Die Schweizer Strafprozessordnung (StPO) enthält in einer einzigen Verfahrensordnung eigentlich zwei Verfahrenstypen: Das ordentliche Verfahren, das sehr stark auf Effizienz orientiert ist, formal in den Händen der Staatsanwaltschaft ruht, real aber von der Polizei durchgeführt wird. Im überwiegenden Teil der Fälle ermittelt die Polizei selbständig. Diese übergibt dann den Fall pfannenfertig der Staatsanwaltschaft zur Einstellung oder zum Abzeichnen und zum Erlass eines Strafbefehls. In einem zahlenmässig sehr kleinen Teil der Fälle wird mit der Anklage das Gericht befasst, das in einer regulären Hauptverhandlung das Urteil fällt.
Auch dieses gerichtliche Verfahren ist aber noch stark auf Zeitersparnis und Effizienz getrimmt: Beweiserhebungen sollen möglichst bereits im Vorverfahren erfolgen, strukturell sind Zeugeneinvernahmen im Hauptverfahren die Ausnahme. Neuerdings ist es auch möglich, den Prozess durch ein formalisiertes, abgekürztes Verfahren zusätzlich zu vereinfachen, sodass die Hauptverhandlung auf wenig mehr als eine öffentliche Urteilseröffnung reduziert wird.
Daneben gibt es für seltene Ausnahmefälle eine härtere Gangart. Bei Verdacht auf organisiertes Verbrechen, auf Terrorismus und auf besonders schwere Formen der Wirtschaftskriminalität wird auf geheime Zwangsmassnahmen - insbesondere Telefonkontrolle, technische Überwachung, Observation oder verdeckte Ermittlung - zurückgegriffen. Zur Begründung dieser zweiten Verfahrensform für besondere Formen der Makrodelinquenz wird auf die Abschottung gefährlicher Verbrecherorganisationen hingewiesen, die anders nicht zu durchdringen seien.
Gewaltmonopol in der Schweiz bleibt gewahrt
Ich teile die Auffassung jener nicht, welche die Existenz von organisiertem Verbrechen in der Schweiz rundweg in Abrede stellen. Die Erscheinungsformen weichen allerdings von den Orten der Basiskriminalität ab. Es ist schwer zu leugnen, dass es anderswo (man denke an Süditalien, Russland oder gewisse Orte in Ostasien) Formen von organisierter Kriminalität gibt, die in der Lage sind, das staatliche Gewaltmonopol in Frage zu stellen und sich als «Staat im Staat» aufzuführen. In einer globalisierten Wirtschaft wäre es naiv zu glauben, dass diese Erscheinungsformen nicht, genauso wie die legale Wirtschaft, die Schweizer Dienstleistungen wie etwa den Finanzplatz beanspruchen oder hier Immobilien erwerben könnten. Kurz: Organisiertes Verbrechen und Terrorismus sind zwar keine zentralen Sorgen, aber sie sind ernst zu nehmende Themen - auch für die Schweiz. Das muss sich sowohl im materiellen Recht als auch im Verfahrensrecht niederschlagen.
Zu weit gefasste Gesetze und ausufernde Praxis
Von daher gesehen ist an der Existenz geheimer Zwangsmassnahmen nichts auszusetzen. Die Art, wie sie umschrieben und wie sie angewandt werden, ist allerdings problematisch. Sowohl die Telefonkontrolle wie die technische Überwachung (vgl. Artikel 269 Absatz 2 StPO) stellen auf Deliktskataloge ab, die so weit gefasst sind, dass sie deutlich in die Alltagskriminalität hinein greifen. Ein Ausufern ist deshalb geradezu Programm. Man hat sich grosse Mühe gegeben, (fast) sämtliche Vermögensdelikte in den Katalog aufzunehmen. Mit einer leichten Einschränkung gilt Ähnliches auch für die verdeckte Ermittlung (vgl. Artikel 286 Absatz 2 StPO). Dahinter steht die meist nur unter vorgehaltener Hand geäusserte Erkenntnis, nur so sei wirksame Polizeiarbeit denkbar (Eugen Thomann, Verdeckte Fahndung aus der Sicht der Polizei, ZStrR 111/1993, 285 ff.).
Was, wie die verdeckte Ermittlung, als Notmassnahme angesichts der Undurchdringlichkeit der Mauer des Schweigens - der Omertà - gedacht war, wird zum Alltagsinstrument. Damit wächst auch das Risiko, dass der Staat den Bürger aufs Glatteis führt, um ihm daraufhin deliktische Tätigkeit vorzuwerfen. Schliesslich vergisst man allzu leicht, dass gerade die verdeckte Ermittlung eigentlich eine Form des heimlichen Verhörs ohne Aufklärung über die Verteidigungsrechte darstellt.
Man wird einwenden, dass bei geheimen Zwangsmassnahmen das Zwangsmassnahmengericht meist mitzureden hat, sei es als Anordnungs- oder aber als Genehmigungsinstanz. Eine Ausnahme bildet die Observation. Gerade auch beim eigentlichen Anwendungsfeld der Telefonkontrolle oder der verdeckten Ermittlung, dem organisierten Verbrechen und dem Terrorismus, läuft die richterliche Kontrolle jedoch vielfach ins Leere. Der Grund dafür ist, dass die Kriterien der Beurteilung, insbesondere der dringende oder hinreichende Tatverdacht, auf unpräzise materiellrechtliche Kategorien rückverweisen: auf die Tatbestände von Artikel 260ter respektive 260quinquies des Strafgesetzbuches (StGB).
Gesamthaft gesehen sind die geheimdienstartigen Instrumente nur sehr beschränkt geeignet, wirklich gefährliche Organisationen zu infiltrieren. Tötung oder Raub als «Keuschheitsprobe» kommen natürlich nicht in Frage; das sollten wir spätestens seit dem BND-Fall wissen. Zur Fahndung nach Drogenhändlern, Geldwäschern usw. gibt es auch andere Methoden als die verdeckte Ermittlung. Das lehrt uns der Fall Ramos. Und gegen gewöhnliche Betrüger sollten wir mit dem traditionellen strafprozessualen Arsenal hinkommen.
Ein neuer Tatbestand der «kriminellen Vereinigung»
Entsprechend problematisch sind die derzeitigen Bemühungen, gegen Tierschützer oder Rocker mit einem neu zu schaffenden subsidiären Organisationsdelikt vorzugehen, nachdem es nicht gelungen ist, die Sachbeschädigung oder die Erpressung und Zuhälterei auf konkrete Fällen anzuwenden. Wir reagieren allzu schnell auf rechtsstaatlich begründete Schranken, die von der Justiz gesetzt werden, mit dem Missbrauch von Instrumenten, welche für Extremfälle vorgesehen wurden, oder schlicht mit dem Ruf nach dem Gesetzgeber.