitsstrafen wieder einführen. Das Institut der Geldstrafe halte ich für sinnlos, egal ob bedingt oder unbedingt. Das alte System der Bussen war viel einfacher und besser.
Wiprächtiger: Mir ist es sehr wichtig, dass bedingte Strafen - ob Geldstrafen oder Freiheitsstrafen - weiterhin möglich sind. Bedingte Strafen sind ein sehr gutes Instrument, um die Kriminalität zu bekämpfen. Der Grossteil der Leute, die zu bedingten Strafen verurteilt werden, wird nicht rückfällig. Auch eine bedingte Geldstrafe kann abschrecken und der Täter ist dann auch vorbestraft. Ich begreife deshalb den Vorschlag nicht, dass Geldstrafen nur noch unbedingt, Freiheitsstrafen aber weiterhin bedingt ausgesprochen werden sollen. Mit der Geldstrafe können die Gerichte sauber zwischen Verschulden einerseits und Einkommen oder Vermögen andererseits unterscheiden. Zudem können die negativen Seiten einer Freiheitsstrafe eliminiert werden.
plädoyer: Sie sprechen damit an, dass Leute oft den Job verlieren und deshalb vor allem die Familie darunter leidet?
Wiprächtiger: Genau. Und während eines kurzen Freiheitsentzugs kann man nicht resozialisierend auf einen Täter einwirken. Ein solcher Aufenthalt in einem Gefängnis kostet nur. Übrigens kennen auch umliegende Länder die Geldstrafe, teilweise auch die bedingte. Da sind wir kein Sonderfall.
Stamm: Das sehe ich nicht so. Geldstrafen sind bei vielen Tätern schon nur deshalb wirkungslos, weil sie gar kein Geld haben.
Wiprächtiger: Gegen den, der sie nicht bezahlen kann, wird eine unbedingte Freiheitsstrafe ausgefällt. Deshalb kann auch mit der bedingten Geldstrafe die erwünschte Wirkung erzielt werden.
plädoyer: Luzi Stamm, Sie sagten, auf den Strassen hätten wir nicht eine Zunahme der Delikte, sondern der Kontrollen. Könnten mit mehr Kontrollen nicht auch Gewaltdelikte verhindert werden?
Stamm: Wenn die Polizei schneller durchgreifen würde, ginge die Gewalt sofort zurück. Das sehen Sie etwa bei den 1.-Mai-Demonstrationen oder bei Fussballspielen.
plädoyer: Ihre Partei fährt überall einen Sparkurs. Würde die SVP denn Gelder für mehr Kontrollen sprechen?
Stamm: Ja.Wenn die Polizei wirklich gegen Gewalt vorgeht. Dazu braucht es aber meist gar nicht mehr Geld, sondern mehr Durchgreifen. Wenn bei 1.-Mai-Demonstrationen und bei Fussballspielen zwar immer mehr Polizisten anwesend sind, die nur zuschauen, aber nicht eingreifen, bringt dies nichts. Wenn jemand gewalttätig wird und sofort in Untersuchungshaft genommen würde, bis er einem Schnellgericht vorgeführt werden kann, und anschliessend die Strafe sofort verbüssen müsste - das hätte gewaltige abschreckende Wirkung.
Wiprächtiger: Ich stimme Ihnen zu, dass die Sanktionen umso effektiver sind, je schneller sie zum Tragen kommen. Aber das geht nur mit mehr Geld und mehr Personal. Ich bin Schnellgerichten gegenüber skeptisch, weil ich bezweifle, dass damit rechtsstaatlichen Prinzipien Genüge getan werden kann. Wenn etwas abschreckt, dann ist es die Angst, erwischt zu werden. Deshalb muss man Strafverfolgung und Polizei verstärken.
plädoyer: Einige Politiker fordern die Ausweitung des Strafrahmens gegen oben. Wie stehen Sie dazu?
Stamm: Nehmen wir das Beispiel der «Münchner Schläger»: Ob solche Täter zu fünf oder acht Jahren Gefängnis verurteilt werden, ist viel weniger wichtig als die Forderung, dass man sofort durchgreift. Solche Täter sollten sofort in Haft gesetzt und möglichst rasch unbedingt bestraft werden.
Wiprächtiger: Schön, dass Sie hier nicht Maximalforderungen erheben wie andere Mitglieder Ihrer Partei. Ich denke auch, dass die Mindeststrafen nicht erhöht werden sollten. Bei den sogenannten Rasern zum Beispiel hat die Strafjustiz mit den Tatbeständen der eventualvorsätzlichen Tötung und der Gefährdung des Lebens die Möglichkeit für höhere Strafen geschaffen. Ich denke, die Schweizer Strafjustiz schöpft den ihr von der Strafgesetzgebung vorgegebenen Strafrahmen korrekt aus, wobei die Gerichte sich bei der Durchschnittskriminalität eher im mittleren bis unteren Rahmen bewegen. Dies ist deshalb richtig, weil bei der Bemessung der Strafe das Verschulden und das Verhältnismässigkeitsprinzip massgebend sind.
Stamm: Ich gehe mit Ihnen einig: Für die Raser reicht das Instrumentarium. Bei der Problematik «Strafrahmen» verweise ich auf die USA, wo oft unsinnig hohe Strafen für Bagatelldelikte vergeben werden. Das nützt nichts. Doch zurück zur Schweiz: Auch die Polizei sagt, dass bei Gewalt, Einbrüchen und ähnlichen Delikten nicht genügend durchgegriffen wird. Das muss anders werden. Die Täter müssen schneller verurteilt werden.
Wiprächtiger: Bei einem Gewaltdelikt spricht nichts dagegen, dass der Schläger in Untersuchungshaft gesetzt wird. Dass die Strafjustiz schnell handelt, unterstütze ich. Es ist aber eine Illusion zu glauben, dass alle Delinquenten schnell bestraft werden können. Unser Strafverfahren gewährt richtigerweise rechtsstaatliche Verfahrensgarantien und es gilt die Unschuldsvermutung.
plädoyer: Die Dauer des Verfahrens wird durch das Prozessrecht bestimmt. Die schweizerische Strafprozessordnung ist eben erst in Kraft getreten. Nun wollen Sie sie bereits revidieren?
Stamm: Ja. Das Strafprozessrecht sollte so revidiert werden, dass in Fällen von Gewalt im öffentlichen Raum, wenn Täter auf frischer Tat ertappt werden, rasche Verfahren zwingend erfolgen.
Wiprächtiger: Ich kann da nicht mehr mithalten. Was ist das für eine Gesetzgebung des Parlamentes, dem Sie angehören? Rechtssicherheit ist ein wichtiges Gut in einem Rechtsstaat. Solche Wankelmütigkeit kann man ja nicht mehr ernst nehmen. Es ist nicht haltbar, sich nur auf bestimmte Delikte zu fokussieren. Dann müsste man beispielsweise auch Wirtschafts- und Drogendelikte einbeziehen.
plädoyer: Luzi Stamm beruft sich mit seinen Forderungen auf die Bevölkerung. Spüren Sie als Bundesrichter eigentlich das Volk nicht mehr?
Wiprächtiger: Das ist ein Punkt, den ich sehr bedaure: Diese ganze Diskussion um das Strafrecht und dessen Sinn und Zweck wird praktisch ausschliesslich zwischen Medien und Politik geführt. Beide berufen sich dabei auf die Öffentlichkeit. Was heisst Öffentlichkeit und welche Meinung von wem ist massgebend? Ich verweise zum Beispiel auf Untersuchungen von Professor André Kuhn: Sie zeigen auf, dass die Bevölkerung eher milder bestrafen würde als die Richter.
Stamm: Aus der Bevölkerung erhalten wir Signale: Frauen fürchten sich davor, abends auszugehen, weil sich die Übergriffe häufen. Oder Väter gehen nicht mehr mit ihren Söhnen an Fussballspiele, weil sie sich vor Ausschreitungen fürchten. Die SVP reagiert auf solche Rückmeldungen. Ich finde diesen Einfluss der Bevölkerung sehr wichtig.
Wiprächtiger: Was die Bevölkerung angeht, bin ich überzeugt, dass mit Aufklärung viel zu erreichen ist und dass Politik und Justiz hierzu auch verpflichtet sind. Viel Angst erzeugt wird auch mit polemischen Diskussionen, bei denen Gefahren hochgespielt werden. Man muss aufzeigen, dass mit Straferhöhungen nicht das erhoffte Ziel erreicht wird. Die Schweizer Strafjustiz funktioniert gut. Die Kriminalität in unserem Land geht zurück und bewegt sich im internationalen Vergleich im unteren Bereich. Die Bürger dürfen beruhigt sein. Es besteht nicht der geringste Anlass für Revisionen.
Luzi Stamm, 59, lic. iur. / lic. oec., Rechtsanwalt, ist seit 1991 Nationalrat. Der Aargauer SVP-Mann ist Mitglied der Kommission fu?r Rechtsfragen und der Aussenpolitischen Kommission. Der fru?here Präsident des Bezirksgerichts Baden arbeitet heute als selbständiger Rechtsanwalt.
Hans Wiprächtiger, 68, Dr. iur. h.c., Rechts anwalt, wurde am 13. Dezember 1989 auf Vorschlag der SP zum Bundesrichter gewählt. Er ist Richter an der Strafrechtlichen Abteilung. Zuvor war er Richter am Amtsgericht Luzern-Stadt und am Obergericht des Kantons Luzern.