plädoyer: Psychiatrische Gutachten können darüber entscheiden, ob jemand lebenslänglich ins Gefängnis muss. Trotzdem ist die Begutachtung intransparent. Niemand weiss, was zwischen Proband und Psychiater gesprochen, welche Fragen gestellt oder nicht gestellt wurden. Genügt ein solches Verfahren rechtsstaatlichen Grundsätzen?
Stephan Bernard: Das weiss ich nicht, weil die Begutachtung nicht transparent gemacht wird. Allerdings weiss ich, dass eine Psychiaterin oder ein Psychiater anders fragt: Er kann als Teil seiner Methodik in einer Art fragen, die wir Juristen als suggestiv bewerten. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Befragungstechnik stets den strafprozessualen Standards genügt.
Erich Kuhn: Müssen wir den Psychiatern vorschreiben, dass sie diese Befragung durchführen müssen wie die Strafverfolger? Das ist doch genau der Unterschied! Die reden anders, die haben eine andere Sichtweise, das ist eine andere Disziplin. Der Jurist zieht einen Experten bei, damit dieser ihm mit dem Fachwissen seiner Disziplin weiterhelfen kann.
Bernard: Aber im Rahmen eines Strafverfahrens muss die Befragung strafprozessual korrekt sein. Wir sind uns sicher einig, dass der Psychiater nicht die Daumenschrauben ansetzen oder mit Folter drohen darf, wenn das jetzt seiner Methodik entspräche.
Kuhn: Das ist so.
plädoyer: Ein Beschuldigter kann in den wesentlichen Verfahrensschritten die Anwesenheit seines Anwaltes verlangen. Neuerdings schon bei der Befragung durch die Polizei. Warum nicht bei psychiatrischen Gutachten?
Bernard: Oft wird argumentiert, nur das Gutachten selbst sei ein Beweismittel - und dessen Erarbeitung damit keine Beweisaufnahme, sondern eine Erhebung. Formell stimmt das, materiell nicht: Faktisch ist die «Erhebung» eine Form der Einvernahme. Für mich ist klar - auch aufgrund der Menschenrechtskonvention und der Bundesverfassung -, dass ein Recht auf die Anwesenheit des Verteidigers besteht. Heute muss der Explorand auf sein Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht werden. Ich habe noch nie ein juristisches Argument gegen die Partei-öffentlichkeit gehört, das sticht.
Kuhn: Es ist nun mal so: Einvernahmen werden ausschliesslich durch die Strafbehörden durchgeführt. Und nur bei Einvernahmen gelten die vollen Parteirechte. Eine psychiatrische Begutachtung ist eine ergänzende Erhebung. Sie ist nicht freiwillig und in der Strafprozessordnung auch unter den Zwangsmassnahmen eingeordnet. Mit dieser gesetzlichen Grundlage sind Einschränkungen der verfassungsmässigen Rechte möglich.
Bernard: Das ist der springende Punkt: Die psychiatrische Begutachtung ist ein erheblicher Eingriff in die persönliche Freiheit.
Kuhn: Prozessual ist der Schutz des Klienten genügend. Der Psychiater arbeitet auch mit Akten, er führt nicht nur das Explorationsgespräch. Es ist also nicht so gravierend, wenn der Parteivertreter beim Gespräch nicht dabei ist. Zudem ist im Strafprozess nicht die Verteidigung Partei, sondern die beschuldigte Person. Die Verteidigung ist «nur» ihr Beistand. Macht die beschuldigte Person entgegen dem Rat des Verteidigers eine Aussage, ist diese halt gleichwohl verwertbar. Das passiert fast jeden Tag.
plädoyer: Angeschuldigte haben Anrecht auf einen juristischen Beistand, damit sie der Gegenpartei - also dem Staat, vertreten durch den Staatsanwalt - nicht schutzlos ausgeliefert sind. Weshalb soll dies nicht auch während eines Gutachtens gelten, das der Staatsanwalt in Auftrag gab?
Kuhn: Mit der Forderung nach einem Anwesenheitsrecht will die Verteidigung das Verfahren erschweren. Das gehört auch zur Aufgabe der Verteidigung - wie man das beispielsweise im Wirtschaftsstrafrecht sieht. Hier ist es häufig das Ziel des Anwaltes, eine so grosse Verwirrung anzurichten, dass am Schluss der Richter nicht mehr weiss, worum es geht.
Bernard: Im Einzelfall kann ein Verteidiger das Verfahren aus taktischen Gründen erschweren. Dies ist aber nicht seine primäre Aufgabe. Der Verteidiger ist der einzige Beistand eines Einzelnen, der in den Machtapparat der Strafjustiz und deren Hilfspersonen gerät.
plädoyer: Psychiatrische Gutachten entstehen weitgehend in einer prozessualen Dunkelkammer. Wie soll so Qualität gewährleistet sein?
Kuhn: Durch kompetente Psychiater mit Erfahrung. Und über die Standards der Schweizerischen Gesellschaft für forensische Psychiatrie, insbesondere zur Formulierung von psychiatrischen Gutachten. Wir haben qualitätsmässig in den vergangenen zwanzig Jahren riesige Fortschritte erzielt.
Bernard: Ich bestreite diese Qualitätssteigerung nicht. Aber das entbindet nicht davon, die Arbeit der Psychiater zu überprüfen. Auch sie sind Menschen und machen Fehler. In der entscheidenden Phase wird das zentrale Beweismittel aber in einer Blackbox produziert. Ich erlebe immer wieder, dass mir Klienten versichern, eine bestimmte Aussage im Explorationsgespräch gar nie gemacht zu haben. Man kann sich vorstellen, wem das Gericht glaubt: Dem Herrn Doktor oder dem Klienten. Diesem unterstellt man schnell einmal eine verschobene Wahrnehmung. Solange die Gutachten nicht durch eine Second Opinion überprüfbar sind, weil niemand bei der Genese dabei war und nichts protokolliert wurde, haben die Psychiater eine Machtfülle, die sonst in der Justiz niemand hat.
Kuhn: Hier wird zu schwarz gemalt. Vergessen geht, dass man jedes psychiatrische Gutachten in Frage stellen und ein Ober- oder Zweitgutachten verlangen kann, Liegen zwei Schlussfolgerungen vor, ist es Sache des Richters, in freier Beweiswürdigung zu beurteilen, welche ihn mehr überzeugt. Und: So grosse Unterschiede gibt es bei den Gutachten nicht.
plädoyer: Was spricht gegen eine Protokollierung der Befragung von Beschuldigten durch einen Psychiater? Was gegen eine Bild- oder Tonaufnahmepflicht?
Kuhn: Mit einer solchen Pflicht hätten wir ein Problem mit dem Persönlichkeitsschutz des Exploranden. Dieser erzählt dem Psychiater viel und aus dem Innersten heraus. Wollen wir auch die körperlichen Untersuchungen anschauen? Ich finde das peinlich.
Bernard: Es ist für den Beschuldigten auch peinlich, vom Staatsanwalt einvernommen zu werden. Zudem könnte der Explorand ja auf seinen Anspruch verzichten, dass das Gespräch aufgezeichnet wird. Ein sachliches Argument gegen eine Protokollierung oder eine Aufnahme gibt es nicht. Vielmehr will die Lobby der Ärzte einfach keine Kontrollen. Und die Justiz ist ihnen gegenüber extrem autoritätsgläubig. Ich bin erstaunt, dass ausgerechnet hier mit dem Persönlichkeitsschutz argumentiert wird - wo er doch im Strafverfahren grundsätzlich durch die Strafprozessordnung eingeschränkt wird.
plädoyer: Liesse die heutige gesetzliche Regelung in der Strafprozessordnung mehr Transparenz bei der Begutachtung zu?
Kuhn: Mit einer Protokollierungspflicht würde die Erstellung eines Gutachtens zur Einvernahme, womit das Gespräch bei der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden müsste. Eine Videoaufnahme aber könnte in den Auftrag an den Gutachter aufgenommen werden.
Bernard: Es steht nirgends im Gesetz, dass der Psychiater und der Explorand hinter verschlossenen Türen miteinander reden müssen. Die Videoaufnahme könnte zum Standard erklärt werden. Ich sehe zwar nicht ein, weshalb nicht die vollen Parteirechte gewährt werden. Aber immerhin wäre mit einer Videoaufnahme die Genese des Gutachtens nachvollziehbar. Nicht nur für Verteidiger, sondern auch für Richter und Staatsanwälte.
plädoyer: Die Gerichte folgen in der Regel den Empfehlungen der Experten. So wird ein Psychiater faktisch zum Einzelrichter in Sachen Zurechnungsfähigkeit, Gemeingefährlichkeit und Therapierbarkeit.
Kuhn: Das sollte nicht der Fall sein. Ein Gutachten wird wie jedes andere Beweismittel durch den Richter frei gewürdigt.
Bernard: Das stimmt nicht. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hat das Gericht von einem psychiatrischen Gutachten nicht ohne Not abzuweichen.
plädoyer: Anwälte erleben immer wieder, wie wichtig die Auswahl des Gutachters ist. In Strafverfahren werden Sachverständige durch den Staatsanwalt beauftragt. Reicht ein Beschuldigter ein Gutachten eines von ihm beauftragten Psychiaters ein, hat dies weit weniger Gewicht. Wo bleibt hier die Waffengleichheit?
Bernard: Das Bundesgericht schränkt die von Herrn Kuhn vielzitierte freie Beweiswürdigung freiwillig ein und bewertet Parteigutachten meist als blosse Parteibehauptungen. Das ist nicht fair: Wenn ein Psychiater vom Staatsanwalt beauftragt wird, ist er ein Wahrheitsguru. Wird der gleiche Gutachter von der beschuldigten Partei beigezogen, ist der genau gleiche Mann ein tendenziöser Scharlatan.
Kuhn: Privatgutachten erübrigen sich ohnehin wegen der Offizialmaxime, die heute bis vor Bundesgericht gilt. Die Forderung nach mehr Zweitgutachten ist nicht realistisch, verzögert das Verfahren und erleichtert dem Gericht die Arbeit nicht wesentlich. Können Sie im konkreten Fall aufzeigen, dass die vom Gutachten abweichende Aussage des Klienten entscheidende Konsequenzen auf die Schlussfolgerung hat, gibt es sicher Rückfragen oder ein Zweitgutachten.
Bernard: Aber Zweitgutachten werden in der Praxis meist nur in Auftrag gegeben, wenn ein Gutachten katastrophale, offenkundige Fehler und logische Widersprüche hat. Dabei wären mehr Zweitgutachten auch fürs Gericht von Vorteil: Es könnte zwei Meinungen aus einer fachfremden Disziplin beurteilen und damit das Beweismittel würdigen, anstatt es zum Urteil zu erheben.
plädoyer: Wäre die gleichwertige Behandlung von Gutachten der Staatsanwaltschaft und Gutachten der Verteidigung nach dem geltendem Strafprozess denn nicht gewollt?
Bernard: Doch - wenn man nur die freie richterliche Beweiswürdigung ernst nähme. Wir nähern uns im Strafprozess dem Zweiparteiensystem. Der Anwalt wahrt einseitig die Rechte des Beschuldigten, auch der Staatsanwalt ist heute immer mehr Partei.
Kuhn: Nein, eine gleichwertige Behandlung von Gutachten und Parteigutachten ist prozessual so nicht gewollt. Der Staatsanwalt ist nicht nur Partei, er ist auch strikt ans Gesetz gebunden. Die Verteidigung hingegen kann dies oder jenes im Namen ihres Klienten erzählen. Wir haben heute das Gegenteil eines reinen Zweiparteiensystems.
Erich Kuhn, 59, lic. iur, Rechtsanwalt, ist ausserordentlicher Staatsanwalt in Nidwalden und präsidiert die Arbeitsgruppe Forensische Medizin und Psychiatrie der Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz. Er leitete 1993 bis 2009 die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
Stephan Bernard, 36, lic. iur., Rechtsanwalt, LL.M. und Mediator SAV, ist Strafverteidiger in Zu?rich. Er ist Mitglied des Pikett Strafverteidigung sowie der Rechtsauskunft Anwaltskollektiv. Zuvor arbeitete er unter anderem als juristischer Sekretär am Bezirks- und Jugendgericht Zu?rich.