Das Obergericht des Kantons Schaffhausen stellt im Geschäftsbericht über das vergangene Jahr Ungewöhnliches fest: «Aufgrund der bisherigen Erfahrungen hatten neue Prozessgesetze jeweils eine Zunahme der Verfahren um rund zehn Prozent zur Folge.» Diesmal sei aber nach der Einführung der neuen eidgenössischen Zivilprozessordnung (ZPO) im Gegenteil eine Tendenz zur Abnahme der Fälle festzustellen.
Bereits im Gesetzgebungsverfahren zur ZPO hatten einige Parlamentarier befürchtet, dass die Fallzahlen zurückgehen werden, weil eine Kostenvorschusspflicht prozesshemmend wirkt. So sagte zum Beispiel SP-Nationalrat Urs Hofmann aus dem Kanton Aargau, ein Rechtsanwalt und Notar, in der Sommersession 2007: «Das Kostenrisiko in zivilprozessualen Auseinandersetzungen ist für viele in unserem Land eines der zentralen Hemmnisse, das sie daran hindert, ihr Recht, das sie haben, auch effektiv durchzusetzen.»
«Abschreckung der Kläger bewusst angestrebt»
Für die Kläger belastend ist nicht nur die neue Pflicht zur Leistung von Vorschüssen. Sie müssen zudem neu die Verfahrenskosten selbst dann bezahlen, wenn sie im Prozess obsiegen. Die der Gegenpartei auferlegten Gerichtskosten können sie dann bei der Gegenpartei einzutreiben versuchen - wobei sie im Betreibungsverfahren weitere Vorschüsse zahlen müssen.
Seit Anfang 2011 ist die neue ZPO in Kraft, und die befürchtete Tendenz zeichnet sich in den Statistiken einiger Kantone bereits ab: Im Kanton Zürich beispielsweise ist laut Rechenschaftsbericht des Obergerichtes die Zahl der Zivilprozesse in erster Instanz (Kollegialgerichte) im Jahre 2011 im Vergleich zum Vorjahr um 18,5 Prozent gesunken. Die Gesamtbelastung an den Einzelgerichten im ordentlichen Verfahren ist mit 28,4 Prozent noch deutlicher zurückgegangen. Und am Arbeitsgericht Zürich gehen nur noch ein Viertel der Fälle ein. Der Rechenschaftsbericht stellt fest: «In Zivilsachen wirkt die allgemeine Möglichkeit der Kautionierung im Berichtsjahr prozesshemmend.»
Der grüne Zürcher Nationalrat Daniel Vischer, Rechtsanwalt und Mitglied der Kommission für Rechtsfragen, ist über diese Entwicklung nicht erstaunt: Im Gesetzgebungsprozess zur ZPO sei die Abschreckung der Kläger bewusst angestrebt worden. Er hat bei den parlamentarischen Beratungen dagegen gekämpft, unter anderem mit einem Minderheitsantrag der Rechtskommission - ohne Erfolg. Vischer: «Prozessieren können heute im Grunde nur noch Reiche und Arme, denen die unentgeltliche Prozessführung gewährt wird, weil sie auf dem Existenzminimum leben.»
Die Anzahl der Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege nimmt denn auch zu. Das geht etwa aus dem St. Galler Amtsbericht der kantonalen Gerichte für 2011 hervor: in Zivilverfahren auf der Ebene der Kreisgerichte und des Kantonsgerichts im letzten Jahr um etwas mehr als zehn Prozent. Vischer ist der Ansicht, der kostenlose Zugang zu den Gerichten würde sehr restriktiv gewährt. Durch diese zurückhaltende Praxis und durch die neue Kostenvorschusspflicht könnten Einzelpersonen und KMU durchaus von einer Klageerhebung abgehalten werden. Die Zahlungsfähigkeit der beklagten Partei sei zur Voraussetzung für die Durchführung eines Prozesses geworden.
Mehr Aufwand für Gerichte wegen Vorschuss
Der obligatorische Kostenvorschuss nach Einreichung einer Klage hat noch einen weiteren Nachteil: Er zieht Mehraufwand für die Gerichte nach sich. «Die Kautionierung verlängert die Verfahrensdauer», steht in den einleitenden Bemerkungen des Zürcher Rechenschaftsberichts. Es könne allgemein festgestellt werden, «dass mit der neuen ZPO im Vergleich zum Vorjahr mehr prozessleitende Entscheide zu fällen waren», was entsprechenden Aufwand verursacht habe.
Mehr Aufwand haben nach Einführung der neuen ZPO auch die Friedensrichter bei jenen Fällen, die in ihrer - betragsmässig nun höheren - Entscheidkompetenz liegen. Im Kanton Zürich wurden 2011 dreimal so viele Fälle behandelt (617 Verfahren im Vorjahr, neu 1919). «Mehr schlichten statt richten» war erklärte Absicht im Gesetzgebungsprozess. Friedensrichter könnten eine grosse Zahl von Konflikten erfolgreich lösen und seien damit für die Gerichte ein wertvoller Filter, betonte Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf 2008 in der Nationalratsdebatte. Tatsächlich wird die Erledigungsquote der Friedensrichter im ersten Jahr nach neuer ZPO im Bericht zur Gerichtstätigkeit einiger Kantone ausdrücklich gelobt - so etwa im Kanton Schaffhausen: «Die Friedensrichterämter entlasteten die nachfolgende Justiz erheblich durch Einigungen, unbenutzt gebliebene Klagebewilligungen, angenommene Urteilsvorschläge oder Entscheide.»
Vermehrter Druck zum Vergleich
Auch im Kanton Bern wird im Geschäftsbericht 2011 der Gerichtsbehörden zur - neuerdings professionellen - Schlichtungsbehörde vermerkt, dass die überwiegende Mehrheit der Verfahren bereits im Schlichtungsstadium hätten rechtskräftig erledigt werden können, was sich erfreulich auf die Geschäftszahlen der Ziviljustiz ausgewirkt habe.
Nationalrat Vischer hat gestützt auf seine Praxiserfahrung als Rechtsanwalt eine Erklärung dafür, weshalb es bereits im Vermittlungsverfahren mehr Vergleiche gäbe. «Die Friedensrichter machen vermehrt Druck, eine Verfahrenserledigung durch Vergleich zu erreichen.»