Ende des letzten Jahres protestierten Studenten an verschiedenen europäischen Universitäten. In der Schweiz besetzten sie Hörsäle in Basel, Bern und Zürich. Sie wandten sich «gegen die Ökonomisierung in der Bildung und die Ergebnisse von Bologna» (Zürich) oder «für die Abschaffung der Präsenzkontrollen und Module» (Basel). Wer den Aktionen weitgehend fernblieb, waren die Jus-Studierenden. Vielmehr liessen sie sich auf der Gegenseite verlauten: Der Fachverein Jus Zürich forderte die Kollegen auf, den besetzten Hörsaal zu räumen, «da die Besetzung den ordentlichen Studienbetrieb sehr stark stört und von einer überwiegenden Anzahl der Studierenden unserer Fakultät abgelehnt wird». Auch Dimitrij Euler, Student im fünften Semester an der Universität Basel und aktiv in der Fachgruppe Jus, meint: «Die Besetzungen waren kontraproduktiv. Die Aktivisten sind an der Juristischen Fakultät sehr negativ aufgefallen, weil sie für Vorlesungen dringend benötigte Räumlichkeiten für sich beanspruchten.»
Harsche Kritik aus der Zürcher Rechtsfakultät
Die Einführung des Bologna-Systems wurde 1999 mit der Bologna-Deklaration von 29 europäischen Ländern beschlossen, darunter auch die Schweiz. Ziel ist, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum aufzubauen.
Kernpunkte der Reform sind das zweistufige Studiensystem mit Bachelor und Master und die Einführung eines Leistungspunktesystems (siehe Kasten), das Transparenz und Vergleichbarkeit der Abschlüsse ermöglichen soll. Das Bologna-System läuft aber noch längst nicht zufriedenstellend.
- Die Jus-Studierenden in Zürich zeigten sich den Protesten gegenüber zwar reserviert. Trotzdem wird auch aus ihren Reihen Kritik laut. Christian Hagen, ehemaliger Präsident des Fachvereins Jus der Uni Zürich und Student im zehnten Semester, betont, dass Arbeitsaufwand und Prüfungsbelastung erheblich seien: «Neu werden die Prüfungen sofort nach Semesterende durchgeführt. Früher folgten sie zirka zwei Wochen später. Das führt dazu, dass viele Studenten ab Mitte Semester an den Vorlesungen fehlen, um lernen zu können.»
Zürich evaluiert denn auch den Bachelor-Lehrgang. Aber: «Mit Resultaten kann nicht vor April gerechnet werden», so Urs Leemann, Leiter Lehre und Organisation der rechtswissenschaftlichen Fakultät.
Alecs Recher, der aktuell mit seinem Master-Studium begonnen hat, ist überzeugt, dass sich in Zürich noch Etliches ändern muss. So die zweimalige Prüfungswiederholung im Bachelor-Studium, die zu einer enormen Verzögerung und Verlängerung des Studiums führt. Sowohl Bern, Basel als auch Luzern sehen nur eine Wiederholung vor. «Die vielen Prüfungen führen dazu, dass nur mehr das Kurzzeitgedächtnis gefüttert wird», so Recher weiter. Auch strebt er nicht unbedingt eine Assistenz neben der Dissertation an, da viel zu viel Zeit auf Prüfungskorrekturen verwendet werden muss – auf Kosten der Forschungsarbeit.
Gedächtnisfütterung statt Grundlagenstudium
Dieses Problem kennt auch Markus Müller, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern: «Ich kann natürlich auf verschiedene Arten nachprüfen, aber die Belastung mit Prüfungskorrekturen ist schon enorm hoch», sagt er und kritisiert weiter: «Das Bologna-System ist stark auf den Abschluss fokussiert. Die Verschulung wird grösser. Und das ganzheitliche Denken wird immer mehr vernachlässigt.» Auch Daniel Thürer, Professor für Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und vergleichendes Verfassungsrecht an der Universität Zürich, fragt sich, ob Studierende noch Zeit finden, ein Buch, ein Urteil oder Fachzeitschriften zu lesen.
- In Bernscheinen die Studierenden zufriedener zu sein als in Zürich. Dazu Simon Wandfluh, Student im neunten Semester und aktiv in der Fachschaft Jus: «Wir haben nur wenige Probleme beim Studium. Wir können sogar noch als Werkstudenten tätig sein, da in Bern keine Anwesenheitskontrollen durchgeführt werden.»
Aber auch da ist noch nicht alles gelöst: So hat in Bern ein Student mit einem Bachelor-Abschluss zwingend weder Erbrecht noch Schuldbetreibungs- und Konkursrecht kennengelernt. Sabine Müller, Vorsteherin des Dekanats, sagt: «Da staunen etliche gestandene Juristen, wenn sie das hören. Allerdings soll der Bachelor nur die absoluten Basisgrundlagen liefern, während im Masterstudium die Studierenden die Fächer individuell zusammenstellen können.»
- Für Basel sieht es Jus-Student Dimitrij Euler optimistisch: «Das Bachelor- und das Master-Studium sind noch nicht optimal umgesetzt, aber daran wird bereits seit Reformbeginn gearbeitet.» Peter Jung, Dekan der juristischen Fakultät in Basel, denkt, «dass zum Beispiel die Mobilität im Bachelor-Studium mit der Verschulung sogar eher abgenommen hat». Er sieht aber im Moment keinen Änderungsbedarf.
- In Luzern fanden überhaupt keine Proteste statt. Dies verwundert die Dekanin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Regina Aebi-Müller, überhaupt nicht, denn: «Wir suchen immer wieder das direkte Gespräch mit den Studierenden.» Auch in Luzern gebe es viele Prüfungen, aber «Bologna schreibt nicht vor, wie viele Prüfungen abgehalten werden müssen», so Aebi-Müller weiter.
Vernetztes Denkenfördern
Luzern versucht, mit einer fünfstündigen Verbundprüfung das vernetzte Denken und den Blick fürs Ganze zu fördern. Die Studenten müssen einen Fall lösen, bei dem es sowohl um öffentliches als auch um Privat- und Strafrecht geht.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Unterschiede in der Schweiz noch enorm sind. Vom gemeinsamen europäischen Hochschulraum ist vorläufig kaum mehr zu erkennen als die Grundrisse. Und dass es wenigstens ein eidgenössisches Kämmerchen gebe, davon wagen die fleissigen Schweizer Studierenden und ihre Dozenten höchstens zu träumen.
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Kreditpunkte bestimmen das Studium
Die Studienleistungen werden an allen Universitäten nach dem European Credit Transfer System (ECTS) bemessen. Die einzelnen Lehrveranstaltungen erhalten dabei Kreditpunkte (KP, ECTS oder Credits).
1 KP entspricht in der Regel einem studentischen Arbeitsaufwand von 25 bis 30 Arbeitsstunden pro Semester. So geben 2 Semesterwochenstunden (SWS) 3 Kreditpunkte. Dies ist die Regel. Ausnahmen sind möglich. In Zürich ergeben zum Beispiel Übungen im Strafrecht mit zwei Wochenstunden nur zwei Punkte. Im Master-Studium gibt es drei Punkte für eine Wochenstunde.
Vollzeitstudierende sollen laut der Zürcher Studienordnung pro Semester 30 Kreditpunkte erreichen. Das bedeutet, dass ein Student 900 Arbeitsstunden pro Semester oder 1800 pro Jahr hat. Daneben noch zu arbeiten, ist an Universitäten mit Anwesenheitskontrollen kaum mehr möglich.