Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen der höchsten Anteile an Zwangseinweisungen in psychiatrische Kliniken. Jeder vierte Psychiatriepatient wird in der Schweiz gegen seinen Willen eingewiesen (plädoyer 2/2015). Das schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan kam allein im Jahr 2014 auf etwa 11 000 Fälle. Das Gesetz spricht von «fürsorgerischer Unterbringung». Sie ist in den Artikeln 426–439 des Zivilgesetzbuches geregelt.
Auch Urteilsfähige werden in der Schweiz gegen ihren Willen in Kliniken eingewiesen. Ein in der Zeitschrift «Swiss Medical Forum» publizierter Artikel des HSG-Juristen Daniel Hürlimann und des Mediziners Manuel Trachsel vom Institut für biomedizinische Ethik und Medizingeschichte an der Uni Zürich stellt diese Praxis in Frage. Fazit des Artikels: Die fürsorgerische Unterbringung von urteilsfähigen Menschen ist nicht zulässig.
In der juristischen Lehre wird genau die gegenteilige Meinung vertreten. Hürlimann sieht damit aber das in der Bundesverfassung und der europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Selbstbestimmungsrecht des Menschen verletzt.
Voraussetzung für die Hospitalisierung gegen den eigenen Willen ist laut Artikel 426 ZGB, dass die betreffende Person «an einer psychischen Störung» oder «an geistiger Behinderung leidet» oder «schwer verwahrlost ist». Eine psychische Störung oder eine geistige Behinderung kann die Urteilsfähigkeit beeinflussen. Das gilt aber laut Trachsel und Hürlimann nicht im gleichen Mass für die schwere Verwahrlosung. Sie könne unterschiedlich definiert werden. Hürlimann und Trachsel schreiben: «Es existiert kein Konsens über eine einheitliche Definition.» Die Verwahrlosung gehöre im Unterschied zur psychischen Störung und der geistigen Behinderung nicht zur medizinischen Terminologie im engeren Sinn.
“Paternalistisches Verständnis von Würde”
Das Bundesgericht versteht unter «schwerer Verwahrlosung» einen «Zustand der Verkommenheit, welcher mit der Menschenwürde nicht mehr vereinbar ist» (BGE 128 III 14). Margot Michel, Professorin an der Uni Zürich, findet den Verweis auf die Menschenwürde bemerkenswert, um einen Eingriff gegen den Willen der betroffenen Person zu rechtfertigen: «Die Menschenwürde scheint sich hier gegen ihren Träger zu richten», kommentierte sie die höchstrichterliche Praxis in ihrer Antrittsvorlesung. Und sie fragt rhetorisch: «Hat der Schutz der Menschenwürde nicht zentral mit der Respektierung des Willens einer Person zu tun?» Das Bundesgericht scheine hier die Menschenwürde aber weiter zu fassen. Es erachte sie auch dann als verletzt, wenn die betroffene Person unter Umständen lebe, die objektiv erniedrigend seien.
Laut Michel geht es den Richtern also um eine Form der Würde, die ihren Träger selbst verpflichtet: Wer Würde habe, dürfe sich selbst nicht erniedrigen, er dürfe seine eigene Würde nicht verletzen. Michel kritisiert ein solches Konzept: «Das paternalistische Verständnis der Menschenwürde läuft Gefahr, diese von einem schützenden Prinzip gegen Angriffe von aussen zu einem eingreifenden Prinzip gegen Selbstschädigungen zu verwandeln und damit letztlich ein bestimmtes Menschenbild zu schützen – statt es gerade offen zu lassen.»
Für Hürlimann und Trachsel ist klar, dass die Verwahrlosung ein relevantes Problem in der klinischen Praxis darstellt. Denn meistens habe sie medizinische Ursachen, die selbst wiederum zu negativen gesundheitlichen Folgen führten.
«Eine besondere Herausforderung liegt oft darin, dass verwahrloste Personen keine Hilfe annehmen wollen.» Damit werde ein fundamentales Ziel der Medizin herausgefordert: fürsorglich für das Wohlergehen des Patienten zu handeln. Einem Patienten zuzugestehen, seine fundamentalen Grundbedürfnisse zu vernachlässigen und zu verwahrlosen, ohne als Gesundheitsfachperson einzuschreiten, könne einer Missachtung der ethischen Pflicht zur Fürsorge gleichkommen, schreiben die beiden Autoren.
Deshalb sei es für die Frage, «welches der beiden Prinzipien im konkreten Fall vorgehen soll», zentral, «ob ein Patient hinsichtlich einer Entscheidung über eine Klinikeinweisung urteilsfähig oder urteilsunfähig ist», so Hürlimann und Trachsel.
Die beiden Autoren halten dazu fest: «Urteilsunfähigkeit kann einer Person immer nur in Bezug auf eine bestimmte Entscheidung und für einen definierten Zeitpunkt zugeschrieben werden. Es gibt keine Abstufungen. Eine Person ist in Bezug auf die vorliegende Entscheidung entweder urteilsfähig oder nicht urteilsfähig.» Es gebe sicher Situationen, in denen es möglich sein müsse, eine schwer verwahrloste Person gegen ihren Willen fürsorgerisch unterzubringen. «Dabei handelt es sich unseres Erachtens aber immer um Fälle, in denen die Personen hinsichtlich ihrer Unterbringung nicht urteilsfähig sind.» Die fürsorgerische Unterbringung von Urteilsfähigen hingegen erachten sie entgegen der im juristischen Schrifttum vertretenen Auffassung immer als unzulässig.
Staatliche Schutzpflicht bei schwerster Verwahrlosung
Die Luzerner Rechtsprofessorin Regina Aebi-Müller widerspricht dieser These. «Die schwerste Verwahrlosung, die zu einem Zustand eines Betroffenen führt, der mit der Menschenwürde nicht mehr vereinbar ist, begründet schon für sich genommen eine Schutzpflicht des Staates.» Es möge zutreffen, dass solche Zustände in aller Regel nur eintreten würden, wenn der Betroffene urteilsunfähig sei. Allerdings könne der Nachweis der Urteilsunfähigkeit im Einzelfall sehr schwierig sein. «Wenn zwingend Urteilsunfähigkeit verlangt wird, um jemanden einzuweisen, befürchte ich, dass vom Zustand des Betroffenen direkt auf dessen Urteilsunfähigkeit geschlossen wird.» Habe man auf diese Weise schon einmal die Urteilsunfähigkeit festgestellt, werde darauf auch im Zusammenhang mit der Behandlung ohne Zustimmung abgestellt. «Im Ergebnis ist das für den Betroffenen also noch einschneidender», so die Professorin.