Es waren drastische Worte: Von nicht weniger als einem «Attentat auf die Meinungsfreiheit» sprach der Zürcher Rechtsanwalt Matthias Schwaibold in seinem Beitrag in der Fachzeitschrift Medialex von Anfang Mai. Anlass dazu gab ein Entscheid der Rechtskommission des Ständerates einige Tage zuvor: Sie sprach sich dafür aus, den Artikel 266 der Zivilprozessordnung (ZPO) abzuändern. Er betrifft vorsorgliche Massnahmen gegen Medien. Nach geltender Rechtslage muss ein «besonders schwerer Nachteil» drohen, damit ein Bericht provisorisch verboten werden kann. Neu soll ein lediglich «schwerer Nachteil» ausreichen. Das Vorhaben scheint mehrheitsfähig zu sein: Der Ständerat hat sich Mitte Juni mit 30 zu 12 Stimmen für die Änderung ausgesprochen. Die Vorlage liegt nun beim Nationalrat.
Die geplante Streichung des Worts «besonders» lässt die Wogen hochgehen. Nicht nur Matthias Schwaibold, der als Anwalt unter anderem das Medienunternehmen Ringier vertritt, läuft gegen das Ansinnen Sturm. Auch Journalisten und Verbände üben Kritik, die Organisation «Reporter ohne Grenzen» spricht von einer «gefährlichen Einschränkung der Pressefreiheit». Der Glarner FDP-Ständerat Thomas Hefti, der die Verschärfung in der Ständeratskommission beantragt hatte, will durch die Änderung die Waage zwischen dem öffentlichen Interesse an Berichterstattung und dem privaten Interesse von Betroffenen «wieder ins Gleichgewicht bringen». Aktuell seien von einer Medienberichterstattung negativ Betroffene benachteiligt.
Die Debatte um Artikel 266 ZPO ist allerdings nur die jüngste, besonders prominent diskutierte Episode eines Konflikts, der seit geraumer Zeit ausgetragen wird – zwischen Journalisten und Juristen. Die journalistische Seite spricht von zunehmendem Druck auf Medienschaffende durch klagefreudige Anwälte und aufgeblähte PR-Apparate. Ein Teil der Anwaltschaft wiederum sieht Persönlichkeitsrechte und journalistische Sorgfalt durch eine veränderte journalistische Arbeitsweise im Internetzeitalter zunehmend bedroht. Bei allen Meinungsverschiedenheiten herrscht in einer Frage Konsens: Es gibt ein Problem, das sich in den letzten Jahren akzentuiert hat.
Hundertseitige Klageschriften aus London
Simon Canonica war 20 Jahre Rechtskonsulent der Redaktionen bei Tamedia (heute TX Group), nach Umsatz das grösste Verlagshaus der Schweiz. Auch nach seiner Pensionierung vor fünf Jahren interessiert er sich für medienrechtliche Fälle. Er ist Redaktor bei der Zeitschrift Medialex und hat eine Veränderung im Verhältnis zwischen Juristen und Journalisten festgestellt: Kurz nach dem Aufkommen der Internetmedien Mitte der Nullerjahre habe noch «Wildwest» im Umgang mit Persönlichkeitsrechten geherrscht. Nun habe sich die «Gegenseite» formiert. «Wenn sich Gutbetuchte heute von einer Berichterstattung negativ betroffen fühlen, kommt anders als früher nicht einfach ein Schreiben oder superprovisorisches Gesuch aus einer Anwaltskanzlei», sagt Canonica. «Es wird zum Teil aus Grosskanzleien von London aus korrespondiert. Klageschriften weisen nicht selten über hundert Seiten auf.»
Immer wieder würden schon vor der Publikation von heiklen Artikeln «Nebelpetarden» abgefeuert: Umfangreiche Eingaben mit zahlreichen Bestreitungen und Vorwürfen. «Oder es wird zu so genannten Hintergrundgesprächen geladen, an denen Anwälte die betroffenen Journalisten mit Aktenbergen eindecken – die diese im Tagesgeschäft unmöglich rasch sichten können.» Das Ziel: Einschüchterung und oft auch Zeitgewinn. «Indem Anwälte die Sachlage verkomplizieren, soll der geplante Publikationszeitpunkt möglichst verschoben werden», so Canonica. «Geht diese Taktik auf, suchen die von der Berichterstattung Betroffenen häufig ein anderes Medium, in welchem sie dieselbe Geschichte aus ihrer Sicht erzählen – bevor der für sie nicht genehme Bericht erscheint.» Vor allem für kleinere Redaktionen und Verlage sei die juristische Drohkulisse ein Problem. Die Redaktionsbudgets seien weniger üppig ausgestattet als bei den Grossverlagen, der Druck damit grösser. «Im Zweifelsfall lässt man deshalb lieber Vorsicht walten und zensuriert sich selbst.»
Auch von den Führungsetagen der Grossverlage wird in heiklen Fällen gerne zur Zurückhaltung ermahnt: «Wenn man umfangreiche Klageschriften beantworten muss, fallen für die Verlagsjuristen schnell einmal mehr als hundert Stunden Arbeit an oder man muss einen Anwalt engagieren.» Rasch sind 50 000 bis 100 000 Franken Kosten für den Verlag aufgelaufen.Zumindest während seiner Zeit bei Tamedia seien die Prozesskosten jeweils den Redaktionsbudgets belastet worden, sagt Canonica.
Nimmt man nur die Anzahl der provisorischen Massnahmen zum Massstab, so ist kein erhöhter Druck auf Medienhäuser festzustellen. In der Stadt Zürich, dem grössten Medienstandort der Schweiz, wurden in den letzten Jahren am zuständigen Einzelgericht 2020 vier, 2019 fünf und 2018 sieben Verfahren geführt. Das sind ähnliche Zahlen wie in den Jahren 2011 (vier Verfahren) und 2012 (fünf Verfahren). Auch in der Bundeshauptstadt Bern stellt man am zuständigen Regionalgericht keine Zunahme an Begehren fest. Gemäss Matthias Seemann, Rechtskonsulent bei Tamedia, erliessen Gerichte in den letzten zwei Jahren acht vorsorgliche Publikationsverbote im Zusammenhang mit Tamedia-Titeln. «Nach unserer Erfahrung verbieten die Gerichte in 90 Prozent der vorsorglichen Anträge in einem ersten Schritt superprovisorisch die Publikation» – das heisst ohne Anhörung des Verlags.
«Die Hürden für provisorische Massnahmen sind sehr hoch», sagt hingegen die Zürcher Rechtsanwältin Rena Zulauf, die von Medienberichten betroffene Personen vertritt, unter anderem die ehemalige Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin. «Jede Behauptung muss belegt sein. Das bedeutet einen hohen Aufwand.»
Nicht alle Richter nehmen Wortlaut ernst
Ob die Streichung des Wortes «besonders» in Artikel 266 ZPO in der Praxis effektiv weitgehende Auswirkungen hätte, wird von verschiedener Seite bezweifelt. Rena Zulauf erachtet den Begriff als «nicht matchentscheidend». Um ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis herzustellen, wäre zum Beispiel eine Herabsetzung der Gerichtsgebühren für Kläger zielführender.
Simon Canonica sagt: «Ich kenne keinen Fall, in dem ein Gericht einen Antrag auf eine provisorische Massnahme wegen dem Wort ‹besonders› abgelehnt hat.» In der geplanten Änderung sieht er in erster Linie ein symbolisches Zeichen: «Es wird an die Justiz das Signal ausgesandt, bei der Bewilligung provisorischer Massnahmen grosszügiger zu sein.»
Gemäss Rainer Egli, seit 30 Jahren Richter am Bezirksgericht Zürich und am Einzelgericht lange für vorsorgliche Massnahmen gegen Medien zuständig, wird der einschlägige Gesetzesartikel je nach Richter unterschiedlich ausgelegt: «Es gibt Richter, die den eigentlich strengen Wortlaut der Bestimmung nicht besonders ernst nehmen. Nimmt man ihn ernst, ist die Hürde auch ohne das Wort ‹besonders› hoch.»
Simon Canonica moniert allerdings, dass sich das Medienverständnis der Richter in den letzten Jahren gewandelt habe: «Das öffentliche Interesse an Information und Berichterstattung wird tendenziell weniger hoch gewichtet als früher.» Medienanwalt Schwaibold sieht es ähnlich: «Die Güterabwägung fällt immer öfter zugunsten der Klägerperspektive aus», sagt er. «Der Freiraum für die Berichterstattung wird zusammengeschrumpft, eine persönliche Herabsetzung und damit eine Persönlichkeitsverletzung sehr schnell angenommen, ebenso die Möglichkeit der Identifizierbarkeit.»
Echtzeit-Journalismus und Spardruck auf Redaktionen
Rena Zulauf teilt die Meinung nicht, wonach Gerichte das öffentliche Interesse nach Information zu wenig gewichten und zuungunsten der Medien urteilen würden. «Das wird von Medienvertretern seit Jahrzehnten behauptet. Belege dafür oder gar eine Studie konnten sie nie vorlegen.»
Hingegen gebe es zunehmend rechtliche Probleme mit der medialen Berichterstattung. Die Ursachen dafür lägen vor allem in der Branche selbst: «Digitalisierung und Social Media erhöhten den Aktualitätsdruck auf die Medien.» Hinzu kämen Spardruck und fehlende Ressourcen. Es gebe immer weniger journalistisches Personal, das immer weniger Zeit habe, ein Thema sorgfältig zu recherchieren.
Andreas Meili kennt beide Seiten. Der Zürcher Rechtsanwalt vertritt sowohl Persönlichkeiten, die negativ von einer Berichterstattung betroffen waren, zum Beispiel den ehemaligen Aargauer Nationalrat Geri Müller (Grüne), als auch Medienunternehmen. Meili beobachtet seit einigen Jahren eine Verschärfung des Spannungsverhältnisses zwischen Juristen und Journalisten. Diese führt er wie Canonica auf die Professionalisierung von Medienanwälten und PR-Beratern zurück. Sie würden sich vermehrt im Vorfeld einer Artikelpublikation einmischen – was Meili durchaus für zielführend hält. «Eine Intervention vor Vorliegen eines Schadens kann für beide Seiten sinnvoll sein. Ein Medium hat schliesslich auch nichts davon, wenn es aufgrund einer unsauberen Recherche oder einer einseitigen Faktenlage in kostspielige Verfahren gerät.»
Auf der anderen Seite sieht Meili «eine veränderte Fallkonstellation» aufgrund der Herangehensweise im populär gewordenen Online- und Echtzeit-Journalismus. «Wenn aus Gerichtsverhandlungen live getickert wird, dafür aber eigentlich die Ressourcen und bei einigen Journalisten das Rüstzeug fehlt, kommt es nun mal zu verhängnisvollen oder gar justiziablen Fehlern», sagt er. Eine Rückbesinnung auf Tugenden wie Faktentreue, Wahrung der Unschuldsvermutung und der Anhörung von Betroffenen, die in klassischen Redaktionsstrukturen gelebt und gelehrt wurden, hält Meili für angezeigt.
“Bisheriges System gut austariert”
Die Pressefreiheit sieht Medienanwalt Meili nicht in Gefahr: «Früher wurden Journalisten auch in der Schweiz in Beugehaft genommen, wenn sie die Quelle nicht preisgaben. Heute gilt der Grundsatz der Justizöffentlichkeit und das Öffentlichkeitsprinzip.» Dass manche Gerichte mittlerweile private Interessen stark gewichten, hänge vor allem mit der grösseren Verbreitung einzelner Artikel im Internet und der Tatsache zusammen, dass einige Medien in den letzten Jahren zu weit in die Privatsphäre von Betroffenen vorgedrungen seien.
Im Zweifelsfall werde nach wie vor «in dubio pro media» entschieden, was auch richtig sei. Allgemein, so Meili, sei das System «gut austariert und vernünftig». Deshalb sei er gegen eine Änderung von Artikel 266 ZPO und eine Streichung des Wortes «besonders».