Eine fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) soll allein deshalb angeordnet werden können, um die Öffentlichkeit vor einer Person zu schützen. Und nicht mehr wie bisher, um hauptsächlich dem Beistands- und Fürsorgebedürfnis des Betroffenen gerecht zu werden. So steht es im Urteil 5A_607/2012 vom 5. September 2012 des Schweizerischen Bundesgerichts.
Mit diesem Entscheid hat das Bundesgericht die bisherige Praxis und den Zweck der FFE geändert. Bis anhin war die Fremdgefährdung nämlich kein eigenständiger Grund für eine FFE, sondern bloss ein Indiz für die Fürsorgebedürftigkeit. Eine geistes- oder suchtkranke beziehungsweise verwahrloste Person galt als fürsorgebedürftig im Sinne von Artikel 397a des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB), wenn sie in persönlichen Dingen nicht für sich selbst sorgen konnte.
Laut dem neuen Urteil des Bundesgerichts ergibt sich aus dem Fremdgefährdungspotenzial eines Geisteskranken fast zwangsläufig ein Beistands- und Fürsorgebedürfnis: «Wer die Sicherheit anderer bedroht, ist persönlich schutzbedürftig.» Damit wird der Anwendungsbereich der FFE auf Fälle reiner Fremdgefährdung und damit auf polizeiliche Interessen ausgedehnt.
Im konkreten Fall hatte ein Jugendlicher vor seinem 18. Altersjahr eine Frau vergewaltigt und getötet und wurde deshalb vom Jugendgericht zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Man brachte ihn in einer geschlossenen Anstalt unter und therapierte seine psychische Störung. Mit der Vollendung des 22. Lebensjahres wäre er entlassen worden, da jugendstrafrechtliche Sanktionen dann von Gesetzes wegen enden.
Die Jugendanwaltschaft und das Bezirksamt Lenzburg befürchteten jedoch, dass der Mann nicht in der Lage sei, sich ein normales Leben zu organisieren, und vor allem, dass bei ihm ein erhebliches Rückfallrisiko bestehe. Das kantonale Verwaltungsgericht Aargau liess den jungen Mann wegen der akuten Fremdgefährdung nicht frei und wies ihn im Rahmen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung in den Sicherheitstrakt der Jugendvollzugsanstalt Lenzburg ein, um die laufende Psychotherapie dort weiterzuführen. Das Bundesgericht bestätigte den Entscheid: «Bei hoher Fremdgefährdung» sei es nicht im Interesse des Jugendlichen, «ihn ohne psychiatrische Behandlung seinem Schicksal zu überlassen». Insoweit sei ein Fürsorgebedarf in Form der Behandlung der Geisteskrankheit gegeben.
Zur Begründung holte das Bundesgericht - in einer schon fast rechtshistorischen Recherchearbeit - den Berner Kommentar von 1984 aus den Archiven. Das entsprechende Zitat bezieht sich nicht auf Artikel 397a ZGB respektive die FFE, sondern auf Artikel 369 ZGB und damit auf die Entmündigung. Die Schutzbedürftigkeit bei der Entmündigung deckt sich vom Zweck her jedoch nicht mit dem einer FFE, da sich aus dem Gefährdungspotenzial eines Geisteskranken nicht fast zwangsläufig ein Fürsorgebedürfnis ergibt. Im Kommentar steht bloss in Klammern zum Artikel 369 ZGB: «... (zum Beispiel ist der Geisteskranke oder Geistesschwache, der die Sicherheit anderer gefährdet, meistens auch persönlich schutzbedürftig ...)». Weiter begründet das Bundesgericht seinen Entscheid mit der Botschaft des Bundesrates zum neuen Erwachsenenschutzrecht, das am 1. Januar 2013 in Kraft tritt - insbesondere mit dem neuen Artikel 426 ZGB, der die Voraussetzungen der fürsorgerischen Unterbringung (FU) umschreibt: «Diese Bestimmung kennt den Einweisungsgrund der Fremdgefährdung nicht. Dennoch darf der Schutz Dritter in die Beurteilung einbezogen werden, zumal es letztlich ebenfalls zum Schutzauftrag gehört, eine kranke beziehungsweise verwirrte Person davon abzuhalten, eine schwere Straftat zu begehen.»
Für die Auslegung des geltenden Rechts kann die Botschaft zu künftigem Recht aber bestenfalls im Rahmen der zeitgemässen Auslegung von Bedeutung sein. Das Bundesgericht hätte alle vier Auslegungsmethoden (grammatische, teleologische, systematische, historische) anwenden müssen. Dazu kommt, dass die FU laut Botschaft «dem Schutz der betroffenen Person, nicht der Umgebung» dient, das heisst der Schutz Dritter in die Beurteilung einbezogen werden dürfe, aber für sich allein nicht ausschlaggebend sei. Diese Passagen zitiert das Bundesgericht nicht und setzt sich auch nicht damit auseinander.
Die Zukunft wird zeigen, wie die Vormundschafts- und Erwachsenenschutzbehörden das Urteil in der Praxis anwenden und ob künftig einfach alle als gefährlich eingestuften, geisteskranken Personen auf unbestimmte Zeit via FFE - und damit ohne den gut ausgebauten Schutz des Strafverfahrens - in Gefängnissen hinter Schloss und Riegel gebracht werden. Wird dafür eine (verhältnismässige) Anlasstat vorausgesetzt, so wie im Strafrecht? Und was bedeutet eine «hohe Gefahr für Leib und Leben Dritter» konkret?
Auch für Strafrechtler ist der neue Entscheid von Bedeutung. Die Voraussetzungen nach Artikel 65 Absatz 2 des Strafgesetzbuches, die für die nachträgliche Verwahrung von Verurteilten erfüllt sein müssen (Urteil des Bundesgerichts 6B_404/2011 vom 2. März 2012 Erwägung 2.), verlangt das Bundesgericht in seinem neuesten Entscheid für die FFE gerade nicht.
Die II. zivilrechtliche Abteilung hat bei ihrer Praxisänderung ein Bundesgerichtsurteil der strafrechtlichen Kammer vom 12. Mai 2009 (6B_786/2008, Erwägung 2.2) nicht diskutiert: Dort weisen die Strafrechtler explizit darauf hin, dass es das Parlament bei der Beratung der Vorlage ausdrücklich abgelehnt habe, allein wegen Selbst- oder Drittgefährdung eine FFE anzuordnen. Grundvoraussetzung sei daher immer, dass der Betroffene krankheits- oder suchtbedingt ausserstande ist, für sich zu sorgen, und ihm mit einer milderen Massnahme nicht zu helfen ist oder eine solche seinem sozialen Umfeld nicht zugemutet werden kann. Das Institut sei deshalb von vornherein nicht geeignet, die Bevölkerung vor gefährlichen Geisteskranken zu schützen. Das sei vom Gesetzgeber auch nicht bezweckt worden.
Die FFE wurde also mit dem jüngsten Entscheid des Bundesgerichts zweckentfremdet. Bereits die Vorinstanz, das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, hat in seinem Urteil vom 6. August 2012 zu diesem Fall erkannt, dass die FFE eigentlich eine zivilgesetzliche Massnahme zum Schutz des Betroffenen sei. Es schuf daher eine neue FFE, die in Kombination mit Artikel 19 Absatz 3 des Jugendstrafgesetzes (JStG) durch die Vollzugsbehörde beantragt wird. Während die normale FFE ihre gesetzliche Grundlage alleine im Zivilrecht in Artikel 397a ZGB habe und eine persönliche Fürsorgebedürftigkeit voraussetze, könne die FFE in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 3 JStG bei jedem Schwächezustand angeordnet werden, wenn nur die Gefährdung Dritter als so hoch erscheine, dass man es nicht verantworten könne, jemanden in Freiheit zu lassen. Das Bundesgericht hat sich zu diesem Konstrukt jedoch nicht geäussert, sondern im Ergebnis eine polizeilich motivierte Fürsorgerische Freiheitsentziehung angeordnet.
Der Entscheid ist nicht nur hinsichtlich der Bejahung der Fürsorgebedürftigkeit bemerkenswert, sondern auch deshalb, weil es das Bundesgericht zulässt, dass eine FFE in einer Strafanstalt statt in einer Anstalt vollzogen wird, sogar in deren Sicherheitstrakt und für einige Monate ohne vollständiges Therapieangebot. Die Anstalt ist also nicht nur wegen der Nähe zum Strafvollzug, sondern auch in fürsorgerischer Hinsicht nicht geeignet.
Ist es zudem verhältnismässig, den Mann länger als vier Jahre im Freiheitsentzug zu lassen und damit die Strafdauer faktisch zu verlängern? Für das Bundesgericht war entscheidend, dass ein Behandlungserfolg durch den behandelnden Arzt nicht von vornherein ausgeschlossen worden war. Unter Hinweis auf vergleichbare Fälle meinte er, die Behandlung könne fünf bis zehn Jahre, eventuell zwölf Jahre betragen. Das Bundesgericht schloss daraus, dass sich nichts Konkretes über die Dauer der Behandlung aussagen lasse und die FFE verhältnismässig sei. Es hat also an die Verhältnismässigkeit zumindest bei drohenden schweren Taten gegen Leib und Leben sehr geringe Anforderungen gestellt. Unklarheiten über den Behandlungsverlauf gehen zulasten des Betroffenen; es scheint der Grundsatz «in dubio pro securitate» zu gelten.
Man kann sich fragen, ob der Mann nun doppelt bestraft wird: Er verbüsste die vom Jugendrichter festgelegte Höchststrafe von vier Jahren und unterzog sich den angeordneten Therapien. Dennoch wurde er nach Vollendung des 22. Altersjahrs nicht entlassen, sondern via FFE im Sicherheitstrakt eines Gefängnisses ohne genügende Behandlung weggeschlossen. Das kommt einer stationären Massnahme für Erwachsene nach Artikel 59 des Strafgesetzbuches oder gar einer strafrechtlichen Verwahrung gleich.
Das Bundesgericht hat in seinem Urteil eine Verletzung des Doppelbestrafungsverbots verneint, da von einer Strafe im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) keine Rede sein könne. Der Freiheitsentzug sei ja nicht aus Gründen der Bestrafung, sondern zwecks Gewährung der nötigen Fürsorge (Behandlung der Geisteskrankheit) erfolgt. Diese Begründung zeigt das Dilemma auf, das entsteht, wenn die Fürsorgebedürftigkeit zur Hauptsache mit Drittschutzanliegen begründet wird. Der Freiheitsentzug ist dann nicht primär fürsorgerisch begründet, wie es beispielsweise bei einem suizidalen Geisteskranken der Fall ist, sondern polizeilich. Er verfolgt so einen klassischen Strafzweck und ist deshalb auch als Strafe anzusehen. Das Bundesgericht hätte das Doppelbestrafungsverbot also näher prüfen müssen.