Fast könnte man ihn übersehen, den Passus über die Veröffentlichung der Entscheide im Strafverfahren. Doch der Bundesrat liess in seiner Botschaft zur Strafprozessordnung (StPO) keinen Zweifel offen: Urteile und Entscheide, die im schriftlichen Verfahren ergehen, müssen öffentlich zugänglich sein. Für die Einsichtnahme ist kein Interessennachweis erforderlich.
Ein Horrorszenario, befand zunächst eine Minderheit des Ständerates in der Debatte. So könne ja «jedermann zur Gerichtskanzlei gehen und in die ergangenen Urteile und Strafbefehle Einsicht nehmen». Doch die Mehrheit des Parlaments hat sich schliesslich dem Bundesrat angeschlossen.
Damit ist nach Artikel 69 StPO nicht nur die mündliche Eröffnung von Urteilen der ersten und zweiten Instanz öffentlich. «Interessierte Personen» - damit also alle - können auch Einsicht in schriftliche Urteile nehmen, wenn die Parteien auf eine öffentliche Urteilsverkündung verzichteten. Gleiches gilt für das Strafbefehlsverfahren. Hier ist diese Transparenzvorschrift zentral, wird doch die überwiegende Zahl der Straffälle auf diesem Weg und damit ohne öffentliche Hauptverhandlung entschieden (plädoyer 1/11).
In der Zivilprozessordnung (ZPO) sieht Artikel 54 Absatz 1 vor, dass Verhandlungen und eine allfällige mündliche Eröffnung des Urteils öffentlich sind. Die Entscheide müssen zudem der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die ZPO geht dem Wortlaut nach weiter als die StPO.
Lukas Huber, stellvertretender Generalsekretär des Zürcher Obergerichts, bestätigt dies: «Artikel 69 StPO führt für sich allein nicht zu einer Pflicht, die Entscheide, die mündlich eröffnet wurden, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies im Gegensatz zu Artikel 54 ZPO - mitunter ein Ausdruck davon, dass die beiden Prozessgesetze nicht aus einem Guss sind.»
Die Art des Zugänglichmachens schreibt die ZPO nicht vor. So ist eine Veröffentlichung im Internet denkbar. Dem Grundsatz der Transparenz ist mit der Möglichkeit der Einsichtnahme in der Gerichtskanzlei ebenfalls Genüge getan. Das Öffentlichkeitsprinzip gilt auch bei ganz oder teilweise schriftlich durchgeführten Verfahren. Auch hier ist kein Interessennachweis notwendig.
«Blosse Neugier» genügt in Basel nicht
Wie gehen die Kantone mit den Vorgaben der neuen Prozessgesetze um? Fünf Beispiele zeigen: Transparenz hat noch nicht überall Einzug gehalten. Das beginnt schon beim Interessennachweis, der in manchen Kantonen nach wie vor verlangt wird.
Zum Beispiel im Kanton Luzern. Solange ein Dispositiv in der Kanzlei aufliegt, kann noch jede Person Einsicht nehmen. Bei begründeten Urteilen, die anonymisiert gegen Gebühr abgegeben werden, ist die Hürde aber nach wie vor höher. Bislang haben fast nur Anwälte solche Urteile verlangt, so Mascha Santschi Kallay, Sprecherin des Gerichtswesens. «Wir würden die Urteile aber auch anderen Personen herausgeben, sofern sie ein schutzwürdiges Interesse nachweisen können und kein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse privater Dritter oder der Öffentlichkeit besteht.»
Die Staatsanwaltschaft wiederum hat noch nicht entschieden, wie sie «die Frage nach der Definition der interessierten Personen» regeln will, sagt Sprecher Simon Kopp. Allerdings habe der Kanton Luzern bisher kaum Erfahrungen mit der Öffentlichkeit von Strafbefehlen gemacht.
Der Kanton Aargau wartet in dieser Frage ab: «Wir werden vorerst im Einzelfall entscheiden, nachdem bis heute keine Nachfrage besteht», so der Leitende Oberstaatsanwalt Philipp Umbricht. Bei gerichtlichen Entscheiden ist jede Person zur Einsicht berechtigt - wie in Luzern aber nur, solange sie im Dispositiv aufliegen. Ein Interessennachweis sei nicht erforderlich, sagt Antonio Carbonara, Sprecher von Justizverwaltung und Obergericht. Bei begründeten Urteilen ist die Regelung ebenfalls mit der Luzerner Lösung vergleichbar.
Auch bei den Gerichten im Kanton Basel-Stadt ist die Botschaft der Transparenz nur teilweise angekommen. Mündlich eröffnete Urteile zum Beispiel sind nachträglich nur einsehbar, wenn «ein schutzwürdiges Interesse geltend gemacht» wird, so Stephan Wullschleger, Präsident des Appellationsgerichts. «Blosse Neugier genügt nicht.» Seine Begründung: «Bei mündlich eröffneten Urteilen wurde dem Öffentlichkeitsgrundsatz bereits Rechnung getragen.» Die Staatsanwaltschaft hingegen lässt jede Person zu. «Nach Voranmeldung können interessierte Personen jeden Freitag von 9 bis 11 Uhr bei der Staatsanwaltschaft die Strafbefehle der vergangenen dreissig Tage in Papierform einsehen», sagt Peter Gill, Kriminalkommissär bei der Staatsanwaltschaft. Diese Einsicht erfolgt unter Aufsicht und ohne Suchhilfen. Fotografieren oder Kopieren ist verboten. Es werden keine Kosten erhoben.»
Manche Gerichtsentscheide veröffentlicht, andere nicht
Ein Flickenteppich ist auch die Praxis der Veröffentlichung von Gerichtsentscheiden. Vorbildlich setzt das Zürcher Obergericht die StPO und die ZPO um. Es beschloss, die Entscheide seiner Kammern im Internet zu veröffentlichen. «Die Publikation unserer Entscheide im Internet stützt sich auf Artikel 78 Absatz 2 der Zürcher Kantonsverfassung und auf Artikel 54 Absatz 1 ZPO ab», sagt Lukas Huber. Keinen Einfluss hat laut Huber diese Veröffentlichungspraxis auf die Blätter für Zürcherische Rechtsprechung (ZR). Dort werden nach wie vor nur ausgewählte Entscheide publiziert.
Im Kanton Aargau sind im Internet nur die publizierten Gerichts- und Verwaltungsentscheide im Internet einsehbar. Der Präsident der Kammer bestimmt, welche Entscheide im Internet veröffentlicht werden. Das ist unbefriedigend. «Von einer einheitlichen kantonalen Praxis bei der Veröffentlichung von Urteilen kann nicht gesprochen werden», räumt Antonio Carbonara ein. Ob die Selektion bleibt, ist unklar. «Mit einem Informationskonzept soll eine Vereinheitlichung angestrebt werden», sagt Carbonara.
Sämtliche Aargauer Endentscheide, die nicht öffentlich verkündet wurden, sind im Dispositiv während vier Wochen ab Rechtskraft auf der Gerichtskanzlei einsehbar. Erfordert es das schutzwürdige Interesse einer Person, werden Passagen gekürzt oder anonymisiert. Auf schriftliches Gesuch können Urteile auch nach Ablauf dieser Frist noch eingesehen werden.
Sogenannte Routinefälle kommen nicht ins Internet
Auch der Kanton Luzern publiziert einen Teil seiner Entscheide im Internet. Veröffentlicht werden die Sammlung der Luzerner Gerichts- und Verwaltungsentscheide (LGVE) sowie weitere ausgewählte Entscheide. Ins Netz kämen, so Santschi Kallay, «tatsächlich und rechtlich interessante Entscheide, nicht aber Routinefälle». Ein weitergehendes Veröffentlichungskonzept in diesem Bereich «ist nicht geplant». Nur für akkreditierte Journalisten gibt es zusätzliche Informationen. Sie erhalten mit einem Passwort Zugang zu Urteilen.
Im Kanton Basel-Stadt bleibt die Veröffentlichung von Urteilen im Internet Wunschdenken. Die personellen Ressourcen fehlen, um die Entscheide zu anonymisieren und die Website zu betreuen (plädoyer 4/10). «Wichtige Urteile werden an die juristische Datenbank Swisslex weitergeleitetund einzelne Straf- und Zivilurteile in den Basler juristischen Mitteilungen oder anderen Fachzeitschriften veröffentlicht», sagt Gerichtspräsident Wullschleger.
Die erstinstanzlichen Gerichte in Basel eröffnen die Urteile nach wie vor in der Regel mündlich. Die wenigen schriftlich begründeten Urteile können auf den Kanzleien auf Anfrage eingesehen werden, gleich hält es das Appellationsgericht mit seinen schriftlich eröffneten Urteilen.
Im Kanton Uri werden die Urteile des Obergerichts im Volltext und nicht anonymisiert während zehn Tagen in der Gerichtskanzlei aufgelegt.
Das Schweizerische Bundesgericht publiziert seit 2007 alle Entscheide anonymisiert und kostenlos auf seiner Internetseite. «Die Urteile werden nach Ablauf der Sperrfrist von sieben Tagen seit dem Versand an die Parteien publiziert, in medienwirksamen Fällen nach drei Tagen», sagt Sabina Motta, Adjunktin des Generalsekretärs und Medienbeauftragte des Schweizerischen Bundesgerichts. Zudem legt das höchste Schweizer Gericht die Urteile in Papierform öffentlich zur Einsichtnahme auf.
Ältere Entscheide können bei der Bundesgerichtskanzlei gegen eine Gebühr von zwanzig Franken zuzüglich Portokosten bestellt werden.
Öffentlichkeit hat Anrecht auf die Entscheide
All diese Ansätze zeigen: Die Scheu von Justiz- und Strafverfolgungsbehörden vor der Öffentlichkeit ist noch nicht überwunden. Dem Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf Einsicht in die Entscheide der Justiz, die schliesslich in ihrem Namen Recht spricht, ist damit in keinem Kanton Genüge getan. Manche Kantone wenden ein - besonders bei der Einsicht in Strafbefehle -, die Öffentlichkeit sei gar nicht interessiert. Das mag stimmen - solange sie von ihrem Recht nichts weiss. So kam im Kanton Basel-Stadt noch niemand, um sich einen Strafbefehl anzuschauen. «Das kann sich aber durchaus ändern, sobald die Einsichtsmöglichkeit bekannter geworden ist», vermutet Kriminalkommissär Gill. Die Kantone täten gut daran, sich an den fortschrittlichen Beispielen zu orientieren: Publikation der Entscheide im Internet, Auflage in Papierform im Gerichtsgebäude, Belieferung der Medien, Zusammenarbeit mit Fachzeitschriften. Ganz fortschrittlich wäre es, wenn diese Angebote für die interessierte Öffentlichkeit kostenlos wären.