Die Europäische Union erlebte vor kurzem eine ihrer schwersten Krisen der vergangenen Jahre. Die Regierungen Polens und Ungarns legten Veto gegen das EU-Budget und gegen den Corona-Wiederaufbaufonds ein. Der Streit konnte erst nach wochenlanger hektischer Diplomatie beigelegt werden. Seitdem bleibt ein mehr als schlechter Nachgeschmack: Ein Politiker wie der ungarische Premier Viktor Orbán hat es geschafft, die Union als Ganzes und in ihrer Konstruktion in Frage zu stellen, sie vorzuführen und zeitweise lahmzulegen.
Grund des Vetostreits war ein Dokument mit dem bürokratischen Namen: «Allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union». Es ist der Name jener Verordnung, die in der Öffentlichkeit als «Rechtsstaatsmechanismus» bekannt ist.
Nominell soll der Mechanismus ein Instrument für die Europäische Union sein, Mitgliedsstaaten zu sanktionieren, wenn sie mit ihrer Politik und Gesetzgebung von den Grundwerten der Union und von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit abweichen. Über derartige Sanktionsmöglichkeiten wird in der EU seit langem zäh und erbittert gerungen. Der Rechtsstaatsmechanismus sollte diesen Debatten eigentlich ein Ende setzen.
Doch dann kam es zum Vetostreit. Am Ende stand im Dezember 2020 ein Kompromiss: Der Rechtsstaatsmechanismus wurde zwar verabschiedet. Aber auf Antrag einzelner Mitgliedsstaaten muss der Europäische Gerichtshof (EuGH) prüfen, ob er rechtmässig ist. Polen und Ungarn stellen einen solchen Antrag aller Voraussicht nach demnächst. Bis zu einem Urteil wird der Mechanismus nicht angewendet.
Kann der Mechanismus wirklich verhindern, dass ein EU-Mitgliedsland von rechtsstaatlichen Prinzipien abweicht? Und kann er damit die Grundwerte der Union insgesamt schützen?
Mechanismus mit mehreren Hürden ausgebremst
Ursprünglich hatte das EU-Parlament einen vergleichsweise breit gefassten Rechtsstaatsmechanismus vorgesehen, mit dem beispielsweise auch Verletzungen der Pressefreiheit oder von Minderheitenrechten hätten sanktioniert werden können. Im Juli 2020 schlossen Parlament, Kommission und Mitgliedsstaaten jedoch einen Kompromiss: Der Mechanismus wurde auf Rechtsstaatsverstösse eingegrenzt, die einen Missbrauch von EU-Fördermitteln enthalten oder mit sich bringen. Durch diesen Kompromiss, darin sind sich die meisten Experten einig, wurde die Verordnung von einem Rechtsstaats- praktisch zu einem Antikorruptionsmechanismus abgewertet. «Das ist leider die Realität», sagt der prominente ungarische Verfassungsrechtler Gábor Halmai, der am European University Institute in Florenz lehrt, im Gespräch mit plädoyer. «Daran, dass die EU im Fall Ungarns seit zehn und im Fall Polens seit fünf Jahren unfähig ist, schwere Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze zu sanktionieren, ändert sich auch mit dem neuen Mechanismus nichts.»
Das bestätigt Márta Pardavi, Juristin und Ko-Vorsitzende des ungarischen Helsinki-Komitees, eine der wichtigsten ungarischen Bürgerrechtsorganisationen: «Das EU-Parlament hat sich sehr lange und ausdauernd dafür eingesetzt, dass es ein guter Mechanismus wird. Aber nun ist er eingeschränkt, es geht mehr um Antikorruptionsangelegenheiten und nicht um ganz breite Rechtsstaatsfragen.»
Die Beschränkung des Rechtsstaatsmechanismus auf Fälle, in denen das EU-Budget betroffen ist, ist die wichtigste, aber nicht die einzige Hürde, die in die Kompromissvariante eingebaut wurde. Ursprünglich war vorgesehen, dass von der EU-Kommission vorgeschlagene Sanktionen gegen Mitgliedsländer nur mit einer qualifizierten Mehrheit des Europäischen Rates, dem Gremium der EU-Staats- und -Regierungschefs, verhindert werden können. Nun ist es umgekehrt: Der Rat muss den vorgeschlagenen Massnahmen mit qualifizierter Mehrheit zustimmen – dies bedeutet in der Regel 15 der 27 EU-Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung. Das ist ein beträchtliches Hindernis.
Hinzu kommt die Erklärung der EU-Staats- und -Regierungschefs, die vorsieht, den Rechtsstaatsmechanismus erst anzuwenden, wenn der EuGH ihn geprüft hat. Hat die Erklärung Bestand, könnte sich die Anwendung bis 2022 verzögern. Allerdings betrachtet das EU-Parlament diese Erklärung als rechtlich nicht bindend. Es ist der Meinung, dass der Mechanismus ab dem 1. Januar 2021 angewandt werden muss. Recht vage äusserte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie sagt, der Mechanismus werde ab Januar 2021 angewandt, lässt aber Details offen.
Andererseits hat das EU-Parlament gegen den Willen des Europäischen Rates und der Kommission erreicht, dass eine allgemeine Gefährdung der Unabhängkeit der Justiz einen Grund darstellen kann, ein Sanktionsverfahren einzuleiten. Laut der Vizepräsidentin des EU-Parlamentes Katarina Barley ist der Mechanismus dadurch dann eben doch nicht ganz eng begrenzt auf Anti-Korruptionsfragen.
Das Initiativrecht für Sanktionsverfahren liegt gemäss dem Mechanismus bei der EU-Kommission. Deshalb wird in der Praxis viel vom politischen Willen der Kommission abhängen. In der gegenwärtigen Kommission gibt es mehrere Mitglieder, die entschiedene Verfechter einer konsequenten Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit sind, etwa die Kommissarin für Werte und Transparenz Vera Jourová oder der Kommissar für Justiz und Rechtsstaatlichkeit Didier Reynders. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen agiert jedoch in Rechtsstaatlichkeitsfragen eher zögerlich.
Fördermittel-Kürzungen, die nicht wehtun
«Ich bin mir nicht sicher, ob die Kommission Rechtsstaatsverfahren anstossen wird», sagt Barley. Sie übt deutliche Kritik am bisherigen Vorgehen der EU-Kommission. «Bisher war die Kommission eher zurückhaltend gegenüber Polen und Ungarn. Der Beschluss des Europäischen Rats, den Mechanismus erst einmal überprüfen zu lassen, wozu die Kommission ja ihre Einwilligung gegeben hat, deutet nicht darauf hin, dass der Mechanismus vonseiten der Kommission schnell eingesetzt wird.»
Insgesamt sind dem Rechtsstaatsmechanismus die meisten Zähne gezogen worden. Dass er so Rechtsstaatlichkeit in der EU und ihre Grundwerte verteidigen kann, ist unwahrscheinlich. Da Sanktionen nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit verhängt werden müssen, ist auch fraglich, ob Fördermittel in ausreichend grosser Höhe entzogen werden können, um ein System wie das von Viktor Orbán wirklich zu treffen.
Der Verfassungsrechtler Gábor Halmai bewertet besonders die Rolle der deutschen Ratspräsidentschaft negativ. Einige EU-Staaten, etwa die Niederlande, hätten sich konsequent für einen starken Rechtsstaatsmechanismus eingesetzt – die deutsche Ratspräsidentschaft habe ihn eher abschwächen wollen. Man hätte Möglichkeiten gehabt, den Mechanismus zu verabschieden, ohne ihn mit dem EU-Haushalt und dem Corona-Fonds zu verknüpfen. «Aber das wollte die deutsche Ratspräsidentschaft nicht.»
Die grössten Verlierer sind laut Gábor Halmai jene, die gehofft hatten, man könne den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat in Polen und Ungarn mit Hilfe der EU rückgängig machen. Sie müssten nun einsehen, dass sie nicht auf Brüssels Hilfe zählen könnten.