Der EGMR hat am 2. Februar 2016 entschieden, dass Teilzeiterwerbstätige mit Familie in der Schweiz bei den IV-Renten benachteiligt werden (Verfahren Nr. 7186/09). Dieses Urteil wurde am 4. Juli 2016 endgültig, als die Grosse Kammer des Gerichtshofs eine Neubeurteilung ablehnte (plädoyer 5/16). Der Revisionsentscheid 9F_8/2016 des Bundesgerichts erging am 20. Dezember 2016.
Der EGMR stellte eine Verletzung von Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Die vom Gerichtshof zugesprochene Genugtuung und Parteientschädigung gleichen die Folgen der Konventionsverletzung nicht aus, weil der erlittene Rentenverlust als konkrete nachteilige Auswirkung bestehen bleibt, solange der Invaliditätsgrad der Beschwerdeführerin nach der gemischten Methode der Invaliditätsbemessung ermittelt wird. Das Bundesgericht analysiert die Begründung im Strassburger Entscheid und kommt zum Schluss, dass in diesem konkreten Fall die Aufhebung der Invalidenrente EMRK-widrig war. Es bestätigt daher den unveränderten Rentenanspruch der Beschwerdeführerin auch nach der Geburt ihrer Zwillinge.
Nur nach einer Geburt fällt die gemische Methode weg
Das Bundesgericht sieht eine Konventionsverletzung im sogenannten Statuswechsel, sofern die Geburt von Kindern und die damit (hypothetisch) verbundene Reduktion des Arbeitspensums die einzige Grundlage für die Änderung der lnvaliditätsbemessung war, welche zur revisionsweisen Aufhebung der Invalidenrente führte (Anwendbarkeit der gemischten Methode statt des Einkommensvergleichs). In Fällen ausserhalb dieser Konstellation dürfe die gemischte Methode der Invaliditätsbemessung hingegen weiterhin angewendet werden. Statt einer grundrechtsverträglichen Lösung für die Invaliditätsbemessung bei Teilzeitarbeit schafft das Bundesgericht damit neue Probleme in Bezug auf den Grundsatz der Rechtsgleichheit.
Gemischte Methode für alle Teilzeitler ungerecht
Was soll etwa mit Versicherten geschehen, deren Rente nach der Geburt eines Kindes nur reduziert und nicht aufgehoben wurde? Das Bundesgericht geht damit gar weiter als die Übergangsregelung des Bundesamts für Sozialversicherungen (IV-Rundschreiben Nr. 355). Es will offenbar selbst Versicherte vom Verbot einer Rentenrevision ausnehmen, die schon vor der Familiengründung invalid wurden. Die blosse zeitliche Reihenfolge der Ereignisse dürfte kaum einen sachlichen und vernünftigen Grund für eine rechtliche Unterscheidung darstellen.
Das Bundesgericht scheint zu verkennen, dass der EGMR nicht die Rentenrevision infolge eines Statuswechsels nach der Familiengründung, sondern die gemischte Methode der Invaliditätsbemessung als solche für diskriminierend hält. Es ist zwar richtig, dass der EGMR der Schweiz nicht vorschreiben kann, wie sie Invalidität definiert. Eine Konventionsverletzung konnte denn auch nur darin erblickt werden, dass die gemischte Methode in den meisten Fällen Frauen nach einer Geburt trifft (98 Prozent). Ungerecht ist die gemischte Methode aber für alle Teilzeitarbeitenden, weil sie den Teilzeitfaktor doppelt berücksichtigt und deshalb zu tieferen Invaliditätsgraden führt.
Gesetz lässt andere Methoden zu
Diese Methode hat das Bundesgericht entwickelt und aller Kritik seitens der Lehre und einiger kantonalen Gerichte zum Trotz beibehalten. Anpassen will es sie aber nach dem Verdikt aus Strassburg nicht. Die geltende Rechtslage lasse dafür keinen Spielraum. Artikel 28a Absatz 3 IVG schreibt indes nicht vor, auf welchen Berechnungsgrundlagen die gemischte Methode basiert.
Deshalb will nun der Bundesrat auf Verordnungsstufe ein neues Berechnungsmodell einführen, das der Bedeutung der Teilerwerbstätigkeit und dem Ziel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Rechnung trägt. Bis es so weit ist, soll es nach Ansicht von Bundesgericht und Verwaltung verschiedene gemischte Methoden geben – je nachdem, ob, ab welchem Zeitpunkt und aus welchem Grund ein Teilzeitpensum gewählt wird. Dies dürfte dem Willen des Gesetzgebers kaum entsprechen. Laut Artikel 28a Absatz 3 IVG gibt es für Versicherte, die zum Teil erwerbstätig und daneben im – zum Beispiel häuslichen – Aufgabenbereich tätig sind, nur eine Methode der Invaliditätsbemessung.
Steuerzahler müssen für IV-Rentner aufkommen
In den letzten Jahren strich die Invalidenversicherung viele Renten. Eine Untersuchung in den Kantonen Aargau und Zürich zeigt, dass fast alle von der IV Ausgemusterten beim Sozialamt landen.
Der Bundesrat verlangte 2010 von der Invalidenversicherung (IV), 12 500 Vollrenten abzubauen oder 17 500 Rentner in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Vor allem bei Bezügern, die an organisch nicht nachweisbaren Schmerzen und psychischen Krankheiten litten, sollten die Renten gesenkt oder gestrichen werden.
Der «Erfolg» des Spardiktats: Die Zahl der IV-Renten sank zwischen 2010 und 2015 von 197 000 auf 177 500. Knapp 20 000 IV-Rentner verloren in diesen sechs Jahren ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage. Denn nur 160 Rentenbezüger fanden neue Jobs.
Jetzt zeigt eine Untersuchung erstmals, was mit ausgemusterten psychisch kranken IV-Bezügern passiert. Die selbständige Psychiaterin Doris Brühlmeier aus Schlieren ZH wertete Daten von 402 IV-Antragstellern und ehemaligen Bezügern aus. Die Daten stammen aus zehn Psychiatriepraxen in den Kantonen Aargau und Zürich. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, aber aussagekräftig:
93 Prozent der Patienten, deren IV-Rente aufgehoben wurde, sind heute vom Sozialamt abhängig (siehe Grafik im PDF). Bei Patienten, deren Antrag auf eine IV-Rente abgelehnt wurde, sind es 60 Prozent. Nur 5 Prozent der früheren Rentner oder erfolglosen Antragsteller sind heute erwerbstätig.
Nach der Erfahrung der Psychiaterin sind Negativbescheide aufgrund ärztlicher Gutachten in der Regel ungerechtfertigt: «Die Patienten sind psychisch krank, bekommen aber aufgrund des Sparzwangs keine IV-Rente.»
Die Patienten verlieren nicht nur die Rente der IV, sondern auch den Anspruch auf eine Invalidenrente der Pensionskasse (PK) und auf Ergänzungsleistungen (EL). Nicht einmal Pro Infirmis darf ihnen helfen, da die Stiftung nur für IV-Rentner zuständig ist. Es bleibt nur der Gang zum Sozialamt. Fazit: Die IV spart Geld, die Kosten muss der Steuerzahler übernehmen.
Viele der Kranken entwickeln aufgrund des negativen IV-Bescheids noch mehr psychische Probleme. Fazit der Ärztin: «Eine IV-Rente hingegen erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Erwerbstätigkeit.» Laut ihrer Erhebung gehen 36 Prozent der Voll- und 48 Prozent der Teilrentner einer Teilzeitarbeit nach.
Laut Brühlmeier gibt die IV jedes Jahr rund 80 Millionen Franken für neue Gutachten aus, obwohl pro Patient bereits bis zu 35 Arztberichte vorliegen. Mit dem gesparten Geld liessen sich pro Jahr 4500 IV-Renten finanzieren.